Nature writing  „Wir machen keine überschätzten Tiere“

„Wir machen keine überschätzten Tiere“ Illustration: Falk Nordmann | © Matthes & Seitz Berlin

Am Anfang waren die Krähen: Vor acht Jahren startete der Berliner Verlag Matthes & Seitz die Reihe „Naturkunden“ – die Resonanz war überwältigend, der Erfolg hält bis heute an.

Um Andreas Rötzer zu finden, muss man genau hinschauen. Der Verlagsleiter von Matthes & Seitz sitzt an seinem Schreibtisch in einer ruhigen Seitenstraße des Berliner Stadtteils Prenzlauer Berg zwischen Bücherstapeln, die jeden Moment umzukippen drohen und trotzdem eine eigentümliche Ruhe ausstrahlen. Dabei tummelt sich zwischen den Buchdeckeln der hauseigenen Publikationen allerlei Getier – aber natürlich nur im übertragenen Sinne: Seit 2013 publiziert Rötzer zusammen mit der Schriftstellerin Judith Schalansky in der Reihe Naturkunden Texte von Autor*innen und Essayist*innen über die Flora und Fauna, die uns umgibt.

Mal handelt es sich dabei um Porträts von Heringen oder Brennnesseln, mal geht es um die Sprache der Vögel, das Leben der Bakterien oder die Geschichte alter Bäume. Doch alles begann mit einem Tier, das in Großstädten omnipräsent ist und sich dort nicht nur Freunde macht: Der Krähe. „Ich hatte einen Artikel von Cord Riechelmann in Zeitung gelesen, in dem Krähen eine zentrale Rolle spielten und habe gespürt, dass dieses Thema noch mehr Potential hat“, erzählt Rötzer. So wurde Riechelmanns Porträt über die raubeinigen Vögel zum ersten Titel der Reihe – und ist bis heute das am häufigsten verkaufte. Den Namen Naturkunden steuerte damals Judith Schalansky bei, die, laut Rötzer, auch ein „besonderes Händchen für die Gestaltung der Bücher“ hat. Alle sind hochwertig ausgestattet, mit Lesebändchen, Leinencover und Farbschnitt.
Nur eine kleine Auswahl aus den bislang 83 Büchern der Reihe „Naturkunden“. Nur eine kleine Auswahl aus den bislang 83 Büchern der Reihe „Naturkunden“. | Illustrationen: Falk Nordmann | © Matthes & Seitz Berlin

„New nature writing“

Doch natürlich sind es auch die Inhalte, die zählen. Und mit denen hat der Verlag 2013 genau den richtigen Zeitpunkt erwischt: Damals sprachen vor allem im anglo-amerikanischen Raum alle über das „New nature writing“. Autor*innen schrieben vermehrt über die belebte und unbelebte Natur als Gegensatz zur menschlich geprägten Kultur; allerdings in den meisten Fällen nicht romantisch-verklärend, sondern mit soziologisch-ethnologischem oder philosophischem Blick. Wie verorte ich mich als Mensch in der Welt? Was fühle ich, wenn ich mich intensiv mit der Sphäre der Natur auseinandersetze?

„Als wir die Reihe gründeten wusste ich ehrlich gesagt gar nicht, dass es ‚nature writing‘ als Genre gibt“, erzählt Rötzer. Seit 2010 gab er bereits die Erinnerungen eines Insektenforschers des französischen Entomologen Jean-Henri Fabre heraus, insgesamt 4.000 Seiten in zehn Bänden. Was man unter nature writing verstehe, habe sich in den letzten Jahren außerdem stark verändert, ist er überzeugt; mittlerweile gebe es weniger politische Texte, die vom Zustand der Zerstörung her gedacht sind, und häufiger ästhetische Erkundungen der meist heilen Natur. „Es geht in der heutigen Literatur auch darum, die Natur von unserem Blick zu entkolonialisieren und sie als Gegenüber auf Augenhöhe zu betrachten.“ Publiziert werden sowohl Texte deutscher Autor*innen als auch Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen oder Russischen; hinzu kommen Klassiker des nature writing unter anderem von John Muir, Annie Dillard oder Nan Shepherd.

Keine Pferde, Hunde oder Katzen

Die Resonanz auf die Reihe sei überwältigend gewesen, erinnert sich Rötzer; der Umsatz des Verlags habe sich im ersten Jahr fast verdoppelt. Ungefähr zehn neue Titel erscheinen seitdem pro Jahr, insgesamt umfasst die Reihe Naturkunden bereits 83. Längst sind andere Verlage auf den Zug aufgesprungen, die Anzahl an Büchern, die sich mit Tieren oder Pflanzen beschäftigen, steigt stetig an. Autoren wie der Förster Peter Wohlleben gehören mittlerweile zu den Stars der Szene; von ihm gibt es zahlreiche Sachbücher, Dokumentationen und sogar eine eigene Zeitschrift rund um den Wald – allerdings den romantisierten, anthropomorphisierten deutschen Mischwald.

Bei Matthes & Seitz widmet man sich dagegen mit Vorliebe auch abseitigeren Themen. „Wir machen keine überschätzten Tiere, nur unterschätzte“, lautet ein nicht ganz ernst gemeintes Bonmot von Herausgeberin Judith Schalansky. Bücher über Pferde, Hunde oder Katzen wird man im Verlagsprogramm deshalb vergeblich suchen, dafür auf Kröten, Käfer und Eidechsen stoßen. 2019 erschien ein Buch über Schleim, welches nach Großbritannien verkauft wurde und demnächst sogar als Grundlage für eine BBC-Serie dient.

Doch begegnet man durchaus auch Eseln, Schafen, Schmetterlingen – und in der kommenden Saison Igeln, Quallen und Mineralien. „Es gibt kein Buch, das wir eigentlich machen wollen und es uns dann doch verkneifen“, betont Rötzer. So ermöglicht die Naturkunden-Reihe den Leser*innen, die Tier- und Pflanzenwelt mit frischem Blick zu erkunden und dennoch nicht von wissenschaftlichen Fachbegriffen verschüttet zu werden – das kommt offensichtlich gut an.

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