Der brasilianische Filmemacher und Anthropologe Luiz Bolognesi kommt mit „A última floresta“ (The last forest) auf die Berlinale zurück. Der Dokumentarfilm, der aus einer Zusammenarbeit mit Davi Kopenawa entwickelt wurde, erzählt von einem isolierten Yanomami-Dorf mitten im Amazonasgebiet.
Herr Bolognesi, wie kam es zu dem Projekt „A última floresta“?Die Idee entstand 2018 bei den Dreharbeiten zu Ex-Pajé. In der Gemeinschaft dort wird der Pajé von der Evangelikalen Kirche vernichtet, wie es häufig in indigenen Gemeinschaften überall in Brasilien geschieht. Ich hatte das Gefühl, einen Film machen zu müssen, der das Gegenteil zeigt. Also eine indigene Gruppe dokumentieren, deren Schamane im vollen Besitz seiner politischen, religiös-mythologischen und wissenschaftlichen Macht ist. Damals las ich gerade A queda do céu (Dt. etwa: Der Sturz des Himmels, im französischen Original La chute du ciel), das Meisterwerk von Davi Kopenawa. Ich überlegte mir, diesen Film mit ihm zu machen, denn er hält die Kraft der Schamanen lebendig und lebt die Traditionen noch sehr intensiv. Ich stellte ihm das Projekt vor, und da er ja sein Buch mit dem französischen Anthropologen Bruce Albert geschrieben hatte, lud ich ihn dazu ein, mit mir das Drehbuch zu schreiben und in der Geschichte nicht nur eine Figur zu sein.
Wie lief die Arbeit an dem Drehbuch ab?
Das war sehr bereichernd und intensiv, denn sie haben, wie auch der Film zeigt, eine andere Art zu denken, eine andere Sicht auf die Existenz. Davi sagte mir ins Gesicht, dass er einen Film machen wollte, der die Schönheit und die Kraft seines Volkes zeigt, und dass ihm Ex-Pajé nicht gefallen habe, weil der Pajé darin schwach dargestellt werde. Er wollte den Widerstand zeigen und damit über die Probleme reden. Also, keinen Film über Opfer. Und er findet, dass wir bedauernswert sind; krank sei unsere alles zerstörende Zivilisation. Es war die ganze Zeit über ein sehr intensiver Austausch. Gleichzeitig gab es auch Spannungspunkte. Für die Yanomami gibt es ganz klar keinen Unterschied zwischen der wirklichen Welt tagsüber und der Welt der Träume nachts. Was in einem Traum geschieht, ist für sie Tatsache. Mir wurde klar, dass wir einen Film machen mussten, in dem die Welt der Träume dasselbe Gewicht haben würde wie die reale Welt. Also vereinbarten wir, gemeinsam einen Traum zu schaffen, ausgehend vom Traum der Yanomami.
The Last Forest, Brasilien, 2021. Regie: Luiz Bolognesi. Berlinale Panorama. | © Pedro J. Márquez Wie war die Arbeit mit den Indigenen als Schauspieler*innen?
Mit Ausnahme von Davi hatten die Leute noch nie einen Spielfilm gesehen. Stellen Sie sich vor wie heikel, wie subtil das ist und welches Potenzial darin steckt. Ich musste ihnen erklären, was Inszenieren bedeutet und sagen, dass wir die Geschichte, die einmal geschehen war, nacherzählen würden, indem wir sie nacherlebten. Sie haben das dermaßen angenommen und sind so gute Schauspieler, dass niemand sagen kann, was ich dokumentarisch gefilmt habe und was inszeniert ist. Sie lebten das mit einer unglaublichen Wahrhaftigkeit und Intensität.
Mit etwas so abstrakten wie Zukunft umzugehen, ergibt für sie keinen Sinn. Diese Offenheit führt dazu, dass sie einen viel niedrigeren Stresslevel haben. Wir wenden viel Energie dafür auf, die Zeit, die wir vor uns haben, zu organisieren. Das stresst uns sehr. Da sie nicht versuchen, das Unkontrollierbare, also die Zukunft, zu kontrollieren, sind sie aber vollkommen in dem, was sie tun. Sie werden nicht abgelenkt von der irrigen Vorstellung, Kommendes zu kontrollieren. So sind sie in der Lage, einer fliegenden Biene zu folgen, um herauszufinden, wo der Bienenstock mit dem Honig ist. Das ist die Konzentration auf die Gegenwart, die der Film haben möchte. Sie werden zu äußerst fokussierten Schauspielern, die jede Szene intensiv leben.
Die Kamera in „A última floresta“ geht sehr sorgsam mit Licht um. Könnten Sie uns etwas darüber sagen?
Das war eine konzeptuelle Entscheidung, aber zu dem Ergebnis konnte ich nur gelangen, weil Pedro Márquez, mein Partner der Kameraregie, ein gutes Gehör für die Geschichte hat. Wir waren von der Realität der Yanomami verzückt: eine Frau, die einen Korb flicht, ein badendes Kind, ein Jäger in Aktion, jemand, der einen Rucksack aus Palmblättern macht – das alles hat so viel Poesie. Wir konnten nicht stumpf diese ganze Erzählung entpoetisieren. Das bereitete uns einige Schwierigkeiten.
Manchmal gab es ein Monopol von Grün, was ermüdend war. In anderen Momenten machte das Gegenlicht alles sehr hart. Wir entschlossen uns, nur mit natürlichem Licht zu arbeiten, auch in den Szenen bei Nacht. Allenfalls Spiegel setzten wir ein. Als wir die Probeaufnahmen sahen, fiel Pedro auf, dass wir zwar ein Übermaß an Grün hatten, aber einen Trumpf, nämlich den bronzenen Teint. Diese rötliche Farbe, fast rostfarben, ergab einen sehr schönen Kontrast zu dem Wald. Also suchten wir nach einem Licht, das dieses bräunliche Rot hervorheben würde. Wir versuchten, die Aufnahmen auf ihre Hautfarbe abzustimmen, auf das Beige der Palmblätter ihrer Körbe, die Buntheit der Hängematten. Immer bedacht darauf, es nicht zu übertreiben. Wir suchten eine Bildgestaltung, in der sich die poiesis des Wesens der Yanomami wiederfindet.
Gibt es eine Art Dringlichkeit, indigene Traditionen festzuhalten. Gibt es einen einstürzenden Himmel?
Es ist dringend und dringend notwendig. Ich will nicht apokalyptisch sein, aber unsere Welt geht zu Ende. Der Himmel stürzt ein. Airton Krenak und Davi Kopenawa warnen davor schon die ganze Zeit. Davi sagte schon lange vor der Pandemie, dass „Omama das Erz tief in der Erde vergraben hat. Der Mensch soll die Finger davon lassen. Er darf den Fluss nicht mit Quecksilber aufwühlen, um Gold rauszuholen, er soll kein Erdgas, kein Erdöl herausholen. Wenn die Weißen weiterhin Erz aus der Erde holen, werden sie den Qualm der Krankheit wecken. Und dieser Krankheitsqualm wird sich über die Erde verbreiten“. Ein Jahr nach den Dreharbeiten fing die Pandemie an, die davon kommt, dass der Wald vom Menschen aufgewühlt wird.
Die eingeborenen Völker Amerikas sind diejenigen, die den Begriff Nachhaltigkeit wirklich verstehen. Sie halten sich am Leben mit einem Reichtum an Kohlenhydraten, einem Überfluss an Proteinen und Wasserressourcen, einer semantisch-philosophischen und einer metaphysischen Fülle. Ihre Welt funktioniert organisch, und die Biome sind gut behütet. Sie zu filmen, sie singen zu hören, die Vorträge der eingeborenen amerikanischen Völker zu hören, von der indigenen Wissenschaft zu lernen, all das tut dringend Not.
März 2021