Tschechien und der israelisch-palästinensische Konflikt  Der Schlüssel ist die richtige Wortwahl

Der Schlüssel ist die richtige Wortwahl - Tschechien und der israelisch-palästinensische Konflikt Foto: © Marina V. Šternová

Wenn es ein Thema gibt, das die gesellschaftliche Stimmung in der Tschechischen Republik anheizen oder Wahlen entscheiden kann, dann ist es der israelisch-palästinensische Konflikt. Und das, obwohl er sich auf einem anderen Kontinent abspielt, scheinbar weit weg von der europäischen Politik oder den Visegrad-Ländern.

Die Debatte über Israel und Palästina führt zu Spannungen in den europäischen Gesellschaften und schürt Rassismus und Hass, und das nicht nur in den sozialen Medien. Abgesehen von der Frage, warum es für die Europäer*innen wichtiger ist, sich in den Medien, politisch und sogar bei einem Bier gerade zum israelisch-palästinensischen Konflikt zu äußern, als zum Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan oder zur Krise in Syrien, können die Auswirkungen dieser Debatten auf unsere Gesellschaft nicht ignoriert werden.

Seit dem 7. Oktober, als palästinensische Terroristen der Hamas-Bewegung im Süden Israels ein Massaker an israelischen Einwohner*innen verübten und über hundert Menschen als Geiseln nahmen, sind der tschechischsprachige Teil des Internets und die tschechischen Medien durchdrungen von extremistischen Kommentaren, Desinformationen und Versuchen, die eine oder andere Seite zu entmenschlichen. Diese Spannungen eskalieren mit dem Vormarsch der israelischen Armee im Gazastreifen, bei dem bisher neben Hamas-Kämpfer*innen auch Tausende von palästinensischen Zivilist*innen, darunter Kinder, getötet wurden. Die Emotionen sind völlig berechtigt, denn es handelt sich um eine humanitäre Krise ohnegleichen, die nicht in das 21. Jahrhundert gehört. Gleichzeitig ist leider auch die Fähigkeit zum Dialog, zum aktiven Zuhören oder zum kritischen Denken verschwunden. Die tschechische Journalistin Hanka Trojánková beklagte sich kürzlich auf der Plattform X über die verquere Debatte, die entlang von Extremen geführt wird, die zu nichts führen. Und schon gar nicht zum Dialog. Haben wir also nach Monaten hitziger Debatten nicht endlich ein Recht auf Kommunikation ohne Extremismus?

Eines der Probleme mit dem Niveau der aktuellen Debatte in der Tschechischen Republik ist, dass sie von so genannten Online-Aktivist*innen geführt wird, die ihr Wissen vor allem aus sozialen Netzwerken beziehen. Es ist furchtbar einfach, vom warmen Sofa aus harte Urteile zu fällen. Und es ist unverantwortlich. Dann gibt es auch noch eine Reihe hochqualifizierter Expert*innen, deren Expertise aber ganz anderen Themen als Israel und Palästina gilt. So erhält man hinkende Analysen und Urteile von Menschen, die man ansonsten respektiert, die aber diese komplizierte Situation als Sprachwissenschaftler*innen, Literaturtheoretiker*innen, Celebrities aus dem Musikbusiness, Bildhauer*innen, Sozial- oder Bauarbeiter*innen grundsätzlich nicht verstehen können. Ihre Worte werden dann dennoch wiederholt und verstärkt, begleitet von antisemitischen, islamfeindlichen oder völkermörderischen Kommentaren, die die Debatte um noch eine Ebene tiefer sinken lassen und eine ohnehin schon binäre, zugespitzte Auseinandersetzung weiter polarisieren.

Es ist kein Fußballderby

In dem Wirrwarr von Meinungen und hitzigen Kommentaren finden sich zum Beispiel kurzsichtige Vergleiche von Palästina oder Israel mit Russland und der Ukraine. Die Verharmlosung der sexuellen Gewalt palästinensischer Terroristen gegen israelische Frauen und Mädchen am 7. Oktober dient der Entmenschlichung der Israelis ebenso wie die morbide Analyse der Frage, ob die Hamas tatsächlich ein israelisches Baby in einem Ofen verbrannt hat oder nicht. Vielleicht, damit die Diskutierenden dann das ganze Massaker herunterspielen können, nach dem Motto: „Es stellt sich später immer heraus, dass nicht alles wahr war“. Dem anderen Lager wiederum fällt es leicht, die Bombardierung des Gazastreifens und die katastrophalen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung zu beschönigen, indem sie das Argument des gerechten Krieges anwenden und die israelische Aktion mit der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg vergleichen. Alles unter dem Motto „Wenn der Wald abgeholzt wird, fallen Späne“. Die Autor*innen solcher Vergleiche verkennen, dass es unter anderem die Tragödie von Dresden war, die die internationale Gemeinschaft dazu veranlasste, über die Stärkung der Rechte der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten zu diskutieren. Abschließend sei noch auf die übermäßige Verwendung von Wörtern und Phrasen wie „aber“ oder „im Gesamtzusammenhang“ hingewiesen, die in der Regel die Relativierung eines Menschenrechtsverbrechens begleiten, statt es einfach als solches anzuerkennen. Das bei Sexualstraftäter*innen so beliebte Argument „Sie sind selbst schuld“ ist ebenfalls auf beiden Seiten beliebt. Sich jedoch auf radikale Narrative zu versteifen und ein kompliziertes Thema auf eine Schwarz-Weiß-Perspektive zu reduzieren, hilft keiner der beiden Seiten – bei allem Respekt für beide Seiten.

Es ist in Ordnung, Partei zu ergreifen und für deren Rechte zu kämpfen, aber es ist inakzeptabel, andere zu entmenschlichen oder Terrorismus und Menschenrechtsverletzungen im Interesse der einen oder anderen Seite zu legitimieren. In den zurückliegenden Monaten sind einige Intellektuelle aufgetaucht, die mit Spitzfindigkeiten versuchen, die Fakten so zurechtzubiegen, dass sie ihre ideologische Sichtweise unterstützen. So hört man auf der rechten Seite des Meinungsspektrums, dass die Palästinenser*innen die Hamas gewählt haben und daher zwangsläufig mit dem Massaker vom 7. Oktober in Einklang stehen müssen. Es wird jedoch nicht oft hinzugefügt, dass in Gaza seit 2006 keine Wahlen mehr stattgefunden haben. Alle Palästinenser*innen als Terrorist*innen zu bezeichnen, ist dann nur noch ein argumentatives Foul. Im anderen Lager ist der feministischen Ikone Judith Butler etwas Ähnliches gelungen, als sie sich bemühte, die Ereignisse des 7. Oktobers in die Terminologie eines sogenannten act of armed resistance einzuordnen und damit indirekt alle Palästinenser*innen zu Hamas-Kämpfer*innen machte. In der Tat ist es dann schwer, Hamas und Palästinenser*innen voneinander zu unterscheiden, wenn wir Butlers Verwendung des Begriffs akzeptieren.

Eine Reihe ausländischer und tschechischer Intellektueller hat in den letzten Monaten ähnliche Fehler begangen, indem sie die Universalität der Menschenrechte leugneten und Hassgefühle schürten. Diese ideologisch bedingten Narrative manipulieren die Öffentlichkeit, um die jeweils ausgemachte Opferrolle in dem Konflikt hervorzuheben. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist jedoch kein Fußballderby, bei dem es möglich ist, eine Seite auf Kosten der anderen zu unterstützen, denn ein solches Vorgehen führt unweigerlich zur beidseitigen Niederlage. Die Isolierung und der Boykott einer der beiden Seiten wird die populistische Netanjahu-Regierung und die Hamas-Terrorist*innen nur stärken und radikalisieren. Und in Europa? Ein geteiltes, zersplittertes und polarisiertes Europa ist der feuchte Traum eines Diktators, der im Kreml thront und gegen den der Westen derzeit Krieg führt, mit der unglücklichen Ukraine an vorderster Front.

Wie kann man also die Debatte über den israelisch-palästinensischen Konflikt auf möglichst faire Weise angehen? Erstens, und das ist vielleicht das Wichtigste, muss man verstehen, dass in Israel und Palästina (sozusagen zwischen dem Meer und dem Fluss) insgesamt 14 Millionen Menschen leben, die, unabhängig davon, wer welches Recht auf das Land dort hat, ganz einfach nirgendwo anders leben wollen. Es ist auch wichtig zu erkennen, dass es einen Unterschied zwischen den Menschen und ihren Regierungen gibt, das heißt zwischen Israelis und der israelischen Regierung, zwischen Palästinenser*innen und der Hamas. Und genau wie in Israel, wo die Israelis seit über anderthalb Jahren jede Woche gegen die populistische Regierung von Benjamin Netanjahu demonstrieren, gibt es auch auf der palästinensischen Seite Menschen, die sich gegen die Hamas aussprechen. Und drittens: Ohne Kenntnis der Region und damit ohne die Fähigkeit, sich in die dort lebenden Menschen hineinzuversetzen und zu verstehen, was die tägliche Realität des Konflikts wirklich für ihr Leben bedeutet, ist jede Debatte nutzlos. Bevor Diskussionen auf dem Feld der Unkenntnis stattfinden sollen, ist es vielleicht besser zu schweigen. Auch das ist nämlich völlig legitim.

Sichere Räume schaffen

Darüber hinaus ist es wichtig, seine Worte richtig zu wählen. Bei Diskussionen über ein solch sensibles Thema sollte man auch bei der Wahl der Begriffe Empathie walten lassen und Triggerwörter sowie Phrasen, die traumatische Gefühle hervorrufen können, begrenzen. Derzeit sind die Diskussionen in den tschechischen Medien voll von islamfeindlichen Stereotypen, Rassismus, Holocaust-Leugnung oder antizionistischen Narrativen, die auf antisemitischen Verschwörungserzählungen beruhen. Gleichzeitig werden Menschen, die die israelische Regierung kritisieren, als Antisemit*innen abgestempelt. Worte wie ethnische Säuberung, Völkermord oder Terrorismus werden missbraucht. Worte haben bei einem so belasteten Thema viel Gewicht, und gerade deshalb wird die Realität des israelisch-palästinensischen Konflikts oft vereinfacht, indem „die Anderen“ essenzialisiert werden und man gezwungen wird, sich für das „eigene Lager“ zu entscheiden. Die Komplexität der Situation schließt jedoch jede binäre Sichtweise aus. Darüber hinaus schafft binäres Denken die falsche Vorstellung, dass wir für unterschiedliche Erfahrungen nicht sensibel sein müssen.

Auch aus diesem Grund ist es wichtig, dass jeder Dialog dazu beiträgt, sichere Räume mit klar definierten Grenzen zu schaffen. Letztlich können wir uns direkt in der betroffenen Region inspirieren lassen, nämlich von einigen palästinensisch-israelischen Plattformen (wie etwa Standing Together und Feelbeit), die ein Beispiel für einen diskursiven und verbündeten sicheren Raum für Palästinenser*innen und Israelis sind und Hoffnung in diesen traumatischen, langwierigen Konflikt bringen. Denn die Gerechtigkeit und der Frieden, die wir uns zweifellos alle wünschen, werden nicht aus hasserfüllten oder übermäßig harten oder manipulativen Worten und Erklärungen hervorgehen. Und wenn die Menschen, die sich mitten in diesem Konflikt befinden, in der gegenwärtigen Situation dazu in der Lage sind, dann können wir es auch. Schließlich gilt dies für jedes Thema, das in unseren Gesellschaften auf Resonanz stößt – lassen wir uns unsere Debatten nicht von Extremist*innen, Manipulator*innen oder populistischen Politiker*innen stehlen.

Perspectives_Logo Dieser Artikel erschien zuerst in der slowakischen Monatszeitschrift Kapitál, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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