Die Algorithmen der sozialen Netzwerke schütten Emotionen über die Nutzer*innen aus, die viele überfordern. Wie man darauf reagiert, hat aber jede*r Einzelne selbst zu verantworten. Der Vorwurf von einer Einschränkung der Meinungspluralität durch ein vermeintliches Mainstream-Narrativ ist absurd, findet JÁDU-Chefredakteur Patrick Hamouz.
Dieser Kommentar reagiert auf den Artikel Eine Sackgasse wie das Luftschiff oder die Minidisk, in dem Petra Hůlová soziale Netzwerke als Schuldige für den Zustand der öffentlichen Debatte verantwortlich macht.
Sicher kann es schwierig sein, sich den Provokationen zu erwehren, die die Algorithmen der sozialen Netzwerke manchmal über ihre Nutzer*innen ausschütten. Niemand aber schreibt diesen – also uns – vor, dass sie sich deshalb gegenseitig mit Hassrede überziehen müssen. Auch eine unlautere Geschäftspraxis, mit der uns im Social media feed gezielt digitale Trigger untergejubelt werden, entzieht Einzelne nicht der Verantwortung, wie sie darauf reagieren. Wer dabei Gesetze bricht, muss eben mit juristischen Konsequenzen rechnen. Das ist auf dem Dorfplatz so. Warum sollte es im Internet anders sein? Im tschechischen Strafrecht gibt es dafür unter anderem den von Petra Hůlová erwähnten Paragrafen 405 zur Leugnung und Rechtfertigung von Völkermord. Der ist aber nicht erst für Unterstützer des russischen Angriffskrieges gemacht worden.
Lügen und Hetze sind keine Meinung
Petra Hůlová schreibt aber in diesem Zusammenhang von einem „Trend, der andere Meinungen disqualifiziert“, und zieht eine ungeheuerliche Parallele zwischen einem demokratischen Rechtsstaat wie der Tschechischen Republik und dem totalitären Russland:Auf seine Weise spiegelt er [der Trend] das wider, wovon er deklariert, sich distanzieren zu wollen: von den Zuständen in Putins unfreiem Russland, wo es wiederum gegen das Gesetz ist, das zu behaupten, was man über den Krieg in der Ukraine bei uns sagt.
Die Selbstheilungskräfte der Gemeinschaft
Denn ich glaube, die Büchse der Pandora geht genau dann auf, wenn wir Meinungsfreiheit verwechseln mit der Freiheit, Lügen und Hassrede zu verbreiten. Wo Petra Hůlová hier die Grenze zum nicht mehr Tolerierbaren sieht, geht aus ihrem Text nicht hervor. Genauso unkonkret bleibt sie leider auch, wenn sie andere Phänomene der sozialen Medien kritisiert, die unter (oder über?) dem Radar der Gesetzgebung stattfinden. Was ihre Argumentation noch schlimmer macht, sind Rückgriffe auf eine Rhetorik, die wir in den vergangenen Jahren eher vom „alten, weißen Mann“ (als soziale Kategorie) kennen. Nur ein Beispiel:Ebenso glatt wie die Angst vor Covid in die Angst vor dem Krieg überging, führte die Autozensur […] in das Scherbengericht der cancel culture, beziehungsweise in das Diktat des Schutzes vor unzulässigen Beleidigungen und der Verspottung von Minderheiten.
So funktionieren die Selbstheilungskräfte der Gemeinschaft, ein gesellschaftliches Korrektiv, das zersetzendes Verhalten ahndet. Dies für eine Bedrohung der Meinungsfreiheit zu halten, ist absurd.
Ich hoffe immer noch, dass ich einem fürchterlichen Missverständnis aufsitze, aber ich sehe in Petra Hůlovás emotivem Artikel nicht mehr als ein auf die Computertastatur gebrülltes Pamphlet, das derselben Logik folgt wie das Phänomen, das sie kritisiert: unser mangelndes Management der Leidenschaften. Wenn es ihr darum ging, ihre Leser*innen zu triggern, muss ich gratulieren. Denn mehr noch als der Inhalt ihrer Überlegungen, ist es Form und Stil ihres Textes, der mich geradezu nötigte, ihn nicht unwidersprochen zu lassen.
Menschen wollen sich vernetzen
Zugute halten muss man der Autorin, dass sie Teil einer hochaktuellen Debatte ist. Sie schrieb ihren Text noch bevor Elon Musk seine Kaufabsicht für Twitter bekannt machte. In der Debatte über Redefreiheit, die seitdem entbrannt ist, bringt uns Petra Hůlovás Polemik aber leider nicht ein Stück näher zur Antwort auf die Frage: Wie können wir Redefreiheit ermöglichen und gleichzeitig Hass und Desinformation verhindern?Nicht nur ist die angedeutete Utopie vom Abschalten der sozialen Netzwerke kaum vorstellbar ohne einen Eingriff „von oben“: Zensur mit dem Rasenmäher!? Abschalten ist außerdem die denkbar faulste „Vision“, um dem noch ungelösten Problem beizukommen. Ein Self-Empowerment der Nutzer*innen, eine Eroberung der Algorithmen, das mag ähnlich naiv klingen, aber ich halte sie für die ungleich sympathischere Vision – egal ob der „digitale Dorfplatz“ dann Facebook, Twitter oder wie auch immer heißt. Es gibt bereits andere Utopien von gemeinnützigen digitalen Plattformen, die sicher ihre Schwächen haben, aber die zumindest nicht das offensichtliche Bedürfnis der Menschheit ignorieren, sich überregional, kontinental, global zu vernetzen. Und wer möchte die Vorteile bestreiten, die diese Vernetzung uns bereits gebracht hat?
Mai 2022