Die Schauspielerin, Regisseurin und Produzentin Sheri Hagen engagiert sich für mehr Vielfalt in der deutschen Filmbranche. Was sich vor und hinter der Kamera ändern muss.
Sheri Hagen wurde 1968 in Lagos (Nigeria) geboren und ist in Hamburg aufgewachsen. Als Schauspielerin ist sie im Kino und im Fernsehen zu sehen, etwa in „Das Leben der Anderen“, „Baal“ oder im „Tatort“. 2015 gründete sie ihre Produktionsfirma „Equality Film“. Nach „Auf den zweiten Blick und Fenster Blau“ arbeitet Hagen im Moment an ihrem dritten Spielfilm „Billie“.
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Frau Hagen, die Studie „Vielfalt im Film“ hat in diesem Jahr gezeigt, dass Diskriminierung ein großes Problem in der deutschen Filmbranche ist. Dies geht aus einer Onlineumfrage hervor, an der von Juli bis Oktober 2020 über 6.000 Filmschaffende aus 440 Berufen teilnahmen. Warum haben Sie bei der Initiativgruppe mitgemacht, die den Fragebogen inhaltlich gestaltet hat?
Ich wollte wissen, wie divers wir tatsächlich vor und hinter der Kamera sind. Ob mein Empfinden der Monotonie trügt, oder endlich Zahlen belegen, dass unsere Film- und Fernsehlandschaft mit Ausschlüssen arbeitet.
Gab es bei den Ergebnissen etwas, was Sie überrascht hat?
Die Tatsache, dass 81 Prozent der Frauen mehrfach sexuelle Belästigungen im Arbeitskontext erleben, und dass mehr als 70 Prozent der Menschen mit einem Migrationshintergrund sich klischeehaft dargestellt sehen. Das bestätigt, dass unsere Inhalte nur für ein bestimmtes Publikum erzählt werden.
Hat sich seit der Veröffentlichung der Studie etwas verändert?
Sie sorgt in Verbänden und Filminstitutionen für Diskurse, nur fehlt nach wie vor der Mut, große Schritte zu gehen und Vielfalt im Film tatsächlich umzusetzen. Eine Dekonstruktion der Filmförderinstitute ist von Nöten. Produktionen müssen finanziell so gestärkt werden, dass barrierefreie Zugänge möglich sind. Film muss als Bildungsgut gesehen werden, um Diskriminierung abzubauen, er muss Vorbilder für jede*n bieten und Menschen in ihrer Verschiedenheit zeigen.
Welche Rolle spielt denn das Thema Diversität bei der Filmförderung bisher?
Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob Deutschland tatsächlich mehr Diversität will. Die Inhalte ändern sich kaum, auch sehe ich wenige diverse Teams. Ich sehe zum Beispiel kaum dunkelhäutige Menschen in Schlüsselpositionen, oder Menschen mit einer Behinderung. Solange sich hinter der Kamera und in den Inhalten nichts ändert, bleibt Vielfalt im Film eine Utopie.
Schaffte es vom deutschen Film und Fernsehen bis nach Hollywood: der Schauspieler Murali Perumal spielte 2014 in „Big Game – die Jagd beginnt“.
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2020 hat die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein eine Diversity-Checklist eingeführt. Ihr Filmprojekt „Billie“ wurde danach mit 25.000 Euro gefördert. Wie waren Ihre Erfahrungen mit der Checklist?
Ich bin sehr froh, dass es dieses nützliche Tool zur Selbstüberprüfung gibt. Die Checklist hat Debatten ausgelöst und Räume geöffnet; neue Geschichtenerzähler*innen bekommen seitdem eine Chance. Schade ist nur, dass nicht viele Förderinstitutionen gefolgt sind. Viele sprechen von mehr Diversität und halten dabei an alten Strukturen fest. Eine Checklist für Kreative ist auch nicht ausreichend, wir brauchen ähnliches für die Entscheider*innen der Sender.
Kritiker*innen der Checklist sagen, sie würde die Kunstfreiheit einschränken.
Das höre ich immer wieder. Nur was ist mit Kunstfreiheit gemeint? Steht die vermeintliche Kunstfreiheit nicht für ein Festhalten an alten Machtstrukturen? Das muss ich die ganze Zeit ertragen. Systemkonforme Geschichten, die mit der Realität nicht übereinstimmen. Die Diversity-Checklist ist ein Versuch, der Neues wagt. Diversität bedeutet mehr Möglichkeiten zu erzählen, mehr Vielschichtigkeit in Geschichten, aber auch die Realität in den Teams hinter der Kamera widerzuspiegeln – eine gleichberechtigte Teilhabe für alle.
Welche Bedeutung sollte Diversität im Film haben?
Eigentlich keine. Es sollte so sein, dass wir selbstverständlich alle gesehen und gehört werden. Unsere Gesellschaft ist vielschichtig und divers, unsere Realität ist vielschichtig und divers, warum nicht auch selbstverständlich im Film und Fernsehen und in den Teams? Ich habe mich als Kind nie im deutschen Film und Fernsehen gesehen, auch meine Kinder sehen sich nicht. Ich hoffe, meine Enkel*innen werden sich selbstverständlich sehen dürfen, ohne ausgestellt zu werden, einfach menschlich, ohne Herkunftsmarkierung.
Setzt sich schon lange für mehr Diversität in der Filmbranche ein: die Schauspielerin Maria Furtwängler 2017 bei einem Interview über Geschlechterdarstellung in Film und Fernsehen.
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Auch die UFA will Diversität besser abbilden. Es gab die Initiative #actout, bei einem NDR-Tatort wurde mit einem „Inclusion Rider“ gearbeitet. Welche dieser Ansätze halten Sie für sinnvoll?
Ich halte alle für richtig und unumgänglich. Die Schieflage ist einfach zu groß und so ist jede Initiative, jede Bewusstmachung, dass die Medienmacher*innen eine gesellschaftliche Verantwortung tragen, wichtig.
Welche Forderungen haben Sie für die Zukunft der deutschen Filmbranche?
Ich fordere eine 50:50 Quote auf intersektionaler Basis. Die Adaptation der britischen BFI-Diversity-Standards, Mindfulness- und Intimacy-Trainer am Set und in Produktionen sowie barrierefreie Filme.
Die Regisseurin Sarah Blaßkiewitz sagt in Bezug auf Alltagsrassismus, dass betroffene Menschen auf Probleme hinweisen, aber keine Lösungen bieten können. Wie sehen Sie das?
Ähnlich. Die Organisationen, die die verschiedenen nicht-privilegierten Menschen vertreten, bieten bereits Lösungen oder Maßnahmen an. Sie werden aber nicht angenommen, auch nicht von der Politik. Zu oft bleiben rassistische Attacken ohne Folgen. Dabei haben wir alle eine gesellschaftliche Verantwortung, insbesondere die Entscheider*innen, nicht nur die Kreativen. Wir sind alle Vorbilder!
Bekannt wurde sie über den Musiksender VIVA, heute ist sie ein vielgesehenes Gesicht in TV-Krimiserien und im Kino, unter anderem in der Ost-Berlin-Komödie „Sonnenallee“: die Schauspielerin Minh-Khai Phan-Thi.
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September 2021