Zentrales Thema des Dokumentarfilms „O Processo“ (The Trial), der auf der Berlinale im Panorama Weltpremiere hatte, ist das politische Theater des brasilianischen Senats während des Amtsenthebungsverfahrens der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff. Der Film erreichte bei der Wahl des Panorama-Publikumpreises in der Kategorie Dokumentarfilm den dritten Platz.
Der Film der Regisseurin Maria Augusta Ramos, die bereits bei einer Trilogie über das Justizsystem in Brasilien Regie führte, blickt hinter die Kulissen eines Spiels, das dabei ist, die Demokratie in Brasilien ernsthaft zu gefährden. Die intensive und dichte Dokumentation zeigt eine andere Sichtweise als die der großen Medien in Brasilien und wurde in Berlin mit Standing Ovations gefeiert. Im Interview spricht Maria Augusta Ramos über den Film und über Brasilien.Wie haben Sie die Protagonisten ausgewählt, die Sie im Film begleiten? Auf der einen Seite ist da der Anwalt José Eduardo Cardozo und die Senatoren Gleisi Hoffman und Lindbergh Farias; auf der anderen Seite, die Anwältin Janaína Paschoal, der Senator Cássio Cunha Lima und der Abgeordnete Eduardo Cunha.
Ich arbeite in meinen Filmen nicht mit Interviews oder Kommentaren. Daher ist die Auswahl der Protagonisten so wichtig, denn durch sie begleitet der Zuschauer das Amtsenthebungsverfahren. Da sich der Film auf das juristisch-politische Verfahren konzentriert, das nach der Abstimmung in der Abgeordnetenkammer im Senat stattfand, – daher ist die Kammer der Prolog des Films – war es naheliegend, dass ich mich für den Verteidiger der Präsidentin, die Anklage und die Senatoren, die sie entweder verteidigten oder Argumente für ihre Amtsenthebung präsentierten, entschieden habe. Der zweite Grund war, dass mir die Verteidiger, das heißt José Eduardo Cardozo und seine Assistenten, sowie die Senatoren der Arbeiterpartei (PT) und der anderen Parteien, die während des Verfahrens an ihrer Verteidigung mitwirkten, Zugang gewährten.
Sie haben die drei Vertreter der Verteidigung aus nächster Nähe begleitet, während Sitzungen hinter verschlossenen Türen und in privaten Momenten. Die Verfechter der Amtsenthebung hingegen wurden ausschließlich bei öffentlichen Gelegenheiten beobachtet. Haben Sie sich bewusst dafür entschieden?
Einerseits ja, andererseits nein. Tatsächlich war es so, dass ich an sie nicht herankam. Wenn ich Zugang zu den strategischen Sitzungen der Politiker und Senatoren gehabt hätte, die die Amtsenthebung befürworteten, hätte ich natürlich dort gefilmt und eine entsprechende Parallele gezogen. Aber dazu kam es nicht. Wir reden immer darüber, dass wir die richtige Balance finden wollen, aber während des gesamten Verfahrens verbreiteten die Medien ausschließlich die Argumente für die Amtsenthebung. Ich denke, dieser Film versucht, endlich das größtmögliche Gleichgewicht herzustellen, in dem er auch andere Argumente und andere Sichtweisen zulässt. Ich halte es auch für wichtig, deutlich zu machen, dass ein Dokumentarfilm meine subjektive Sichtweise abbildet. Es handelt sich um das Produkt filmischer Erfahrungen, die ich als Regisseurin während des gesamten Verfahrens gemacht habe. Ich beabsichtige mit dieser Arbeit nicht, die Realität zu erklären, denn dazu ist diese viel zu komplex, sondern Bestandteile zu zeigen, die es uns erlauben, diese Komplexität, das Geschehene sowie die unterschiedlichen Sichtweisen besser zu verstehen und zu reflektieren. Wenn ich also sage, dass ich sie auch gefilmt hätte, wenn sie mich gelassen hätten, dann, weil ich denke, dass das Teil dieser Reflexion gewesen wäre. Das heißt absolut nicht, dass der Film dadurch unparteiisch geworden wäre.
The Trial von Maria Augusta Ramos | © nofoco film Beobachtung spielt in ihren Filmen eine große Rolle. Wie ist Ihre erzählerische Vorgehensweise?
Ich habe noch nie einen Dokumentarfilm mit Interviews gemacht. Spielfilme haben mich sehr stark beeinflusst und tun dies noch heute. Das heißt aber nicht, dass ich gern einen Spielfilm machen würde, ich interessiere mich leidenschaftlich für die Wirklichkeit. Sie und reale Personen inspirieren mich. Ich habe mich für den Dokumentarfilm entschieden, weil dieser perfekt zu meinen Interessen passt. Ich interessiere mich dafür, wie Menschen im Gespräch und durch Gesten miteinander, der Familie, der Kultur und der Gesellschaft interagieren. Und für die Möglichkeit, durch diese Interaktion über die Wirklichkeit, die wir erleben, und die Gesellschaft nachzudenken.
Wenn ich jemanden einlade, bei einem Film mitzuwirken, muss ein gegenseitiges Vertrauen bestehen, denn aufgrund der formalen Aspekte des Films (sorgfältige Kamera- und Tonarbeit) entsteht eine Annäherung. In bestimmten Momenten werden die Filme sehr intim, ohne sensationslüstern zu sein. Die formalen Aspekte führen gleichzeitig zu Distanz und Annäherung. Bei distanzierter Betrachtung schlüpfen Sie in die Rolle des Beobachters und werden eingeladen, die Wirklichkeit, an die Sie gewöhnt sind, zu hinterfragen. Im Film O Processo wird eine solche Distanz erzeugt, damit wir diese festgefahrene Situation, die Brasilien derzeit erlebt, überdenken und sie überwinden können. Brasilien ist eine gespaltene Gesellschaft, in der sich Pro und Contra gegenüberstehen wie zwei rivalisierende Fußballvereine, und die es nicht schafft, voranzukommen. Als Gesellschaft sind wir gelähmt, wir sind nicht imstande, auf das, was geschieht, zu reagieren. Und die aktuellen Geschehnisse in Brasilien sind sehr ernst und dramatisch.
Wie gestaltete sich der Produktionsprozess des Films?
In der Regel haben wir nur mit einer Kamera gefilmt, was ich vor allem bei Sitzungen bevorzuge, und in geschlossenen Räumen. Ich mag es nicht, den Protagonisten zu nahe zu kommen, das setzt sie nur unter Druck. Es ist wichtig, Distanz zu wahren. Das Drehbuch richtete sich nach dem Ablauf der Ereignisse. Ich habe alles so gefilmt, wie es passierte. Daher, und da wir das Geschehen auch nicht voraussehen konnten, entstand umfangreiches Filmmaterial, mehr als 450 Stunden. Nach Sichtung des Materials entschieden wir uns für eine Struktur, die den Senat in den Mittelpunkt stellt. Diese Struktur stand nicht von Anfang an fest, da wir zu Beginn nicht wussten, ob das Verfahren in der Abgeordnetenkammer stattfinden würde. Beim Schnitt entschieden wir uns zum Großteil für die Ausschusssitzungen und das juristisch-politische Verfahren. Während des Films war die Frage der Inserts von großer Bedeutung, denn im Laufe des Verfahrens ist viel passiert. Die Geschichte ist nicht einfach zu erzählen. Es gibt etliche Beteiligte, viele neue Fakten. Es war wichtig, dass wir die Ereignisse chronologisch wiedergeben und jede Phase des Verfahrens berücksichtigen. Dabei geht es nicht nur um bestmögliche Information, sondern darum, während des Films Gelegenheit zum Durchatmen zu geben, denn die Szenen sind sehr dicht, alles ist sehr intensiv. Daher haben Karen Akerman, die für den Schnitt verantwortlich war, und ich uns für diese Form entschieden.
Was war Ihnen bei der endgültigen Ausgestaltung des Films besonders wichtig?
Mein größtes Anliegen war es, den Argumenten gegen das Amtsenthebungsverfahren, die in den Medien praktisch nicht auftauchten, eine Stimme zu geben. Da die Anklage aufgrund von Verzerrungen außerordentlich schwer zu verstehen war, ging es zunächst darum, die vorgebrachten Argumente zu dekonstruieren. Das heißt, wir haben uns diese Anklage und ihre Argumente für eine Amtsenthebung genau angesehen, um den Gegenargumenten, die die Argumentation der Rechten in Frage stellten, eine Stimme zu geben. Das ist für Laien nicht einfach, aber wir haben uns beim Schnitt des Films sehr intensiv damit beschäftigt, die Verordnungen, die „Haushaltstricksereien“ (die so genannten „Pedaladas“) und das gesamte politische Umfeld sowie die politischen und wirtschaftlichen Interessen und die Beteiligung von Eduardo Cunha am gesamten Verfahren näher zu beleuchten.
Welche Rolle erhoffen Sie sich für den Film in Brasilien und im Ausland?
Ich hoffe, dass der Film in Brasilien gesehen wird, sowohl von denen, die gegen, als auch von denen, die für die Amtsenthebung waren, damit die Leute über diesen historischen, grundlegenden Moment nachdenken, der in Brasilien aktuell dramatische Folgen hat. Und ich hoffe auch, dass wir diese Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft überwinden können und wirklich freie Wahlen mit allen Kandidaten einschließlich Luiz Inácio Lula da Silva haben, und dass wir zur einer Demokratie zurückkehren, die man wirklich als solche bezeichnen kann, anstatt wie aktuell in Brasilien in einem Ausnahmezustand zu leben.
Maria Augusta Ramos, geb. 1964 in Brasilia. Nach ihrem Studium an der Nederlandse Filmacademie in Amsterdam wurden ihre Filme auf internationalen Festivals gezeigt und mehrfach ausgezeichnet. Filmografie (Auswahl): 2004 Justiça (Justice); 2007 Juízo (Behave); 2013 Morro dos pazeres (Hill of Pleasures); 2015 Seca (Drought); Futuro Junho (Future June); 2018 O Processo (The Trial). Letzteres wurde auf der Berlinale im Panorama uraufgeführt.