„Die Vertreibung der Gerta Schnirch“  Wenn Geschichte sich an die Nase fasst

Cover der tschechischen (2009) und der deutschen (2018) Ausgabe "Gerta. Das deutsche Mädchen"
Cover der tschechischen (2009) und der deutschen (2018) Ausgabe, © Nakladatelství Host | © Klak Verlag Cover: © Nakladatelství Host | © Klak Verlag

Als Die Vertreibung der Gerta Schnirch (Vyhnání Gerty Schnirch) 2009 in Tschechien erschien, war die Courage, die lange tabuisierte Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei anzusprechen, per se preisverdächtig. 2010 erhielt die Schriftstellerin Kateřina Tučková für ihren Roman den Leserpreis der wichtigsten tschechischen Literaturauszeichnung Magnesia Litera. Die überfällige deutsche Übersetzung erschien erst fast ein Jahrzehnt später unter dem Titel Gerta. Das deutsche Mädchen.

In deutschen Medien herrscht Respekt vor der gründlichen Recherche und Aufarbeitung des Themas, auch wenn der Roman nicht frei von Klischees bleibt. Letztlich überzeugt jedoch die beseelte Darstellung der gebrochenen Realitäten bis in die Enkelkindergeneration.

Die 1980 geborene Kateřina Tučková wusste lange nicht um den „dunklen Fleck“ in der Geschichte ihrer Geburtsstadt Brno (Brünn).

„Als ich dann meine erste eigene Wohnung bezogen habe, bin ich jeden Tag an einer Inschrift an einer alten Fassade vorbeigelaufen: ‚Mährische Glas- und Spiegelindustrie‘. Und weil ich gar nichts über die Anwesenheit von Deutschen in meiner Stadt wusste, wurde ich neugierig. Warum stand das da noch im Jahr 2002, 2003?“, erzählt die Autorin dem Auslandssender Deutsche Welle.

Sie sprach Jahre lang mit Zeitzeugen, recherchierte in historischen Dokumenten und stieß auf ein Tabu: „Ich versuchte mit meinen Nachbarn darüber zu sprechen, aber sie wollten nicht über Juden und Deutsche sprechen, die früher in unserer Straße lebten.“

Romanhaft verdichtete Zeitzeugenberichte

Sie erfuhr vom Todesmarsch fast aller Deutschen aus Brünn in der Nacht vom 30. zum 31. Mai 1945, der in der kommunistischen Ära – und lange auch der postkommunistischen – totgeschwiegen wurde. Als historisch verbürgt gilt nur die Erwähnung von bis zu 2000 Todesopfern, die Autorin selbst schätzt sie dagegen eher auf 2.650:

„Es ist wirklich unmöglich eine Garantie für die absoluten Zahlen zu haben. Als Ergebnis von Nachforschungen mehrerer Jahre würde ich die Zahl der Opfer im Massengrab bei Pohořelice korrigieren und mit 900 anstelle der 453 beziffern. Und die Zahl der Menschen, die während des Marsches starben, betrug schätzungsweise 1750.“

Kateřina Tučková beschreibt den Brünner Todesmarsch als wilden, spontanen Racheakt der zuvor unterdrückten Bevölkerung, mit planhaften Zügen. Dafür schickt sie ihre Hauptfigur Gerta mit ihrem Säugling Barbora auf den erschöpfenden Marsch, den sie als Zwangsarbeiterin im dörflichen Perná an der Grenze zu Österreich überlebt. Auch bei der Figurenkonzeption baut Kateřina Tučková Berichte von Zeitzeugen ein, die sie romanhaft verdichtet. Über ihre Protagonistin sagt Tučková:

„Während der Recherchen erfuhr ich die Geschichte von Gerta, einer 21-jährigen Mutter mit ihrem Säugling, die 1945 mit dem sogenannten ‚Todesmarsch‘ aus meinem Studentenhaus vertrieben wurden, gemeinsam mit 19.800 anderen Brünner Frauen, Kindern und älteren Menschen.“

Vernunft statt Rache

Als Romanstoff wählte Kateřina Tučková ein Kapitel der deutsch-tschechischen Geschichte, das auf beiden Seiten unzähliges, generationenübergreifendes Leid zeigt. Obwohl sie in ihrem Roman das Leid der Tschechen im nationalsozialistischen „Protektorat Böhmen und Mähren“ einbaut, mit möglicherweise bis zu 40.000 Opfern, distanziert sich Tučková in ihrem Roman klar vom Gedanken einer deutschen Kollektivschuld. Den Gedanken der individuellen Schuld für totalitäre Systeme legt sie konsequent der Figur Zipfelová aus Perná in den Mund, auf deren Feldern Gerta einige Jahre eingesetzt wird:

"Und auch wenn eine von Neurath unter ihnen wäre, wie sollen sich denn solche Frauen mit kleinen Kindern schuldig gemacht haben?

„Vielleicht, indem sie für den arischen Nachwuchs gesorgt haben.“

„Ich bitte dich, rede keinen solchen Unfug und bleib mal auf dem Teppich. Das sind ganz gewöhnliche Frauen.“

Doch auch wenn einzelne Buchpassagen ein besseres Leben für Gerta hoffen lassen, ist das Glück Tučkovás Protagonistin bis zu deren Tod mit 76 Jahren selten hold. In schier endlosen Passagen widmet sich die Autorin der deutsch-tschechischen Unversöhnlichkeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs, an der die Protagonistin vergrämt.

Da ist der deutschsprachige Vater, den sie klischeehaft in arischem Übermut sagen lässt: „Tschechen, das waren Lakaien, eine Nation von Hosenscheißern, die sich für alles hergeben würden.“ Oder die tschechische Mutter, deren Hilflosigkeit fast schon in Opportunismus gipfelt: „Doch sie würde sich niemals gegen ihn (den Ehemann) auflehnen, sie nicht. Verdankte sie ihm doch zwei hübsche Kinder, einen geordneten Haushalt, Wohlstand.“

Da sind die Fassaden des Brünn der 50er Jahre, die eine architektonische Synergie tschechischer und deutscher Baukunst zu verbieten schienen: „Nur eines hatte sich nicht geändert. Das ungeschriebene Gesetz, das jede Generation auf dem Stadtplan fortschrieb, nämlich dass sich deutsche und tschechische Wege möglichst nicht kreuzen sollten.“

Späte Genugtuung

Und da ist schließlich Gertas Tochter Barbora, die nach der Rückkehr in Brünn aufwächst und in ihrer Schulklasse für ihre deutsche Herkunft schikaniert wird: „Aber für mich war er trotzdem noch wie ein Papa und ich habe meinen Mitschülern von ihm erzählt, wenn sie wieder einmal so dumm fragten, ob mein Vater auch ein Deutscher sei.“

Bis ins hohe Lebensalter wird Gertas Verbitterung über ihre Isolation von der tschechischen Gesellschaft deutlich. Betagt, verarmt und von Schicksalsschlägen gebeutelt stirbt Gerta zuletzt im kleinen Kreis von Tochter, Schwiegersohn und Enkelkind. Das letzte, enttäuschende Wort erhält zwar ihre Tochter: „Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe den Eindruck, dass Mamas gesamtes Leben, abgesehen von den zwei, drei Jahren mit Onkel Karel, unerfüllt und sinnlos war (…) Ohne Mann, ohne Gefühle, gefangen in ihrem Hass auf diese Gesellschaft und am Ende festgefahren in ihrem Verlangen nach einer Entschuldigung.“

Kateřina Tučková gelingt es gleichwohl – trotz des ohnmächtigen Endes ihrer Hauptfigur – die heute aufbrechende deutsch-tschechische Versöhnung romanhaft zu antizipieren. Es ist die Enkelin Blanka, die sich schließlich für eine offizielle Anerkennung des Todesmarsches seitens der Stadt Brünn engagiert und der Großmutter Hoffnungen auf eine späte Genugtuung verschafft: „Schön klingt es, sagte sie sich, schön. Es klang, als hätte sich die Geschichte an die eigene Nase gefasst und könne sich nun tatsächlich durch die Münder jener deren Väter über die tschechischen Bürgersteige der Stadt gelaufen waren, entschuldigen.“

Es dauerte viele Jahre bis Pioniere kultureller Zirkel Politiker dazu bewogen das Unrecht des sogenannten ‚Todesmarsches‘ zuzugeben und sich bei den Opfern und ihren Familien zu entschuldigen. Nach jahrelangem diplomatischem Händeschütteln und Beileidsbekundungen erfolgte die offizielle Entschuldigung der Stadt Brünn erst im Jahr 2015 – im Rahmen der Deklaration zur Versöhnung und einer gemeinsamen Zukunft. „Eine große symbolische Geste“, sagt Kateřina Tučková.

 

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