Von einem Krieg in den nächsten  Auf der Suche nach Heimat: Kabul, Kyjiw, Berlin

Auf der Suche nach Heimat: Kabul, Kyjiw, Berlin Illustration: © Tetiana Kostyk

Ende 2021 lebten in der Ukraine 2.391 offiziell registrierte Geflüchtete und Personen mit subsidiärem Schutz sowie etwa 2.700 Asylbewerber*innen. Es handelt sich um Menschen aus 60 Ländern. Nach dem Beginn der russischen Invasion flohen viele von ihnen auf der Suche nach Sicherheit und Hilfe aus dem Land.

Ich kenne eine Frau, die aus dem Irak nach Syrien und von dort in die Ukraine geflohen ist. Nach dem 24. Februar war sie erneut gezwungen, zu fliehen. Dies ist der dritte Krieg in ihrem Leben.“

„Es gibt keine Statistiken darüber, wie viele dieser Menschen die Ukraine verlassen haben“, sagt Svitlana Butenko, Projektmanagerin für Rechtshilfe für Geflüchtete und Staatenlose bei der gemeinnützigen Organisation Right to Protection. „Deshalb führt unsere Organisation zusammen mit HIAS (Hebrew Immigrant Aid Society) eine Studie über die Risiken für Asylbewerber und nicht-ukrainische Geflüchtete durch, die aus der Ukraine in die Europäische Union fliehen.“ Die Ergebnisse werden zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht, so Butenko.

„Wir sprachen mit Menschen, die in der Ukraine den Status als Geflüchtete erhalten haben, mit Asylbewerbern und Personen, die ergänzenden Schutz benötigen. Wir haben 468 Personen befragt. Davon gingen 300 nach Europa. Der Rest blieb in der Ukraine. Die meisten von ihnen zogen nach Schweden, Deutschland, in die Niederlande und nach Belgien. Die meisten von ihnen erhielten dort, genau wie die Ukrainer, vorübergehenden Schutz. Einige sind jedoch noch immer ohne Dokumente. Jede Geschichte dieser Menschen ist schmerzhaft. Sie beginnen ihr Leben noch einmal von vorne. Ich kenne eine Frau, die aus dem Irak nach Syrien und von dort in die Ukraine geflohen ist. Nach dem 24. Februar war sie erneut gezwungen, zu fliehen. Dies ist der dritte Krieg in ihrem Leben. Es ist schrecklich, aber auch inspirierend. Die Menschen geben nicht auf, sie kämpfen weiter für ihr Leben, für ihr Recht auf ein Leben in Würde und Sicherheit“, berichtet Svitlana Butenko.

Svitlana Butenko, Leiterin des Projekts für Rechtshilfe für Geflüchtete und Staatenlose der gemeinnützigen Stiftung Right to Protection. Svitlana Butenko, Leiterin des Projekts für Rechtshilfe für Geflüchtete und Staatenlose der gemeinnützigen Stiftung Right to Protection. | Foto: © privat

Auf der Flucht vor den Taliban

Zu denjenigen, die mittlerweile in Deutschland leben, gehört auch die Familie von Javid. Er stammt aus Afghanistan, aus der Provinz Kandahar. Dort arbeitete er als Übersetzer für das kanadische Militär. Nachdem die radikal-islamischen Taliban im Sommer 2021 die Macht im Lande übernommen hatten, löste das bei den meisten Afghan*innen Panik aus, da sie Massaker seitens der Kämpfer befürchteten. Die Islamisten kündigten die Einführung der Scharia an. Es war verboten, fernzusehen, Computer zu benutzen, westliche Musik zu hören, und Frauen durften ohne Burka und ohne Begleitung eines Mannes weder arbeiten, noch studieren oder gar das Haus verlassen.

Die Afghan*innen begannen massenhaft aus dem Land zu fliehen. Sie stürmten den Flughafen von Kabul und versuchten, an Bord der startenden Flugzeuge zu gelangen. Viele kletterten in den Fahrwerksraum oder banden sich mit Seilen an den Streben oder sogar den Tragflächen fest. Infolgedessen stürzten die Menschen entweder beim Start ab oder starben in der Luft aufgrund von Sauerstoffmangel und niedrigen Temperaturen in großer Höhe. Javid entschied sich ebenfalls, nach der Machtübernahme der Taliban zu fliehen, weil er wusste, dass die neuen Machthaber seine berufliche Vergangenheit nicht ignorieren würden.

„Drei Tage lang schlief ich mit meinen kleinen Kindern und meiner Frau in der Nähe des Flughafens in der Hoffnung, hinein zu gelangen", sagt Javid, „Ohne Erfolg. Am 27. August 2021 kontaktierte einer meiner kanadischen Freunde, ein Journalist, das ukrainische Militär, um uns zu evakuieren. Die Ukrainer stimmten zu. Ich habe es bis zum letzten Moment nicht geglaubt. Wir fuhren mit dem Auto zum Flughafen. Sie sagten mir, ich solle ein Foto des Nummernschilds schicken. 15 Minuten später sah ich Spezialeinheiten aus dem Flughafen kommen. Es war wie in einem Film. Tausende von Menschen sahen uns an: Wer ist diese Familie, für die sie sich trotz aller Risiken einsetzen? Keiner der Amerikaner hätte das gewagt. Ich hatte bereits von dem Konflikt zwischen der Ukraine und Russland gehört. Aber ich wusste nicht, dass die Ukraine eine so starke Armee hat, die Missionen durchführen kann, die niemand auf der Welt durchführen kann.“

Auf der Flucht vor den Russen

Am 28. August 2021 kam die Familie in Kyjiw an. Laut Javid habe man ihnen versprochen, sie in wenigen Tagen nach Kanada zu bringen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Sechs Monate lang lebten Javid, seine schwangere Frau, vier Kinder, seine Mutter, sein Bruder und dessen Frau sowie deren kleiner Sohn in einem Hotel im Zentrum von Kyjiw. Bezahlt wurde das von dem kanadischen Unternehmen, für das er arbeitete. Freiwillige Helfer*innen brachten Lebensmittel, Kleidung und Medikamente. Die Familie passte sich allmählich an. Aber der neue Krieg hat erneut alles verändert.

Javids Familie verlässt Kyjiw. Javids Familie verlässt Kyjiw. | Foto: © privat „Am 24. Februar war meine Familie verängstigt. Ich hatte das Gefühl, dass wir direkt im Hotel sterben könnten. Wir wollten die Ukraine so schnell wie möglich verlassen, aber wir zögerten, weil wir nicht wussten, wie wir zur Grenze kommen sollten. Es gibt eine Sprachbarriere - niemand kann unsere persische Sprache, und wir sprechen kein Ukrainisch“, sagt Javid.

Die Leiterin der Menschenrechtsorganisation Gemeinsam mit dem Gesetz (Разом із законом) Viktoria Nesterenko half seiner Familie. „Ich hatte Angst um sie. Sie haben ein so schweres Schicksal. Sie sind aus Afghanistan in die Ukraine geflohen, und hier herrscht Krieg. Sirenen, Explosionen, Militär mit Waffen überall. Sie müssen wieder weglaufen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man das alles aushält“, sagt Viktoria, „Am 28. Februar habe ich Javids Familie geholfen, nach Deutschland zu fliehen. Wenn ich mich an diesen Morgen erinnere, kommt es mir vor, als sei alles nie geschehen. Das Hotel, in dem sie wohnten, befand sich im Zentrum von Kyjiw in der Khreshchatyk-Straße. Sie mussten zum Busbahnhof am Stadtrand in der Nähe der U-Bahn-Station Teremky. Von dort ging es mit dem Bus zur polnischen Grenze. Ich vereinbarte mit den Verantwortlichen der Territorialverteidigung, dass wir einen Kleinbus bekommen würden. Stattdessen kamen zwei Autos. Zwölf Personen mit riesigen Koffern passen da kaum hinein. Am Abend kamen wir in Lwiw an. Sie verbrachten die Nacht dort. Am 1. März schickte Javid morgens ein Foto, auf dem sie bereits in Polen waren. Von dort aus gelangten sie nach Berlin. Von dort schickte man sie wiederum nach Niedersachsen in das Dorf Betheln in der Nähe von Hildesheim. Die Familie wurde in einem Haus untergebracht, das der örtlichen Kirche gehörte.“
 

Wieder von Null an

Javids Familie hat wie viele andere Geflüchtete die Ukraine ohne die erforderlichen Dokumente verlassen. Sie blieben bei der Migrationsbehörde. Die Einrichtung war zu diesem Zeitpunkt geschlossen. In den ersten Tagen des Krieges wurde an der Grenze fast nicht kontrolliert. Die Grenzbeamt*innen ließen alle durch. Jetzt hat die Behörde ihre Arbeit wieder aufgenommen. Sie erklärten jedoch, dass Geflüchtete ihre Dokumente nur persönlich oder durch eine*n Bevollmächtigte*n abholen können.

Wir sind in der Ukraine nie mit Rassismus konfrontiert worden. Wir hatten eine glückliche und friedliche Umgebung.“

„Wenn Javid mir eine Vollmacht ausstellt, kann ich die Dokumente abholen und sie persönlich nach Deutschland bringen. Es gibt jedoch ein großes Problem: Die Afghan*innen können mir ohne ihre Pässe keine Vollmacht ausstellen. Es ist auch nicht klar, ob es legal ist, wenn ich sie über die Grenze transportiere“, sagt Victoria. Zusammen mit einem ukrainischen Anwalt versucht sie, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. In der Zwischenzeit haben Javid und seine Familie eine befristete Aufenthaltserlaubnis für drei Monate in Deutschland mit dem Recht auf Verlängerung. Sie beantragten den Geflüchtetenstatus. Javid sagt, dass er sich in dieser Situation im Vergleich zu den Ukrainer*innen wie ein Gefüchteter von niedrigerem Rang fühlt.

„Wir haben den Krieg in Afghanistan überlebt, und aus eigener Erfahrung wissen wir, dass der Krieg in der Ukraine nicht in zwei Wochen zu Ende sein wird. Ich war auf der Suche nach einem sicheren Zuhause. Mit dem Krieg verschwand diese Sicherheit. Während der ganzen Zeit, in der ich in der Ukraine gelebt habe, habe ich festgestellt, dass die Ukrainer*innen einerseits offene und aufrichtige Menschen sind. Auf der anderen Seite haben sie Probleme mit der Korruption. Wir haben keine Unterstützung vom Staat erhalten. Aber wir haben sie von normalen Menschen erhalten. Außerdem sind wir in der Ukraine nie mit Rassismus konfrontiert worden. Wir hatten eine glückliche und friedliche Umgebung“, so Javid.

Er betont, dass er sich ein Leben in der Ukraine aufbauen wollte. Es gab Jobangebote. Wäre der Krieg nicht gewesen, wäre er auf jeden Fall geblieben. Und finanziell sei es in der Ukraine einfacher: „Für 500 Dollar kann man seine Familie mit allem versorgen, was sie braucht.“
  Im Juni bekam Javids Familie Zuwachs. Tochter Haya kam zur Welt. Die älteren Kinder gehen zur Schule. „Wenn ich mich an meinen Weg aus Afghanistan, der Ukraine, die Flucht nach Deutschland erinnere, dann frage ich mich, wie wir das alles geschafft haben. Jetzt nehmen wir alle Antidepressiva. Wir haben keine Kraft für irgendetwas. Wir versuchen, uns anzupassen. Aber es ist nicht einfach. In Afghanistan gibt es zum Beispiel eine Tradition: Wenn man sich an einem neuen Ort niederlässt, lädt man seine neuen Nachbarn*innen zum Essen ein. Ich wollte meine deutschen Nachbar*innen einmal zu bewirten. Sie sagten, sie bräuchten nichts von uns. Trotz allem ist dies ein sicheres Land. Ich kann mir nicht vorstellen, woanders wieder ganz von vorne anzufangen. Wir haben schlicht keine Ressourcen mehr. Ich möchte nur, dass meine Kinder keine Explosionen und Sirenen hören, dass sie eine glückliche Kindheit haben und eine Chance für die Zukunft.“

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