KI-Musik  Die scheinbare Originalität

UAE concert 2020 Foto: © Sharjah Art Foundation

Die Versuche von Wissenschaftler*innen, die kreativen Grenzen der KI-Technologie auszutesten, stellt die Welt der Musik vor eine Herausforderung. Goetz Richter, Professor am Konservatorium der Universität Sydney, bezieht Position zu Musik, künstlicher Intelligenz und Bewusstsein.

Musik bleibt geheimnisvoll. Scheinbar nutzlos und spielerisch, zieht sie unsere Aufmerksamkeit auf sich. Scheinbar nicht greifbar, ist sie auf unseren Geräten stets zur Hand. Musik verzaubert uns mit ihrer Vergänglichkeit und berührt uns in ihrer Unmittelbarkeit. Wir spüren die Stimulationen von Ton und Rhythmus in unserem Innersten. Wir reagieren mit Geist und Seele auf Klangformen, verzückende Rhythmen, mitreißende Harmonien und unvergessliche Melodien. Und dennoch können wir ihren Aufenthaltsort nicht mit Sicherheit bestimmen, können uns ihre Macht und Entstehung nicht erklären.
 
Ist Musik ein Ausdruck grundlegender menschlicher Bedürfnisse, Instinkte oder Sehnsüchte, der sprachlichem Ausdruck vorausgeht, oder ist sie eine Übersetzung unserer verzweifeltsten Versuche, das Wahre, Schöne und Gute jenseits des Begrifflichen zu erfassen? Verbindet uns Musik mit unseren geheimnisvollsten Grundfesten oder offenbart sie die höchsten Möglichkeiten des Bewusstseins?
 
Egal, wie wir auf das Geheimnis der Musik antworten, Fortschritte der algorithmischen Verarbeitung und künstlichen Intelligenz fordern Musik heraus und konfrontieren Musiker*innen. Derartige Fortschritte sind menschengemacht. Durch sie hoffen wir, menschliche Kreativität selbst zu verstehen und voranzutreiben. Künstliche Intelligenz entspringt einem prometheischen und faustischen Streben. Der Mensch sucht sich selbst zu transzendieren, indem er seine eigenen Möglichkeiten bestimmt und zu verstehen sucht.

Roboter Trompeter Concero, eine Band, die aus Toyota-Robotern besteht, spielt auf der Weltausstellung 2005 | © Jeremy Sutton-Hibbert / Alamy Stock Photo

KI lässt zu wünschen übrig

Die Möglichkeit, dass algorithmische Systeme, autonome neuronale Netzwerke oder selbstlernende Maschinen menschliche Schöpfungskraft erreichen – oder sogar übertreffen könnten, ist sowohl aufregend als auch besorgniserregend: Wird künstliche Intelligenz irgendwann ein wahrhaft geniales musikalisches Werk komponieren? Die Antwort hängt nicht nur von unserem derzeitigen - oder zukünftigem Stand der Technik ab, sondern auch von unserer Anschauung der ontologischen Bestimmungen von Musik und ihrer Beziehung zum Bewusstsein. An diesem Punkt dürfte KI zumindest in ihrer aktuellen Form durchaus zu wünschen übrig lassen und der menschlichen Schöpfungskraft ihre höchsten Eigenschaften und Erfordernisse darlegen.
 
Musik zu schaffen mag intellektuell abstrakt sein, legt jedoch Formen des Seins offen und projiziert Weisen des Bewusstseins. Eine Komposition ist ein Wegweiser, eine Anweisung zu einer intentionalen Aktivität von Interpret*in und Hörer*in. Eine Partitur legt Möglichkeiten nahe; sie ist ein Rätsel für unsere Intentionalität – gestaltet, um ein überwältigendes Klangereignis zu schaffen. Solches Ereignis ist in sich selbst etwas Bestimmtes, ein Phoenix, der im Augenblick zugrunde geht und sich mit jeder Aufführung in seiner unendlich unterschiedlichen und neuen, besonderen Einzigkeit selbst erneuert.
 
Eines der großen Missverständnisse moderner Kultur gibt vor, dass Kompositionen nichts als formale Strukturen seien, Blaupausen für musikalische Darbietungen, die von Interpret*innen lediglich für den Konsum der Hörer*innen umgesetzt werden. Die Ontologie und Zeitlichkeit von Musik machen diese Anschauung jedoch unauthentisch. Die musikalische Darbietung selbst verfügt über Autonomie und Unabhängigkeit. Diese wird durch Interpretation verwirklicht, eine Suche nach Sinn, die stets eine Reflexion des bewussten Lebens des/der Interpret*in ist.
 
Der schöpferische Prozess in der Musik entfaltet sich im Wesentlichen innerhalb eines einzigartigen Kontexts: Eine Komposition wird als Herausforderung und Rätsel für bewusstes Interpretieren und Hören geschaffen. Die Aufführung eines Werks ist ein persönliches Dokument dieser Suche und nicht nur die Abbildung eines unabhängigen Objekts. Eine vom Markt gesteuerte Kultur verzerrt in ihrem Fokus auf handelbare Güter diese authentische Auffassung von Musik als Kunstform.
 
In dieser Sichtweise wird Musik zunehmend zu nichts als einer Montage von angenehmen, exotischen oder faszinierenden Objekten, die auf vielerlei Weise für den Konsum geschaffen und sogar massenproduziert werden kann. Es versteht sich von selbst, dass KI in einem solchen Kontext viel größere Anwendung findet. Wir sehen dies im Bereich der populären Musik, wo algorithmische Systeme auf Streaming-Servern bereits Musikproduktion und Packaging übernehmen.

Alter 3 Komponist Alter 3 Roboter dirigiert Keiichiro Shibuyas Androidenoper „Scary Beauty“. | Photo credit: Sharjah Art Foundation

Überzeugende Fälschungen

KI-Systeme sind selbst in der Musik zu beachtlichen, quantitativen analytischen Leistungen fähig. Computer werden bereits seit einiger Zeit zum Komponieren von Musik eingesetzt. So hat beispielsweise der Komponist und Wissenschaftler David Cope Werke geschaffen, die mithilfe einer computergestützten Analyse von Merkmalen ihrer Kompositionen wie Vivaldi, Bach oder Chopin klingen. Diese Bemühungen sind so beeindruckend, dass von Computern geschaffene Werke selbst ein Fachpublikum im Hinblick auf die Autorenschaft eines musikalischen Werks täuschen können. Aber so beeindruckend dies auch sein mag, wir sollten nicht vergessen, dass Copes Computer im Wesentlichen analytische und nachahmende Aufgaben ausführten – sie schufen überzeugende Fälschungen.
In jüngerer Zeit hat sich Cope der Schaffung eines Computersystems zugewandt, das anstrebt, zu wahrhaft schöpferischer Komposition fähig zu sein.
 
Wahres musikalische Schaffen jedoch müsste den genialen Komponist*innen ebenbürtig sein, die neue und fesselnde musikalische Ausdrucksformen finden und eine einzigartige Stimme und Stil entwickeln. Egal, wie clever die von Emily Howell (Copes neuestem Computerprogramm) produzierten Kombinationen und Kompositionen auch sein mögen, sie bleiben im Grunde von menschlichen Programmierer*innen abhängig, die einem KI-System beibringen, durch Analyse voranzukommen. In jedem Fall wird Musik als Keim eines interpretativen Dialogs geschaffen – selbst wenn wir zum Komponieren Computer einsetzen.
 
Viel beachtete Errungenschaften von KI-Systemen, wie etwa die kürzliche Fertigstellung von Schuberts Unvollendeter (ein PR-Gag des Telekommunikationsunternehmens Huawei) oder die Zusammenstellung von Skizzen von Beethovens 10. Symphonie zu einem Werk, stellen keine Ausnahmen dar. Sie bauen auf menschliche Anweisung, Auswahl und Lenkung, was das endgültige Werk betrifft, das erst durch die Person, die die endgültige Zusammenstellung auswählt, zu dem wird, was es ist.
Das System schafft durch analytische Verarbeitung lediglich Möglichkeiten. Es abstrahiert Familienähnlichkeiten aus einem Satz vorgegebener Beispiele – eine quantitativ aufwendige Aufgabe, die jedoch in ihrem Beitrag zur Kreativität sehr beschränkt ist, weil sie Musik auf musikalisches Material reduziert und kreative Möglichkeiten, wenn überhaupt, eher einschränkt.
 
Ein schöpferischer Vorgang, der Eigenschaften aus einem vorgegebenen Satz bereits bestehender Werke abstrahiert, ist etwas vollkommen anderes als einer, der solche Werke überhaupt erst schafft. Das ist der Punkt, an dem KI Schwierigkeiten hat, in der Musik eine Ebene echter Kreativität zu erreichen, da sie kein Verständnis der Bedeutung von Geheimnis hat.
 
Selbstverständlich sind die technologischen Möglichkeiten ohne weiteres dazu in der Lage, vorhandenes musikalisches Material auszuwählen, zu sortieren, wiederholt zu sortieren, zu bearbeiten, nachzubilden und nachzukomponieren und so auf kombinatorischer oder neugieriger Ebene den Anschein von Originalität und grundsätzlicher Schöpfungskraft zu erwecken. Das Schaffen neuer, wahrhaft schöpferischer Musik im künstlerischen Sinne jedoch scheint derzeit vollständig außerhalb der Möglichkeiten von algorithmischen Systemen zu liegen, und mit gutem Grund.

Intentionalität und Intuition

Musikalische Kreativität benötigt Bewusstsein als Grundlage für Intentionalität und Intuition. Sie erfordert soziale und kollaborative Aufmerksamkeit und die Verwandlung der Fantasie durch gelebte Erfahrung – eine unverzichtbare Quelle künstlerischer Kreativität. Musik und musikalische Kreativität entstehen durch existenzielle Erfahrung, die erst die künstlerische Fantasie entfacht.

  Goetz Richter © Goetz Richter
Das Geheimnis der Musik, die Faszination des Hörens und die Neugier, einen Sinn zu finden, sind – richtig verstanden – nicht das Ergebnis einer analytischen Reaktion auf abstrakte Strukturen. Sie erwachsen aus einer Projektion von Möglichkeiten, die unser Bewusstsein und unsere Aufmerksamkeit über klingende, sich bewegende Form und unmittelbaren sinnlichen Genuss hinaus erweitern.
 
Künstlerisch anspruchsvolle Musik legt immer nahe, dass es um mehr geht als nur das, was wir hören. Komponist*innen könnten dieses Gefühl einer Offenheit des musikalischen Hörens nie durch die Analyse oder Manipulation von Material allein erzielen.
 
Musik reicht über das Gegebene hinaus in das Reich der Möglichkeiten und der Intentionalität. Musik fordert Interpret*innen wie Hörer*innen dazu auf, sich auf eine Suche über das Hörbare hinaus zu begeben. Das erfordert nicht nur Intelligenz – es erfordert ein Augenmerk für die unendlichen Möglichkeiten unserer Aufmerksamkeit und unseres Bewusstseins.
 
Algorithmische Systeme mögen analytische Intelligenz aufweisen; sie sind jedoch auch weiterhin weit entfernt von selbst einfachsten Möglichkeiten menschlichen Bewusstseins wie etwa spontaner   Aufmerksamkeit oder empathischer Intention. Deshalb sind sie auch weit entfernt davon, Musik von wahrhaft künstlerischer Bedeutung zu schaffen. 

Dieser Artikel ist ein Teil von Kulturtechniken 4.0, einem Webprojekt des Goethe-Instituts in Australien, das sich mit dem Zusammenspiel von künstlicher Intelligenz und traditionellen Kulturtechniken befasst. 

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