In einer umfangreichen Biographie wackelt der Schriftsteller Jan Novák am Sockel des Säulenheiligen der tschechischen Literatur Milan Kundera. In „Kundera. Český život a doba“ („Kundera. Ein tschechisches Leben und die Zeit“) zeichnet Novák nach, wie sehr der Starautor vom kommunistischen Regime profitiert hat, und dass er aktiv dabei half, es aufrecht zu erhalten.
Der Autor Jan Novák sucht sich oft kontroverse Reizthemen aus: Schicksale von Emigranten, den Underground, Miloš Forman, Václav Havel, die Brüder Mašín und nun Milan Kundera. Seine belletristische Verarbeitung des Schicksals der Brüder Mašín, die eine antikommunistische bewaffnete Widerstandsgruppe gegründet hatten, trug dazu bei, das Narrativ zu verändern, das über sie bis dato vorherrschend gewesen war und das sie als „Terroristen“ beschreibt. So ähnlich könnte es auch mit seinem Buch über den Schriftsteller Milan Kundera ablaufen. Es war bekannt, dass Kundera in seiner Jugend politisch „schwankte“ und sogar zweimal Mitglied der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) war. Aber erst Novák zeichnete jetzt nach, wie sehr Kundera vom letzten Regime profitiert hat, und dass er aktiv dabei half, es aufrecht zu erhalten.Der tschechische öffentliche Diskurs wurde bisher von einem Narrativ beherrscht, das Kundera und seine Fans selbst etabliert hatten. Viele von ihnen sind mit seinen Büchern aufgewachsen und sind ihm gegenüber somit oft relativ unkritisch. Kunderas Unberührbarkeit wird von seinem Weltruhm verstärkt, den sich jeder Tscheche wünschen würde und der ihn wie ein Schild vor jeder Kritik schützt. Das bestehende Narrativ kann man mit einigen Titeln von Kunderas Romanen kurz und knapp zusammenfassen: Das Leben ist anderswo, Die Unsterblichkeit, Die Identität, Die Unwissenheit, Das Fest der Bedeutungslosigkeit.
Alternative Vergangenheit
Aus Nováks Buch kann man erfahren, wie es zu diesem internationalen Ruhm kam, der ja meistens eine Mischung aus Bemühen und Zufall ist. Kunderas Werk hat unbestritten eine hohe Qualität, aber für einen solchen Grad an Ruhm sind auch Beziehungen, staatliche Unterstützung und eine Prise Glück nötig. Man möchte dabei gar nicht spekulieren, wie man seine Bücher, die voll sind von Misogynie, heute lesen würde, und ob sie überhaupt übersetzt werden würden. Milan Kundera zog außerdem Nutzen daraus, dass die Tschechoslowakei ein besetztes und dadurch exotisches Land war. In Interviews für die internationale Presse gelang es Kundera gekonnt, seine Identität in Nebel zu hüllen. Nur allzu gern ließ Kundera die Welt in dem Glauben, dass er vor seinem Weggang ins Exil so etwas wie ein Dissident gewesen sei. (Novák behauptet übrigens, es komme häufig vor, dass Emigranten sich eine alternative Vergangenheit erschaffen.) Viele fremdsprachige Ausgaben seiner Bücher enthalten etwa die Information, er sei vor Verlassen des Landes Musiker gewesen (etwa die Ausgabe von Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins in der Edition der Süddeutschen Zeitung von 2004). Übrigens sind auch die Wikipedia-Einträge in Bezug auf seine Zusammenarbeit mit dem Regime in allen Sprachen relativ kurz angebunden.„Bei Nováks Buch läuft es mir deshalb kalt den Rücken hinunter, weil sein enormer Erfolg hier eine Art Norm etablieren könnte, sodass es jetzt in diesem Stil weitergeht und in ein oder zwei Jahren jemand die Monografie Bohumil Hrabal, ein verantwortungsloser Trinker schreibt, oder Ladislav Fuks und sein endloser Trouble mit der Homosexualität. Wir fliehen uns wieder in ihre Privatleben hinein und wühlen darin, doch das lenkt von ihrem Werk ab, das doch eigentlich viel grundlegender ist“, fürchtet Petr A. Bílek. Welche Norm schlägt der Normenerschaffer Bílek also vor? Keine Bücher mehr über Schriftsteller? Und ist es nicht vielleicht doch andersherum? Dass gerade das Buch über den Schriftsteller den Leser überhaupt zu dem Werk führt und ihn anstachelt, noch einmal hineinzuschauen und sich noch einmal neu mit seinem Schaffen auseinanderzusetzen?
Und hier offenbart sich die Grundfrage, für wen Novák das Buch eigentlich geschrieben hat. Ich fürchte, er schrieb es nicht für Literaturhistoriker wie Petr A. Bílek, die sich an die These halten, dass nur das Werk über einen Autor sprechen kann und man sein Leben bei der Lektüre gedanklich außen vor lassen muss. Novák verortet Kunderas Leben in der tschechoslowakischen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und der Leser beginnt zu ahnen, wie viele Themen tatsächlich noch darauf warten, genauer objektiv erforscht zu werden: das Phänomen, dass erlaubte Autoren verbotenen Autoren ihre Namen liehen, der Ablauf der Schriftstellerkongresse, die in den 1960er Jahren zu einer bedeutenden kulturellen Bühne wurden, die Lebensschicksale des katholischen Dichters Jan Zahradníček, des ewigen Baflers Bohumil Hrabal, des Nobelpreisträgers Jaroslav Seifert, der viel schreibenden Autoren Ludvík Vaculík, Ivan Klíma, Pavel Kohout und zahlreicher weiterer. Nicht, damit wir endlich erfahren, wie viele Liebhaber*innen sie hatten und ob sie sich auch für Astrologie und siderische Pendel begeistern konnten, sondern um diese abartige Zeit besser zu verstehen, in der sie lebten und in der nicht jeder von ihnen – diplomatisch formuliert – sich selbst treu blieb.
Verherrlichung eines monströsen Regimes
Das Buch schildert für jedes einzelne Jahr, wie sehr Kundera in das Regime der kommunistischen Partei eingebunden war, und wie er nach und nach nicht nur in Bezug auf seine Funktionen, sondern auch finanziell eine privilegierte Position erreichte. Er arbeitete als Dozent an der FAMU (Film- und Fernsehfakultät der Akademie der Musischen Künste), war bezahlter Funktionär des Schriftstellerverbandes, schrieb und übersetzte als eifriger Stalinist Gedichte im Geiste der Aufbaueuphorie, seine Romane wurden fürs Fernsehen adaptiert, er schrieb Theater- und Rundfunkstücke. Das bedeutete in jener Zeit nichts Anderes, als dass er sich sowohl mit wichtigen Potentaten, als auch mit der Zensur gut verstand.Das Ausmaß seiner Beteiligung an diesem ungeheuerlichen Regime und seine Verstrickung darin war nicht gerade klein, und deshalb konnte er auf großem Fuße leben. Die Zeit des Totalitarismus, konkret die Zeit vor 1968, beschrieb er dabei im Vorwort zur französischen Ausgabe von Josef Škvoreckýs Roman Das Mirakel folgendermaßen: „Die Wirtschaft hundertprozentig verstaatlicht, die Landwirtschaft in den Händen von Genossenschaften, relative Gleichheit ohne Kasten, ohne Reiche und Arme, das alles ohne den Stumpfsinn des Marktes, zugleich aber Freiheit des Wortes, Meinungspluralität und ein sehr dynamisches Kulturleben, das der Motor dieser ganzen Bewegung war.“ Das klingt wie der feuchte Traum eines westeuropäischen Linken, der jedoch so in der Tschechoslowakei sicher nicht der Wirklichkeit entsprach.
Nach der Emigration arbeitete Kundera an seinem Verschwinden, als wollte er für die Tschechen aufhören zu existieren. Seit Jahrzehnten schon gibt er keine Interviews mehr, und seine letzten vier Romane dürfen nicht auf Tschechisch erscheinen, weil er die Übersetzung untersagte (was sich erst jetzt mit der erlaubten Veröffentlichung der Übersetzung von dem Roman Das Fest der Bedeutungslosigkeit änderte). Der Hunger nach Informationen wuchs (vor allem nach dem Denunziationsenthüllung von 2008, einem gemeinsamen Foto mit Andrej Babiš 2018 und der anschließenden Erteilung der tschechischen Staatsbürgerschaft). Und es ist gut, dass Novák, wie Kundera ein Emigrant und wissbegieriger Schriftsteller mit einer Vorliebe für kontroverse Lebensschicksale, den Handschuh aufhob. Dass diese Buchveröffentlichung Aufsehen erregen würde, war also zu erwarten. Skandalös ist aber nicht Nováks Buch, sondern die Art, wie vielerorts darüber geschrieben wird.
Es hat sich gezeigt, dass argumentative Fouls das tägliche Brot tschechischer Publizisten sind, und vor allem vernachlässigen sie eine grundlegende akademische Regel: Äußere dich zu dem, was du wirklich gelesen und auf dich hast wirken lassen. Zudem ist es eine ungeschriebene Regel der Kunstkritik, dass ein Kritiker, der zum Werk eine zu emotionale Beziehung hat und es nicht mit Distanz und Außenperspektive betrachten kann, sich dazu besser nicht äußern sollte. Es ist in Mode gekommen, das Buch auf Grundlage einiger weniger gelesener Passagen zu verurteilen, etwa mit den Worten, „ich bin kein Verehrer von Kunderas Werk“, aber Nováks Buch über ihn „werde ich lieber nicht lesen, um mir eine bessere Interpretation zu erhalten“.
Den Kampf um die Kontrolle des eigenen Bildes ist nicht zu gewinnen
Diejenigen, die lamentieren, dass ihnen jemand das systematisch verzerrte Selbstbild von Kundera nun verzerrt, haben das Buch entweder nicht (zu Ende) gelesen, oder können sich nicht damit abfinden: „Das Leben ist anderswo“. Sie erweisen Kundera damit gewissermaßen einen Bärendienst. Als wäre dieser ein kleiner Junge, den (oder dessen Bild) man beschützen muss. Dem man aber nicht zuhören muss. Handelt nicht Die Unsterblichkeit genau davon, was jetzt gerade passiert? Dass jeder von uns in den Anderen ein bestimmtes Bild hinterlässt, und zwar zu Lebzeiten, aber auch nach dem Tod? Kunderas These ist, die Unsterblichkeit sei lächerlich, und man müsse immer darauf vorbereitet sein, dass man den Kampf um die Kontrolle über das eigene Bild nicht gewinnen kann. Er hat ihn selbst nicht gewonnen, was nicht an Novák und seiner kleinteiligen, quasi detektivischen Arbeit liegt, die im Sammeln vieler Daten und in Gesprächen mit vielen Zeitzeugen bestand, sondern daran, dass man ihn nicht gewinnen kann.Folgende Überlegungen stellt der Anwalt Paul in Die Unsterblichkeit an: „Ohne dass er es ahnen konnte, muss etwas mit seinem Bild geschehen sein. Etwas muss geschehen sei, und er weiß nicht was, und er wird es niemals erfahren. Denn so ist es nun mal und das gilt für alle: Niemals werden wir erfahren, warum und womit wir die Leute provozieren, womit wir ihnen angenehm sind, womit wir ihnen lächerlich vorkommen; unser eigenes Bild ist für uns selbst das größte Geheimnis.“
Im Dialog zwischen Goethe und Hemingway benennt Kundera seine größte Obsession so: „Die Sorge um das eigene Bild, darin liegt die schicksalshafte Unreife des Menschen. Es ist so schwer, gegenüber dem eigenen Bild gleichgültig zu sein. Eine solche Gleichgültigkeit geht über die menschliche Kraft hinaus. Der Mensch erlangt sie erst nach dem Tod. Und das noch nicht einmal sofort. Erst lange nach dem Tod.“ Ja, so mancher Schriftsteller hütet sein Bild in der Öffentlichkeit voller Vorsicht und hinterlässt doch eine Spur. Novák folgte eben dieser Spur – er las seine Bücher, traf Dutzende Leute, die mit Kundera bekannt waren, und ging seine Akte durch, die die Staatsicherheit geführt hatte. Das ist die Unsterblichkeit. Ja, sie ist irgendwie lächerlich. Aber Nováks Buch ist wie jede Biografie auch nur ein Versuch, das Bild des Menschen Milan Kundera zu fassen, und der Leser muss selbst entscheiden, was er von der Lektüre eines solchen Buches mitnimmt und was daraus hängen bleibt.
Der Versuch, die Zeit und diejenigen, die in ihr lebten, so gut sie konnten, einzufangen, ist zudem ein Mittel, um gegen die historische Amnesie zu kämpfen. Das sollten wir immer wieder und wieder versuchen. Die Lebensrätsel anderer zu lösen bedeutet auch, die eigenen zu lösen, es ist vergebliche Mühe, das Bild von jemandem einfangen zu wollen, der uns immer wieder entwischt und sich dagegen sperrt, verstanden zu werden. Oder wie Milan Kundera schrieb, „der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf der Erinnerungen gegen das Vergessen“ .
Jan Novák (*1953) ist ein tschechischer Schriftsteller, Übersetzer und Dokumentarist. Im Jahr 1969 emigrierte er mit seinen Eltern über Österreich in die USA. Er lebte in Chicago, hat seinen Wohnsitz nun aber wieder in Tschechien. Sein Roman Zatím dobrý über die bewaffnete Widerstandsgruppe der Brüder Mašín wurde 2005 mit tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera als Buch des Jahres ausgezeichnet. Es erschien auch als Graphic novel – auf Deutsch unter dem Titel Tschechenkrieg. Novák schrieb Biographien über den Filmregisseur Miloš Forman, den Dissidenten John Bok und zuletzt über den Schriftsteller Milan Kundera. Mit dem Zeichner und Illustrator Jaromír 99 adaptierte er außerdem die Lebensgeschichte des Langstreckenläufers Emil Zátopek als Comic, auch diese Graphic novel erschien als Zátopek in deutscher Sprache.
September 2020