Soziale Netzwerke & Redefreiheit  Seien wir nicht zu faul!

Motherboard, Reverse Detail Foto: Michael Dziedzic via unsplash | CC0 1.0

Die Algorithmen der sozialen Netzwerke schütten Emotionen über die Nutzer*innen aus, die viele überfordern. Wie man darauf reagiert, hat aber jede*r Einzelne selbst zu verantworten. Der Vorwurf von einer Einschränkung der Meinungspluralität durch ein vermeintliches Mainstream-Narrativ ist absurd, findet JÁDU-Chefredakteur Patrick Hamouz.

Dieser Kommentar reagiert auf den Artikel Eine Sackgasse wie das Luftschiff oder die Minidisk, in dem Petra Hůlová soziale Netzwerke als Schuldige für den Zustand der öffentlichen Debatte verantwortlich macht.

Petra Hůlová glaubt, wir öffnen die Büchse der Pandora, indem wir unliebsame Meinungen verbieten, etwa durch die Sperrung von Social-media-Konten oder das Blocken von bestimmten Inhalten. Und sie kritisiert die Intransparenz und Inkonsequenz, mit der dabei vorgegangen wird. Zweifellos lässt die Debattenkultur in sozialen Netzwerken im Allgemeinen eher zu wünschen übrig. Kritik an der Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Netzwerke, deren Algorithmen – zum Zweck der Gewinnmaximierung – Emotionen vor Informationsgehalt stellen, ist also durchaus berechtigt.

Sicher kann es schwierig sein, sich den Provokationen zu erwehren, die die Algorithmen der sozialen Netzwerke manchmal über ihre Nutzer*innen ausschütten. Niemand aber schreibt diesen – also uns – vor, dass sie sich deshalb gegenseitig mit Hassrede überziehen müssen. Auch eine unlautere Geschäftspraxis, mit der uns im Social media feed gezielt digitale Trigger untergejubelt werden, entzieht Einzelne nicht der Verantwortung, wie sie darauf reagieren. Wer dabei Gesetze bricht, muss eben mit juristischen Konsequenzen rechnen. Das ist auf dem Dorfplatz so. Warum sollte es im Internet anders sein? Im tschechischen Strafrecht gibt es dafür unter anderem den von Petra Hůlová erwähnten Paragrafen 405 zur Leugnung und Rechtfertigung von Völkermord. Der ist aber nicht erst für Unterstützer des russischen Angriffskrieges gemacht worden.

Lügen und Hetze sind keine Meinung

Petra Hůlová schreibt aber in diesem Zusammenhang von einem „Trend, der andere Meinungen disqualifiziert“, und zieht eine ungeheuerliche Parallele zwischen einem demokratischen Rechtsstaat wie der Tschechischen Republik und dem totalitären Russland:

Auf seine Weise spiegelt er [der Trend] das wider, wovon er deklariert, sich distanzieren zu wollen: von den Zuständen in Putins unfreiem Russland, wo es wiederum gegen das Gesetz ist, das zu behaupten, was man über den Krieg in der Ukraine bei uns sagt.

Da steht wirklich „behaupten“! – ein Wort, das den Zweifel an dem folgenden Nebensatz schon in sich trägt. Was ist es denn, „was man über den Krieg bei uns sagt“? Dass es ein Krieg ist, und eben keine „spezielle Militäroperation“? Was meint sie, wenn sie von „Unterstützung für Putins Invasion der Ukraine“ schreibt? Die Rechtfertigung der geopolitischen Ambitionen Russlands oder das Leugnen oder gar Feiern bestialischer Kriegsverbrechen? Ersteres kann eine Meinung sein, die wir aushalten müssen, so schwer das auch manchmal fällt. Zweiteres ist im „besseren“ Fall Lüge und im schlimmeren Fall Hetze. Das hat in einer kultivierten Debatte nichts zu suchen, und es ist gut, dass es eine juristische Handhabe gibt, dagegen vorzugehen.

Die Selbstheilungskräfte der Gemeinschaft

Denn ich glaube, die Büchse der Pandora geht genau dann auf, wenn wir Meinungsfreiheit verwechseln mit der Freiheit, Lügen und Hassrede zu verbreiten. Wo Petra Hůlová hier die Grenze zum nicht mehr Tolerierbaren sieht, geht aus ihrem Text nicht hervor. Genauso unkonkret bleibt sie leider auch, wenn sie andere Phänomene der sozialen Medien kritisiert, die unter (oder über?) dem Radar der Gesetzgebung stattfinden. Was ihre Argumentation noch schlimmer macht, sind Rückgriffe auf eine Rhetorik, die wir in den vergangenen Jahren eher vom „alten, weißen Mann“ (als soziale Kategorie) kennen. Nur ein Beispiel:

Ebenso glatt wie die Angst vor Covid in die Angst vor dem Krieg überging, führte die Autozensur […] in das Scherbengericht der cancel culture, beziehungsweise in das Diktat des Schutzes vor unzulässigen Beleidigungen und der Verspottung von Minderheiten.

Ach je… jetzt wird uns auch noch „diktiert“, dass wir nicht einfach wild um uns beleidigen und Minderheiten verspotten dürfen, oder was?! Zum Glück wird diskriminierendes Verhalten gesellschaftlich geächtet, und es sind (auch) soziale Netzwerke, die den davon Betroffenen eine Stimme gegeben haben, um Empathie für ihre Situation zu erzeugen. Das mit dem Kampfbegriff von einer angeblichen cancel culture zu verunglimpfen, ist lediglich der Versuch, Täter-Opfer-Rollen zu vertauschen. Denn die Reihenfolge ist diese: 1. Jemand erkennt diskriminierendes Verhalten und kritisiert das. 2. Die Kritisierten müssen die Konsequenzen für ihr Verhalten tragen. 3. Andere werden sensibilisiert für diskriminierendes Verhalten und versuchen es zu vermeiden.

So funktionieren die Selbstheilungskräfte der Gemeinschaft, ein gesellschaftliches Korrektiv, das zersetzendes Verhalten ahndet. Dies für eine Bedrohung der Meinungsfreiheit zu halten, ist absurd.

Ich hoffe immer noch, dass ich einem fürchterlichen Missverständnis aufsitze, aber ich sehe in Petra Hůlovás emotivem Artikel nicht mehr als ein auf die Computertastatur gebrülltes Pamphlet, das derselben Logik folgt wie das Phänomen, das sie kritisiert: unser mangelndes Management der Leidenschaften. Wenn es ihr darum ging, ihre Leser*innen zu triggern, muss ich gratulieren. Denn mehr noch als der Inhalt ihrer Überlegungen, ist es Form und Stil ihres Textes, der mich geradezu nötigte, ihn nicht unwidersprochen zu lassen.

Menschen wollen sich vernetzen

Zugute halten muss man der Autorin, dass sie Teil einer hochaktuellen Debatte ist. Sie schrieb ihren Text noch bevor Elon Musk seine Kaufabsicht für Twitter bekannt machte. In der Debatte über Redefreiheit, die seitdem entbrannt ist, bringt uns Petra Hůlovás Polemik aber leider nicht ein Stück näher zur Antwort auf die Frage: Wie können wir Redefreiheit ermöglichen und gleichzeitig Hass und Desinformation verhindern?

Nicht nur ist die angedeutete Utopie vom Abschalten der sozialen Netzwerke kaum vorstellbar ohne einen Eingriff „von oben“: Zensur mit dem Rasenmäher!? Abschalten ist außerdem die denkbar faulste „Vision“, um dem noch ungelösten Problem beizukommen. Ein Self-Empowerment der Nutzer*innen, eine Eroberung der Algorithmen, das mag ähnlich naiv klingen, aber ich halte sie für die ungleich sympathischere Vision – egal ob der „digitale Dorfplatz“ dann Facebook, Twitter oder wie auch immer heißt. Es gibt bereits andere Utopien von gemeinnützigen digitalen Plattformen, die sicher ihre Schwächen haben, aber die zumindest nicht das offensichtliche Bedürfnis der Menschheit ignorieren, sich überregional, kontinental, global zu vernetzen. Und wer möchte die Vorteile bestreiten, die diese Vernetzung uns bereits gebracht hat?

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