Soziologische Essays  Tschechische blinde Flecken

Daniel Prokop Foto: © Lea Michalová

Die Analysen des Soziologen Daniel Prokop im Wahlstudio des öffentlich-rechtlichen tschechischen Fernsehens bewahrten Tereza Semotamová während der letzten Jahre vor mehreren Herzinfarkten. Umso größer waren ihre Erwartungen gegenüber Prokops neuem Sammelband Blinde Flecken (Slepé skvrny).

Der Band mit Essays von Daniel Prokop wird als „Grundausstattung zum Verständnis der tschechischen Gesellschaft, der Krise der Demokratie und der Funktionsweise der aktuellen Politik“ beworben. Positiv ist zweifellos, dass ein derartig wichtiges Buch, welches „blinde Flecken“ erfasst, großen Zuspruch bei der Leserschaft erhielt. Leider blieb eine größere öffentliche Debatte aber aus. Das kann damit zusammenhängen, dass es zum Jahreswechsel erschien und die damit verbundenen schüchternen PR-Maßnahmen vom Corona-Virus geschluckt wurden. Das ist nicht nur deswegen schade, weil über dieses Buch viel mehr gesprochen werden müsste, sondern weil man auch Edelsteine aus mehreren Perspektiven betrachten und kritisieren sollte. Nur so entwickelt sich der öffentliche Diskurs und mit ihm seine jeweiligen Akteure weiter.

Füchse und Igel

Das Buch erhielt ein paar Rezensionen, die aber leider eher informativen Charakter hatten – die eher beifälligen und erwartbaren Reaktionen der Brünner Kommentatoren Stanislav Biler und Michal Kašpárek nicht mitgerechnet. Aus den Reihen der Soziologen hätte es ein stärkeres Echo geben können, vor allem was das letzte Kapitel angeht, das sich mit den Umfragen vor der Wahl beschäftigt. Nicht eine von ihnen befasste sich mit der unzureichenden Gender-Analyse. Frauen sind offensichtlich nur einer von vielen problematischen „Flecken“, von Minderheiten, und Prokop widmet ihnen nur ein sehr dahingehudeltes Kapitel über Armut. Dabei könnte die Verbesserung der ungleichen Stellung von Frauen in der heutigen Gesellschafft einige der Probleme lösen, über die das Buch referiert.

Gemäß der Theorie des amerikanischen Psychologen Philip Tetlock, die in dem Buch vorgestellt wird, und laut der Experten in „Igel“ (konzentrieren sich auf eine Sache) und „Füchse“ (können von allem ein bisschen) kategorisiert werden, ist der Soziologe Daniel Prokop ohne Frage ein Fuchs. Seine Analysen im Wahlstudio des öffentlich-rechtlichen tschechischen Fernsehens bewahrten mich während der letzten Jahre vor mehreren Herzinfarkten. Umso größer waren meine Erwartungen in Bezug auf seinen neuen Sammelband Blinde Flecken. In einigen Argumentationen beweist Prokop eine gewisse „Igeligkeit“ und Daten erdrücken ihn eher, als dass sie ihn inspirieren. Den ersten drei Kapiteln, die der Armut, dem Schulwesen, Minderheiten und dem Radikalismus gewidmet sind, kommt das zugute. Sie sind ohne Zweifel ein meisterhaft kommentierter Daten-Cocktail, den jeder Staatsbediensteter, aber auch jeder aufgeklärte oder unaufgeklärte Bürger lesen sollte um zu wissen, „wie wir hier so leben“.

Daniel Prokop Daniel Prokop | Foto: © Lea Michalová

Die Ressourcen sind vorhanden, aber

Grundlegend ist auch das Unterkapitel „Die Ressourcen sind vorhanden“, das eine Aufzählung dessen ist, wohin das Geld aus dem Staatshaushalt eigentlich fließt und was daran anders sein könnte. Das ist eine traurige Lektüre. Man bekommt eine Vorstellung davon, wie anders unser Land aussehen könnte und um wieviel besser es die Opfer der „blinden Flecken“ hätten, wenn die Politiker die strittigen Posten des Staatshaushaltes genauer beleuchten und umverteilen würden. Die tschechischen Verhältnisse werden im Buch von Unterkapiteln unterbrochen, die Einblicke in die entsprechende Problematik in den USA bieten. Diese empfand ich persönlich eher als störend, weil sie in ein anderes Buch zu gehören scheinen. Möglicherweise hat der amerikanische Kontext Prokop aber geholfen, den tschechischen einzuordnen.

Prokops Hauptthese ist, dass das tschechische Schulwesen unterfinanziert ist, Diskriminierung und Segregation für den Staat dann unnötig teuer und ineffektiv sind, und dass die Besteuerung der Arbeit zu hoch ist. Am stärksten ist er aber, wenn er bestehende Narrative demontiert, die über Ungleichheiten bestehen, und von denen man sich nach einem Datenabgleich distanzieren kann. Das betrifft die Armut und die Art ihrer Analyse, den Zugang sozialschwacher Schichten zum Wohnungsmarkt, die Problematik der Versteuerung oder die Art und Weise, wie in unserem öffentlichen Diskurs Themen überhaupt angesprochen werden. Prokop führt diese Thesen und die Art und Weise, wie die jeweiligen Themen strukturiert und verzerrt werden, weiter aus: im Kapitel über Mythen und Metaphern und dem über das eigene Fachgebiet – über Umfragen und ihre (Un)fehlbarkeit.

Bei all dem lässt er selbst sich aber recht schnell hinunter ziehen in den Sumpf der konstruierten Meinungen. Zum Beispiel wenn er beginnt, Václav Klaus´ Meinung über Snowboards als „linksgerichtetes Verkehrsmittel“ und Gemüsesalat und Schnitzel als „linksgerichtete Anti-Mahlzeit“ anhand von Daten zu analysieren. Wasser mit Kohlensäure ist da „konservativ“ und Wasser ohne Kohlensäure eine „protzige modische Ausschweifung“. Hier hätte es vielleicht gereicht, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben statt eine regressive Daten-Analyse durchzuführen und sich auf dieses schmutzige Spiel mit Klaus einzulassen. Wasser ist einfach Wasser, oder? Oder richtet sich sogar das Wasser in seiner Selbstwahrnehmung nach der Meinung von Václav Klaus?

Linkssein ist eine Beleidigung

Überhaupt ist der Begriff „linksgerichtet“ sehr problematisch und Prokop verwendet ihn genauso inkorrekt wie die Mehrheit des tschechischen Medien-Mainstreams. Ein Beispiel von vielen: Wenn Prokop die These argumentieren aufstellt, dass der Mythos von der Bedeutungslosigkeit der Tschechen es uns nicht erlaubt etwas zu verändern, ganz im Sinne von „beschwer dich nicht ständig“, konstatiert er: „Und er wird auch von vielen übernommen, von denen man es nicht erwartet hätte. Einige linksgerichtete Intellektuelle argumentierten im Jahr 2013 vor der Präsidentenwahl zu Gunsten von Miloš Zeman, dass er im Gegensatz zu seinen Gegenkandidaten und Kritikern dem tschechischen Volk nicht die Illusion des Freikaufens aus der Bedeutungslosigkeit liefert.“

In einer Anmerkung verweist er dann auf den Artikel Podzámčí wählt den Punk aus dem Schloss des Philosophen Václav Bělohradský (erschienen in der Tageszeitung Právo 19.1.2013), für dessen Beschreibung ich hinsichtlich seiner argumentatorischen Unausgewogenheit nur schwer ein Adjektiv finden kann. Man kann Václav Bělohradský nämlich nicht als linksgerichteten Intellektuellen bezeichnen, denn er ist vor allem ein meinungsmachender „Auftrags-Fuchs“. Er unterstützte während seiner Karriere bereits Václav Havel, Václav Klaus, Miloš Zeman, Bohuslav Sobotka, und das immer im günstigsten Augenblick, wenn eben diese Akteure der tschechischen Politik gerade ihren Platz an der Sonne innehatten. Er kandidierte für die ČSSD und die Grünen als Senator. Im Jahr 2015 hielt er eine Rede auf dem Parteitag von Premier Andrej Babišs Bewegung ANO, wo er besonders darüber herumphilosophierte, dass die „Hegemonie der Korporationen“ das größte Problem sei. Zum Erscheinen des Oligarchen Babiš auf der politischen Bühne sagte Bělohradský übrigens, „er könnte die Gesellschaft zum Positiven verändern“.

Das, was Prokop kritisiert, tut er am Ende selbst – dabei geht es um das Verwenden von meinungsmachend gefärbten Ausdrücken oder das Vorhalten des sogenannten Spiegels. Abgesehen davon ist Prokop selbst Opfer des „Primings“. Was die Begrifflichkeiten angeht, so ist der öffentliche tschechische Diskurs überflutet mit expressiven Ausdrücken, die für Drama stehen: „Kulturkrieg“, „Migrationskrise, „Antiflüchtlingshaltung der Menschen“, „konservative Werte“ oder „liberal“. Jeder dieser Begriffe wurde für Clickbait-Schlagzeilen in Zeitungen und Zeitschriften missbraucht, bis er vollkommen sinnentleert war. „Kulturkriege“ werden nur von einer Handvoll (pseudo)intellektueller Eliten auf Twitter geführt und haben die Haltbarkeit eines Frühstücksbrötchens. Eine „Migrationskrise“ gab es in unserem Land nicht, weil nicht ein einziger Geflüchteter hereindurfte. (Prokop selbst argumentiert, dass die Anzahl der Menschen, die entschieden gegen die Aufnahme von Geflüchteten durch Tschechien sind, im Grunde nicht so groß sei, wie die Anzahl der Artikel suggeriert, die diese Problematik verhandeln.)

Ein Kapitel für sich der Konservatismus und die Werte, die dieser vertritt. Konservativ sind nämlich die Werte, die fast alle Parteien im Senat verkünden, nur dass sie am Ende nicht viel dafür tun. Über den Begriff „liberal“ und darüber, wie unterschiedlich er in den verschiedenen Ländern verwendet wird, könnte man sogar einen ganzen Aufsatz schreiben. Dabei fuchtelt Prokop selbst mit diesen strittigen Ausdrücken herum und schafft es nicht, den durch sie abgesteckten vereinfachten Diskurs zu verlassen – und das noch nicht mal in dem Kapitel, das eben diesem Phänomen gewidmet ist.

Ein neurotischer Vogel Strauß mit dem Kopf im Sand

Direkt schockiert war ich von Prokops Relativierungen, zum Beispiel durch die Verwendung des Wortes „vielleicht“ (im tschechischen Original „asi“). Auf dem Einband des Buches wird aus dem lobenden Vorwort des Medienanalytikers Josef Šlerka zitiert: „Blinde Flecken kann auch als praktische Anleitung für die Veränderungen dienen, die unsere Gesellschaft benötigt, um sich aus der derzeitigen neurotischen Lage zu befreien. Im Moment ähneln wir nämlich stark dem sagenumwobenen Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt und hofft, dass er für den Rest der Welt unsichtbar ist und in Ruhe abwarten kann, ohne unangenehme Fragen gestellt zu bekommen, bis DAS vorbei ist. Daniel Prokop versucht zusammen mit der Beschreibung jedes Problems auch mögliche Lösungswege zu skizzieren. Er versteckt sich nicht hinter der Rolle des Experten ohne Meinung, sondern zeigt im Gegenteil, wie ein öffentlicher Intellektueller aktiv sein kann.“

Beinahe jeder der zitierten Sätze ist dann das Thema eines Essays: Die Situation, in der wir uns befinden, ist neurotisch. Aha? Wann hat die Tschechische Republik in den letzten Jahren eigentlich keine Neurose erlebt? Sollte sie sich dann nicht endlich auf die Therapeuten-Couch legen und von ihrer Vergangenheit erzählen? Welches sind die unangenehmen Fragen? Die, die wir leben? Wird DAS endlich irgendwann vorbei sein? Oder ist DAS einfach nur die Demokratie und ihre pubertären Übel, die wir eben überwinden müssen? Ein Experte ohne Meinung ist bestimmt ein Problem, aber hinter wie vielen „Vielleichts“ und „Möglicherweises“ sich Prokop in seinem Buch versteckt, das erschien mir bedauernswert und vor allem unsensibel. Höchstwahrscheinlich ist das eher ein redaktionelles Problem. So bearbeitet Prokop aber Themen, die eher Kulturkrieg als wirkliche Lösung des Problems sind. Dort bleibt er selbst an der Leimrute des „tschechischen Export-Apokalyptismus“ kleben. Beim Zitieren von Alexander Vondras [Konservativer tschechischer Politiker und ehemaliger Minister, Anm.d.Red.] Äußerung über angeblich zu breite Fahrradspuren in Prag 7 und der Verwendung der Begriffe „Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ statt „Mutter“ und „Vater“ wegen homosexueller Eltern in Frankreich konstatiert er: „In seiner Kritik steckt vielleicht auch etwas Wahres.“

Im Kapitel, das sich mit Minderheiten und Radikalismus beschäftigt, analysiert Prokop die homosexuelle Ehe und die Adoption durch Homosexuelle. Zuerst äußert er etwas in dem Sinne, dass er dafür ist, am Ende des Unterkapitels führt er dann aber auf: „Ich persönlich bin dafür, dass die Adoption durch homosexuelle Paare möglich ist und vielleicht auch dafür, den Begriff der Ehe zu erweitern. Nicht aus einer verpflichtenden Weltanschauung heraus, sondern einfach weil ich dank der oben aufgeführten Argumente nichts habe, was ich gegen die Verbesserung der Lebensqualität von Individuen in die zweite Waagschale werfen könnte.“ Waagschalen sind super, aber versuchen wir doch die jeweilige Problematik immer mit den Augen des Menschen zu sehen, der direkt betroffen ist. Wenn er nicht verrückt ist, benutzt er keine Waagschalen, er sieht sich als Objekt der Waagschalen eines anderen. Wir leben im 21. Jahrhundert, manche Kämpfe sind schon längst ausgefochten, und trotzdem haben sie bei uns noch nicht die Weihe durch das Gesetz erhalten. Von einem jungen Intellektuellen erwarte ich, dass er mir nicht erklärt, dass er „vielleicht“ für die homosexuelle Ehe ist, und dass Radwege „vielleicht“ nichts für Konservative sind.

Der Mut zu träumen

Falls Prokop daran glauben sollte, dass Menschen nicht nur Daten sind, dass das Problem von Minderheiten nicht nur ein Datenproblem ist, sondern eines der Menschenrechte und somit ein nichtwegzudiskutierendes, so versteckt er sich dennoch immer hinter den Daten. Ja, er ist eben ein Soziologe, könnte man da sagen. Aber in seinen Essays fehlte mir einfach der Glaube daran, dass eine andere Welt trotzdem möglich ist, obwohl man diese These nicht mit Daten belegen kann. „Die Realität ist am Ende den Träumen nie gut genug“, heißt es im letzten Absatz des Buches. Hm… Schade, weil nämlich viel von dem, was wir heute erleben, zum Beispiel, dass Frauen studieren und wählen können, oder ein Tschechien ohne Eisernen Vorhang, alles Träume waren, die zur Realität wurden.

„Es hat sich gezeigt, dass ich immer schneller schreibe, als wir die öffentliche Politik reformieren“, hat Daniel Prokop über sein Buch gesagt. Es bleibt nichts anderes als zu hoffen, dass wenigstens ein paar der „blinden Flecken“ in Zukunft verschwinden und wenigstens ein paar unserer Träume gut genug sein werden für die Realität.

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