Menschen, die an Hypochondrie leiden, haben es in Zeiten der Pandemie besonders schwer. Doch einige von ihnen fühlen sich zum ersten Mal weniger allein mit ihrer Krankheit.
Dass Joe nicht das Haus verlässt, liegt nur bedingt an dem von der Politik angeordneten Lockdown. „Im Januar hörte ich zum ersten Mal vom Coronavirus, schluckte meine Angst aber runter, weil ich weiß, dass ich Sachen übertreibe“, sagt Joe. Zu dem Zeitpunkt wurde auch seitens der Politik das Virus noch nicht ernstgenommen – erst ab Anfang März kamen die Absagen von Großveranstaltungen in Deutschland. „Schlimm wurde es, als es hieß, dass sich alle isolieren müssen. Ich war dann einmal einkaufen. Als ich im Laden Menschen mit Handschuhen und Mundschutz sah, bekam ich Herzrasen und Schweißausbrüche und das Gefühl, sofort raus zu müssen.“Joe, heute 20, leidet seit der Kindheit an Hypochondrie und damit verbunden an Panikattacken und Angststörungen. Dies verbesserte sich in den letzten Jahren zwar, trotzdem hat they – Joe bevorzugt die geschlechtsneutralen englischen Pronomen they, them, their – die Corona-Pandemie aus der Bahn geworfen. Für Menschen wie Joe, die krankhafte Angst vor Keimen, Bakterien und Krankheiten haben, ist die Krise eine besondere Belastung.
„Die Angst, an einer bestimmten Krankheit zu leiden oder demnächst erkranken zu können“, wie die psychologische Psychotherapeutin Dr. Heike Winter aus Offenbach eine Hypochondrische Störung beschreibt, sei die eine Seite. Dass Betroffene sich auch durch gegenteilige medizinische Diagnosen nicht von ihrer Überzeugung abbringen lassen, führt bei vielen zu einem chronischen Angstzustand, der psychotherapeutisch behandelt werden sollte.
Selbstkonfrontation hilft
Aber nicht nur Hypochonder*innen, auch Personen, die unter Mysophobie (von altgriechisch μύσος / músos: Unreinheit) leiden, sind während der Pandemie besonders großen Ängsten ausgesetzt. Mysophobe Menschen fürchten sich vor Schmutz und Keimen. „Diese Erkrankung ist gekennzeichnet durch exzessive Angst vor dem Kontakt mit anderen Menschen, weil die Betroffenen befürchten, sich anzustecken“, so Winter. „Kann der Kontakt – etwa beim Einkaufen – nicht vermieden werden, erleben Betroffene starke Ängste, die sich mitunter auch lange nach dem gefürchteten Ereignis hinziehen. Das führt zu starkem Rückzug und sozialer Isolation.“Joes Hypochondrische Störung wurde durch ein konkretes Ereignis in der Kindheit ausgelöst: „Als ich acht war, wurde bei meinem Vater Krebs diagnostiziert. Eine Fehldiagnose, wie sich später zum Glück herausstellte“, erinnert they sich zurück. „Damals hatte ich meine erste Panikattacke, die in meiner Kindheit häufig auftraten, in den letzten Jahren aber weniger wurden. Ich hatte Angst vor Keimen und Bakterien und davor, mich nach dem Essen zu erbrechen. Das äußerte sich auch darin, dass ich manchmal tagelang nichts zu mir nahm.“
Durch eine fünfjährige Psychotherapie, vor allem aber durch Selbstkonfrontation hat Joe die Hypochondrie halbwegs in den Griff bekommen. So erinnert Joe sich, in der Kindheit jeden Löffel vor dem Benutzen penibel auf mögliche Verunreinigungen hin untersucht zu haben. Dieses Bedürfnis habe they heute nicht mehr. „Geholfen hat, mich den Ängsten direkt auszusetzen, zum Beispiel auf Wandertouren bewusst von dreckigem Geschirr zu essen oder bei Kumpels die Teller nicht vorher nochmal zu spülen.“
Beruhigend sei außer der Konfrontation mit der eigenen Angst auch das Wissen um die mangelnde Widerstandsfähigkeit bestimmter Keime gegen Hitze gewesen, sagt Joe. Inzwischen hat they auch gelernt, mit den Panikattacken umzugehen – wie zuletzt im Supermarkt. „Ich kann die körperliche Panik von der geistigen trennen, also ruhig bleiben, selbst wenn mein Körper am Zittern ist.“
Resilienz möglich
Einige Menschen, die unter Hypochondrie leiden, können sich der Corona-Krise erstaunlich gut anpassen. „Tatsächlich beobachten wir das Phänomen, dass sich Patienten mit einer Angststörung nun in guter Gesellschaft fühlen, weil alle Angst haben“, so Heike Winter. „Und auch Menschen, die unter depressiven Symptomen leiden, können das Gefühl haben, weniger aufzufallen und weniger gegen die gesellschaftliche Norm der ständigen Leistungsbereitschaft zu verstoßen, wenn alle zu Hause bleiben. Das verschafft den Eindruck von Normalität. Es kann also der Eindruck entstehen, so zu sein, wie alle anderen auch.“ Ob das wirklich resilient – also psychisch widerstandsfähig – macht, bleibe aber abzuwarten. Genauso wenig sei klar, ob es während der Coronakrise ein gehäuftes Auftreten Hypochondrischer Störungen gibt. Dr. Winter ist vorsichtig mit Prognosen. „Der klinische Eindruck in der Arbeit mit Patientinnen und Patienten sieht so aus, dass sich die Krise auf alle auswirkt – bei Menschen, die psychisch vorbelastet sind, besonders stark.“Und was können von Angststörungen Betroffene in der Corona-Krise tun? Dr. Heike Winter empfiehlt einen Blick auf die Website der Psychotherapeutenkammer Hessen, deren Präsidentin sie ist. Dort gibt es viele Texte, Tipps und Selbsthilfe-Materialien, die speziell für die gegenwärtige Situation zusammengestellt wurden. Auch Joe hat sich genau informiert, um mit Corona umgehen zu können, zudem stützt der WG-Zusammenhalt. „Mir hat geholfen zu wissen, wie lange der Virus auf welchen Oberflächen überleben kann. Und ich empfinde Händewaschen als unglaublich angenehm, weil ich weiß, dass Seife den Virus tötet.“ Ein Wissen, das Joe etwas hilft – auch wenn they weiterhin die Wohnung so selten wie möglich verlässt.
Heike Winter rät allen Menschen, nicht nur denen, die an Hypochondrie oder Mysophobie leiden, sich möglichst nicht verrückt zu machen und nicht mit denkbaren katastrophalen Folgen der Krise zu beschäftigen. „Aber das sagt sich natürlich leicht. Für manche ist die Bedrohung so real, dass es wirklich schwerfällt, sich zu beruhigen und Mut zu machen. Insgesamt ist es hilfreich, negativen Gedanken nicht zu viel Raum zu geben und negative Gefühle als das zu erkennen, was sie sind: Gefühle und nicht die Wahrheit.“
Mai 2020