Das Regime des ungarischen Premierministers Viktor Orbán sieht sich einer großen Herausforderung gegenüber. Bereits mehrere Meinungsumfragen zeigen, dass die Tisza-Partei von Péter Magyar die Regierungspartei Fidesz in der Gunst der Wähler*innen überholt hat, trotz der Kontroversen, die ihn umgeben. Die Menschen in Ungarn beginnen an einen politischen Wandel zu glauben.
Immer mehr Menschen strömen auf den überfüllten József-Bem-Platz in Budapest. Unter einem Meer ungarischer Flaggen stehen Vertreter*innen aller Generationen nebeneinander. Alle warten gespannt auf den Auftritt von Péter Magyar, dem bislang stärksten Herausforderer von Premierminister Orbán, den Ungarn seit 2010 erlebt hat. Die Größe der Menge spornt die Teilnehmer*innen weiter an. Magyar ist es erneut gelungen, mehr als zehntausend Menschen auf die Straße zu bringen. Es scheint, dass in Ungarn Dinge auf eine Art in Bewegung geraten sind, die sogar Viktor Orbán beunruhigt.„Fidesz hat das ungarische Volk betrogen“, verkünden die Flugblätter von Magyars Partei Respekt und Freiheit (Tisza) und fordern die Teilnehmer*innen der Demonstration auf, sich den Bemühungen um einen Regimewechsel anzuschließen.
Es ist Mittwoch, der 23. Oktober, Jahrestag der Revolution 1956, als Ungarn sich gegen die sowjetische Okkupation auflehnte. Angesichts von Orbáns Freundschaft mit Putin bekommt einer der Hauptslogans der ungarischen Revolution – „Russen, geht nach Hause!“ – 68 Jahre später seine Gültigkeit zurück.
Auch Péter Magyar spart nicht mit revolutionärer Rhetorik. „Im Jahr 1956 hatten unsere Vorfahren keine Angst. Auch wir haben heute keine Angst! Unser Land braucht uns wieder!“, rief er seine Anhänger vor der Kundgebung in den sozialen Netzwerken auf.
Noch bis Anfang 2024 war Péter Magyar praktisch unbekannt. Heute steht er an der Spitze der stärksten Oppositionsbewegung in Ungarn. Der 43-jährige Anwalt und Diplomat gehörte über mehrere Jahre zum elitären Kreis um Viktor Orbán. Er hatte Funktionen in mehreren staatlichen Unternehmen inne und war bis 2023 mit der mittlerweile Ex-Justizministerin Judit Varga verheiratet.
Alles änderte sich im Februar 2024, als ein Skandal über die Begnadigung im Zusammenhang mit Kindermissbrauch ausbrach. Obwohl ideologische Widersprüche für Fidesz nie wesentliche Probleme darstellten, löste dieser Fall eine Regierungskrise aus und erschütterte die ungarische Öffentlichkeit. Die Präsidentin Katalin Novák und auch die Justizministerin Judit Varga mussten zurücktreten. Und der damals noch unbekannte Péter Magyar verkündete öffentlich den Rücktritt von all seinen Funktionen bei staatlichen Unternehmen und er begann Orbáns korrumpiertes System lautstark und kompromisslos zu kritisieren.
Magyar sagte dabei der Öffentlichkeit nichts Neues. Schon seit mehreren Jahren spricht die Opposition über Korruption in den höchsten Regierungskreisen. Im Gegensatz zu den Oppositionsparteien ist es Magyar jedoch gelungen, in den letzten Monaten hunderttausende Menschen zu mobilisieren und praktisch aus dem Nichts eine starke Oppositionsbewegung aufzubauen. Das Resultat seiner Tisza-Partei bei den Europawahlen im Juni übertraf alle Erwartungen, als Tisza bei weitem alle anderen Oppositionsparteien überflügelte und fast dreißig Prozent der Stimmen gewann.
„Wir glauben daran, dass Orbán endlich aus der ungarischen Politik verschwindet“
Viele Beobachter waren anfangs skeptisch und erwarteten, dass der dramatische Aufstieg der Partei Tisza bald verebben würde. Doch nur wenige Stunden vor der Kundgebung am 23. Oktober zeigte eine Umfrage des 21 Research Centre, dass Tisza in den Wählerpräferenzen zum ersten Mal die regierende Fidesz überholt hatte.So etwas ist während Orbáns Regime noch nicht passiert. Fidesz hat nun tatsächlich einen starken Herausforderer. Die neue Welle des Optimismus und der Energie ist auf Magyars Kundgebung in Budapest Ende Oktober deutlich zu spüren. „Wir sehen, dass die Dinge sich endlich zu ändern beginnen“, sagt mir die Gymnasiastin Emma Nagy, die mit ihrer Mutter zur Kundgebung kam. Die Fidesz-Regierung begleitet Emma, genauso wie alle anderen ungarischen Schüler*innen, ihre gesamte Jugend.
„Im Grunde kennen wir nichts anderes als die Fidesz“, teilt mir eine andere Gruppe von Student*innen mit. „Es ist wirklich ein tolles Gefühl, dass wir endlich über eine neue Ära des politischen Wandels reden können, statt über diese vorgeheuchelte Demokratie und über die wiederholte Enttäuschung darüber, wenn jeder schon im Vorhinein weiß, dass Fidesz die Wahlen wieder gewinnen wird“, sagt einer der Student*innen, Barnabás Csúri, während die Menge um uns herum Anti-Regierungs-Slogans skandiert.
„Meine Erwartungen? Zumindest, dass Tisza die Wahlen gewinnt“, sagt mir lächelnd Péter Sági, ein Mann mittleren Alters, der am Revers ein Abzeichen mit einem Ausrufezeichen trägt – das Symbol der zivilgesellschaftlichen Anti-Regierungs-Proteste. „Schon seit mehr als einem Jahrzehnt versuche ich jede Gelegenheit zu nutzen, um zu zeigen, dass ich mit Orbáns Regierung nicht einverstanden bin. Dies ist nun die stärkste Oppositionsbewegung, daher will ich sie unterstützen“, erklärt er.
„Nicht links, nichts rechts, bloß ungarisch“
Ungarn kann man unter der Regierung von Viktor Orbán schon lange nicht mehr als Demokratie bezeichnen. Als Premierminister arbeitete Orbán während seiner vierzehn Jahre an der Macht systematisch daran, den Rechtstaat zu untergraben, die Medien und das Verfassungsgericht unter seine Kontrolle zu bringen und die Wahlregeln zu ändern. Seit dem Beginn der Covid-Pandemie herrscht er in Ungarn per Dekret wie ein waschechter Autokrat.Die Botschaft von Péter Magyar ist also klar: Bei den Wahlen 2026 werden die Ungarn über das Ende von Orbáns Regime abstimmen. Gerade darum ist Magyar sehr vorsichtig, um sich ideologisch nicht allzu sehr festzulegen. Der Hauptslogan seiner Partei lautet: „Nicht links, nicht rechts, bloß ungarisch.“
Paradoxerweise verwendete auch Viktor Orbán in den Wahlen 2002 eine ähnliche Losung, als er verkündete, seine Weltanschauung sei „weder liberal noch konservativ, weder rückschrittlich noch progressiv, sondern bloß ungarisch“ und sich als Vertreter aller „wahren Ungarn“ stilisierte. Tisza sagt nun den Menschen, dass Orbán das Volk betrogen habe und versucht selbst, sie hinter den Werten eines „wahren Patriotismus“ zu vereinen.
Obwohl sich Tisza eher als konservative Mitte-Rechts-Partei profiliert, hat sie innerhalb weniger Monate einen Großteil der enttäuschten Anhänger*innen der linksgerichteten Oppositionsparteien auf sich gezogen. „Péter Magyar kritisiert nicht nur Orbán, sondern auch die ‚alten‘ Oppositionsparteien. Er spricht über das Regime von Orbán und Gyurcsány“, erläutert der ungarische Politikwissenschaftler András Bozóki von der Central European University.
Ferenc Gyurcsány, der Vorsitzende der linksgerichteten Demokratischen Koalition, ist bereits seit Jahren einer der unbeliebtesten Politiker des Landes. Gerade ein Skandal um den damaligen Premierminister Gyurcsány im Jahr 2006 brachte Orbán in der darauffolgenden Wahl wieder zurück an die Macht. Zuvor war damals ein Tonbandprotokoll an die Öffentlichkeit gelangt, auf dem Gyurcsány zugab, dass er während seines Wahlkampfs die Wähler*innen belogen habe.
Seit dieser Zeit verwendet Orbáns Propagandamaschinerie die Figur Gyurcsány als beliebtes Mittel, auch die anderen Oppositionspolitiker zu kompromittieren. Die Strategie von Péter Magyar besteht also darin, sich nicht nur deutlich von der Fidesz, sondern auch von Gyurcsánys Opposition zu distanzieren und völlig neue Gesichter in die Politik zu bringen.
„Wir befinden uns in einem autokratischen System, das nur von einer einzigen großen Partei dominiert wird. Péter Magyar darf sich daher nicht deutlich ideologisch profilieren. Seine Aufgabe besteht nun darin, möglichst viele Menschen mit unterschiedlichen Positionen in einem Lager zu vereinen“, erklärt Politikwissenschaftler Bozóki die Kommunikationsstrategie Magyars.
„Die Stimmen der Oppositionswähler werden ihm für den Sieg nicht reichen. Er muss auch Wähler der Fidesz-Partei an seine Seite locken“, fügt der Politikwissenschaftler hinzu und weist darauf hin, dass Magyar aus diesen Gründen vorsichtig vorgeht, um sich in seiner Kommunikation nicht allzu sehr festzulegen – zum Beispiel in der Frage der LGBTQ+-Rechte oder der Waffenlieferungen an die Ukraine. Beide Themen sind in Ungarn seit langem das Ziel von Manipulation der Regierungspropaganda, die bereits jetzt versucht, Magyar als jemanden darzustellen, der Ungarn in den Krieg ziehen wird.
Gerade die Fidesz-Wähler sind es, an die sich Magyar offen in seinen Reden und in den sozialen Netzwerken wendet. Seine Rhetorik basiert vor allem auf Patriotismus und dem Bestreben, dem Volk die Regierung über das Land wieder zurückzugeben, das Orbán mit seinen Freunden ausgeraubt habe.
Doch auch Magyar selbst ist in Kontroversen verwickelt. Wiederholt sind heimlich angefertigte Aufnahmen von Privatgesprächen Teil seines Wahlkampfs geworden. Zu Beginn seiner Kampagne veröffentlichte Magyar eine ohne deren Wissen angefertigte Aufnahme seiner Ex-Frau und Ex-Ministerin Varga, auf der sie über angebliche Korruption auf höchster Regierungsebene spricht. Varga behauptete daraufhin, Magyar habe die Aufnahme benutzt, um sie während ihrer Ehe zu erpressen, und beschuldigte ihn der häuslichen Gewalt. Ein Polizeibericht über Magyars aggressives Verhalten gegenüber seiner Ex-Frau wurde später veröffentlicht. Magyar streitet alle Vorwürfe ab.
Die Veröffentlichung von heimlich gemachten Aufnahmen ist in den letzten Wochen erneut zu einem wichtigen Bestandteil des politischen Wahlkampfs in Ungarn geworden. Nach und nach gelangten Aufnahmen von Magyar selbst an die Öffentlichkeit, die angeblich seine Ex-Freundin Evelin Vogel gemacht hat. Auf ihnen beleidigt Magyar seine Anhänger*innen, Parteifreund*innen oder Medienvertreter*innen. An der Echtheit der Aufnahmen bestehen noch Zweifel.
All dies tut der Popularität der Tisza-Partei jedoch keinen Abbruch, und Magyar steht derzeit im Mittelpunkt der Hoffnungen derjenigen, die auf eine Niederlage Orbáns hoffen.
Orbán gibt sich nicht geschlagen
Die wichtigste Frage bleibt also, ob es Magyar gelingt, seine wachsende Unterstützung bis zu den Parlamentswahlen in der ersten Jahreshälfte 2026 zu halten. „Die Menschen sind Orbáns Regime schon müde und hier tut wirklich eine Alternative not. Der gegenwärtige Aufstieg der Tisza-Partei ist wirklich beispiellos. Es ist fast wie eine revolutionäre Welle, die Péter Magyar nach vorne gespült hat“, erläutert der Politikwissenschaftler Bozóki.Nach Jahren der Machtkonsolidierung ist aber klar, dass Orbán alles tun wird, um sich einen weiteren Sieg zu sichern. Die Regierungspropaganda und Viktor Orbán haben bereits begonnen, Magyar anzugreifen. Laut den Informationen der investigativen Journalist*innen vom Portal Vsquare war Orbán sichtlich unzufrieden mit der Leistung der regierungsnahen Medien während der Europawahlen, als sie Magyars Erfolg nicht verhindern konnten, und er bereitet neue Maßnahmen vor, damit sich ein ähnliches Szenario nicht wiederholt.
Nach Trumps Wahlsieg hat Viktor Orbán nun überdies einen starken Verbündeten in den Vereinigten Staaten gewonnen, was seine Position festigen könnte. Seit Ende Oktober jedoch zeigen bereits mehrere Umfragen, dass bei der Wählerpräferenz die Tisza-Partei auf dem ersten Platz liegt. Auch laut den Umfragen von Politico, die die Ergebnisse mehrerer unterschiedlicher öffentlicher Meinungsumfragen zusammenfasst, beginnt Fidesz allmählich an Unterstützung zu verlieren und liegt nun seit Anfang November, was die Wählerpräferenz anbelangt, mit der Tisza-Partei gleichauf.
Entscheidend wird daher sein, ob es Magyar gelingt, genügend Fidesz-Wähler*innen in den Städten und Dörfern außerhalb des oppositionellen Budapests zu überzeugen. „Magyar spricht schon davon, dass er nach der Wahl sicherstellen will, dass kein Premierminister länger als zwei Amtszeiten an der Macht sein kann, und dass er zur demokratischen Verfassung zurückkehren will. Doch dazu wird er wirklich eine enorme Mehrheit der Stimmen benötigen“, erklärt Bozóki. „Orbán gibt sich nicht so leicht geschlagen. Er hat die Verfassungsmehrheit, also kann er die Wahlregeln eigentlich jederzeit ändern, sogar zwei Wochen vor den Wahlen.“
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
November 2024