Massendemonstration in Budapest  „Wir spielen doch nur!“

Demonstration auf dem Heldenplatz in Budapest am 16. Februar 2024
Demonstration auf dem Heldenplatz in Budapest am 16. Februar 2024 Foto: © Attila Horváth | EPER Rádió

Eine skandalöse Amnestie mobilisierte Zehntausende zu einer Demonstration in Budapest. Der Protest, der am Freitag, den 16. Februar auf dem Heldenplatz in der ungarischen Hauptstadt stattfand, war außergewöhnlich, weil er von Influencer*innen über soziale Netzwerke organisiert wurde.

Der Aufruf zu der Massendemonstration war eine Reaktion auf den Rücktritt von Präsidentin Katalin Novák. Sie hatte ihr Amt aufgegeben, nachdem bekannt geworden war, dass sie einen Mann begnadigt hatte, der für das Vertuschen der pädophilen Handlungen des Leiters eines Kinderheimes im Gefängnis saß. Auch die ehemalige Justizministerin Judit Varga, die den Beschluss der Präsidentin seinerzeit mitunterzeichnet hatte, trat zurück. Sie sollte die Fidesz-Spitzenkandidatin für die Europawahlen im Juni sein.

Die Menge, die sich hauptsächlich aus Schüler*innen und Student*innen zusammensetzte, wollte ihre Solidarität mit den Opfern der Pädophilie ausdrücken und auch die Notwendigkeit einer Reform der Gesellschaft oder der ungarischen politischen Kultur hervorheben. Unsere Kolleg*innen vom ungarischen EPER-Radio haben einige Teilnehmer*innen vor Ort gefragt, warum sie auf den Platz gekommen sind und in welchem Ungarn sie gerne leben würden.

„Uns gefällt, dass der Protest nicht von politischen Parteien, sondern von der Zivilgesellschaft organisiert wird. Außerdem hat es in Ungarn schon sehr lange keinen großen Protest mehr gegeben“, sagt eines der Mädchen. „Es ist schön, dass es keine Parteifahnen und keine Reden von Politikern gibt.“ Gerade das habe viele überzeugt, zu der Demonstration auf dem Heldenplatz zu kommen.
  Die jungen Demonstrant*innen nehmen die ungarische Gesellschaft als eher apathisch wahr – viele Menschen, so sagen sie, fordern zwar einen Regimewechsel, tun aber nichts dafür. „Was ich sehe, ist eine tiefe Apathie. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass die Leute nicht wissen, welche Partei sie eigentlich unterstützen sollen. Das heißt nicht, dass sie unpolitisch sind, sie mögen nur niemanden“, erklärt ein Student. „Ich glaube, die jungen Leute interessieren sich viel mehr für Politik, auch deshalb sind sie heute gekommen. Ich habe noch nie so viele junge Leute bei einer Demonstration gesehen“, fügt er hinzu.

War die Demonstration eine einmalige Angelegenheit? Das ist schwer zu sagen. „Ich kann mir vorstellen, dass eine Welle von Protesten folgen könnte. Aber ich bin mir nicht sicher, wie nachhaltig das wäre und ob Demonstrationen etwas in der politischen Landschaft verändern würden“, antwortet eine Demonstrantin. „Eine einzelne Schwalbe macht noch keinen Sommer und das sollte keine einmalige Sache bleiben“, ergänzt ihre Freundin. Aber auch sie ist sich nicht sicher, ob diese „einmalige Sache“ einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel auslösen kann.

Der ungarische Journalist Tamás Jamriskó sagt, es sei klar, dass neue Organisator*innen und neue Akteur*innen den politischen Raum betreten haben und ihn in Richtung eines gesünderen sozialen Aktivismus verändern. Die Frage sei, ob die ungarische Opposition in der Lage sein werde, dies zu nutzen und trotz der derzeit geringen politischen Unterstützung stärker zu werden.

Auf die Frage, in was für einem Land er gerne leben würde, antwortete einer der Befragten: „In einem Land, das nicht polarisiert ist, in dem sich die Linken und die Rechten nicht gegenseitig umbringen wollen. Schließlich haben auch Linke einige rechte Ansichten und umgekehrt. Auch stehen sich Liberale und Konservative nicht in absoluter Opposition gegenüber. Wir müssen lernen, die anderen zu verstehen und uns als Gesellschaft zu vereinen.“ Seine Freunde, die um ihn herumstehen, stimmen zu: „Wir wollen in einem geeinteren Land leben.“ Aber wollen sie nach der Schule in Ungarn bleiben? „Ich möchte nicht weggehen, das wollte ich nie, und wenn es jemals dazu kommen sollte, möchte ich nicht mit dem Gefühl gehen, ich hätte nicht genug getan“, sagt eine junge Mutter. Erst die Geburt ihrer Tochter, die sie in Ungarn großziehen möchte, hat ihr Engagement geweckt.

Die Budapester Demonstration lockte Zehntausende von Menschen auf die Straße, weil es um die Opfer sexueller Gewalt an Kindern ging. Während der Demonstration waren über Lautsprecher Zitate von Opfern zu hören: „Sag es nicht deiner Mutter, sonst kommst du in ein Heim, in dem dir noch Schlimmeres widerfährt“. Oder: „Wenn du dich nicht wehrst, ist es schneller vorbei. Es ist nur ein Spiel, entspann dich. Wir spielen doch nur.“ Kinder leiden unabhängig von der politischen Zugehörigkeit der Erwachsenen.

Jamriskó glaubt, dass der ungarischen Gesellschaft vor den Europawahlen im Sommer weitere turbulente Zeiten bevorstehen. Ob er wohl Recht hat, und ob die junge Generation schon reif dafür ist, ihre gegenwärtige Empörung zu bewahren?

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. Das Material haben unsere ungarischen Kolleg*innen von EPER Rádió zur Verfügung gestellt, die Bearbeitung erfolgte durch die Kolleg*innen der slowakischen Monatszeitschrift Kapitál, beide Teil des Medienkonsortiums von PERSPECTIVES. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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