Eigentlich sollte es ein ganz normales Auslandsjahr werden: An der Uni neue Leute kennen lernen, die frischen Türkisch-Vokabeln ausprobieren, am Wochenende Stadt und Land erkunden. Lorenz Böttcher (22) ist seit September 2019 mit dem Programm Erasmus+ an der Universität Istanbul eingeschrieben. Er hatte eine WG gefunden, sich umfassend vorbereitet und informiert – aber dann spitzte sich zuerst die Lage an der griechisch-türkischen Grenze zu und kurz danach auch die epidemische Situation. Lorenz’ Leben in der Türkei hat das ganz schön durcheinander gewirbelt.
Ende Februar kündigte der türkische Präsident Erdoğan an, die Türkei würde Geflüchteten, die in die EU reisen wollen, nicht im Weg stehen. Griechenland reagierte mit der Abriegelung der eigenen Grenze. Niemand sollte mehr ins Land kommen. Gleichzeitig machten sich jedoch Tausende auf dem Weg genau dorthin, Berichten zufolge wurden die Menschen von türkischen Behörden teilweise aktiv in die Grenzregion gekarrt. Im März kam es zu massiver Gewalt gegen Flüchtlinge. Die griechischen Behörden setzten Tränengas ein, verweigerten Ankömmlingen ihr Recht, einen Asylantrag zu stellen, und schickten sie zurück in die Türkei.Von Sachsen nach Karaağaç
Lorenz Böttcher saß derweil in Istanbul, knapp 250 Kilometer vom Geschehen entfernt, und fühlte sich ohnmächtig. Als Jura-Student hatte er schon in Berlin an der dortigen Refugee Law Clinic ein Training zum Rechtsberater absolviert und sich in der Organisation weiter engagiert. Lorenz stammt ursprünglich aus Heidenau bei Dresden. Durch die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 und die damit einhergehenden Entwicklungen in Sachsen – den Aufstieg der AfD, die bei der Bundestagswahl 2017 in Sachsen stärkste Partei wurde, die vielen Angriffe auf Flüchtlingsheime, auch die fremdenfeindlichen Ausschreitungen 2015 in Heidenau – war er also geprägt: „Von Anfang an waren Geflüchtete in meiner Welt mit starkem Widerstand aus der Bevölkerung verbunden – und daher auch mit der Notwendigkeit, sich für ihre humane und gerechte Behandlung einzusetzen.“Einen richtigen Plan gab es nicht, als Lorenz am 11 März mit zwei jungen Frauen, die ebenfalls helfen wollten, nach Karaağaç aufbrach. Das Dorf ist ein Vorort von Edirne im Dreiländereck Türkei – Griechenland – Bulgarien. Näher an die Grenze würden sie es nicht schaffen. In einer Nacht- und Nebelaktion kundschafteten sie die Gegend aus, dann fuhren sie mit ihrem Mietwagen einfach an einer Straßenkontrolle vorbei. Im Rückspiegel sahen sie noch Blaulicht, dann erreichten sie schnell genug die Stadt und gingen im Verkehr unter. Die erste Nacht schliefen sie im Auto, später spendierte ihnen ein freundlicher Fremder ein Hotelzimmer.
In Karaağaç trafen sie schnell auf die ersten Geflüchteten, die in langen Schlangen vor dem Discounter anstanden oder in kleinen, beheizten Cafés ihre Handys aufluden. Bei ihrem Anblick konnte man schon mit einem schlechten Gewissen an die warme Dusche vom Vorabend zurückdenken. „Unterkühlt, hustend, die Kleidung voller Schlamm – man sah den Menschen an, dass sie gerade aus dem Dschungel kommen“, erinnert sich Lorenz. Der Dschungel, so nannte man das Flüchtlingscamp an der Grenze – versteckt vor der Gesellschaft. Von außen durften keine Unbefugten hinein, die Geflüchteten nur ein bis zweimal die Woche heraus. Und wenn sie dann durften, kamen sie nach Karaağaç.
Lorenz Böttcher (Skype) | Foto: © privat
Lager-Auflösung wegen Corona „Augenwischerei“
Von Spenden, die Lorenz und seine Mitstreiterinnen zuerst unter Freunden und Angehörigen und später auch über Social Media sammelten, kauften sie Hilfsgüter: Decken, Lebensmittel, Getränke, Medikamente, Kleidung und Hygieneprodukte. Diese verteilten sie im Dorf oder an der Straße zum Grenzübergang. „Im Camp war so etwas nicht zu bekommen. Überhaupt gab es von allem zu wenig oder nichts: Zu spät zu wenige Decken, keine Zelte, keine medizinische Versorgung, keine Möglichkeiten, sich zu waschen und ein paar Dixie-Klos für bis zu 20.000 Menschen. Überall musste man Schlange stehen. Und die kalte, nasse Jahreszeit machte alles noch schlimmer“, erzählt Lorenz. Von den Geflüchteten gab es Dank, von den Bewohnern der Stadt Respekt und Unterstützung. Der groß gewachsene Deutsche fiel schnell auf: Sichtlich Ausländer, aber kein Flüchtling. Das irritierte so manchen Einheimischen.Die Zeit in Karaağaç dauerte nur zwei Wochen. Mitte März sagte die EU der Türkei weitere Gelder für die „Flüchtlingsversorgung“ zu –und die Coronavirus-Pandemie erreichte auch die Türkei. Lorenz musste zurück nach Istanbul, seine Mitstreiterinnen zurück nach Deutschland. „In der Türkei war zu Beginn der Pandemie ein wenig der Gedanke verbreitet, Gott würde seine Hand schon schützend über die muslimische Welt halten“, erinnert sich Lorenz. „Und die Geflüchteten hatten ganz unmittelbare, größere Probleme als eine Krankheit, über die damals größtenteils noch spekuliert wurde.“
Aber dann wurden die notdürftig eingerichteten Camps Ende März teils gewaltsam aufgelöst und niedergebrannt, die Menschen über das gesamte Land verteilt. In früheren Lagern, Abschiebegefängnissen und Turnhallen steckte man sie in Zwangsquarantäne. „Dass das nur auf Corona zurückzuführen sei, wie immer wieder behauptet wurde, halte ich bis heute für Augenwischerei“, sagt Lorenz. „Die neuen Verhandlungen mit der EU waren schon abgeschlossen und die Menschen, die wie Schachfiguren an die Grenze verschoben worden waren, waren dort plötzlich überflüssig.“
Mitte März 2020 in Karaağaç, einem Vorort von Edirne an der türkisch-griechischen Grenze: Geflüchtete stehen in langen Schlangen vor dem Discounter an. | Foto: © Josoor
Zum Schreibtischtäter verdammt
Während manche seiner Kommiliton*innen ihr Auslandsjahr abgebrochen haben, versucht Lorenz trotzdem, so viel wie möglich zu tun. Die Pandemie-Vorkehrungen machen es nicht leicht. Die Türkei verhängte pauschale Ausgangsbeschränkungen für Menschen über 65 und unter 20 Jahren. Dazu kommen Ausgangsbeschränkungen am Wochenende und Reisebeschränkungen für Großstädte: Aus Istanbul kommt man nicht mehr heraus und auch nicht hinein. „Wir können gerade nur noch Leuten vor Ort in Istanbul helfen oder Menschen, in deren Locations wir Kontakte haben“, erklärt Lorenz. Dabei gäbe es so viel Bedarf, sagt er: „Wenn am Wochenende während einer Ausgangssperre Geflüchtete aus der Quarantäne an einer Landstraße abgesetzt werden, werden sie quasi obdachlos. Der Staat lässt sie dort einfach stehen. Und wenn sie es doch zum nächsten Busbahnhof schaffen, fahren dort wegen Corona keine Busse mehr. Sie kommen also nicht mehr in die Städte, in denen sie registriert sind, Familie haben und stranden mitten im Nirgendwo. Und wir können nicht hin, können nichts tun. Es ist schon scheiße.“Vor allem, wenn es um die Essensverteilung geht, macht das Lorenz zu schaffen: „Das kann man ja nicht verschieben, die sind darauf angewiesen.” Wann immer es geht, verteilt er zusammen mit der Common Sense Initiative Linsen, Getreide, Öl, Salz und Zucker – also Grundnahrungsmittel, die günstig und für viele Geflüchtete doch viel zu teuer sind. Dazu sammeln er und seine Mitstreiter Spenden, koordinieren mit Hilfe ihrer Kontakte aus der Zeit an der Grenze die Arbeit lokaler Organisationen, rühren die Werbetrommel für ihr Anliegen und teilen die Geschichten von Geflüchteten, die sie kennen lernen, auf dem Blog von Josoor, einer Organisation, die Lorenz auch bei der Sammlung von Spenden geholfen hatte.
Das Ärmelhochkrempeln wurde durch zahlreiche Videokonferenzen und Chats ersetzt. Lorenz hat viele neue Mitstreiter gefunden, aber allen setzt die neue Arbeitsweise zu: „Wir sehen uns eigentlich nicht als Schreibtischtäter“, meint Lorenz, „und der Wille, vor Ort zu helfen, ist, was uns zusammen gebracht hat. Auf der anderen Seite sind die von der Krise betroffenen Geflüchteten nun eben im ganzen Land verstreut, und wir können sie weder gemeinsam noch effizient unterstützen.“
Tränengas gegen Geflüchtete an der griechisch-türkischen Grenze | Foto: © Josoor
Hass im Netz, Schüsse an der Grenze
Der neue Online-Fokus kommt auch mit anderen Schattenseiten: „Nach einem Interview mit einem deutschen Fernsehsender bekam ich direkt meine erste Hassnachricht, als Privatnachricht auf Facebook: „Du linke Ratte!“ Bisweilen versuchte auch die griechische Presse, uns als Schleuser und Marionetten der türkischen Regierung darzustellen. Daraufhin gab es einen Shitstorm von Rechts auf Facebook und Youtube.“ Die Kommentare auf den eigenen Kanälen hat Josoor deshalb inzwischen teilweise deaktiviert. Auch unter einem Interview auf dem Youtube-Kanal von #funk, einem Netzwerk für digitalen Content von ARD und ZDF, gab es neben vielen positiven Kommentaren Hassnachrichten. Lorenz und Josoor konterten mit Rechtskunde zur Genfer Flüchtlingskonvention und den persönlichen Geschichten, die sie dokumentiert hatten.Von den eigenen Freunden zu Hause gibt es zwar viele Likes auf Facebook, und zwei reichweitenstarke Interviews hat Lorenz geben können. Ansonsten bleibt das große Interesse aber aus. Lorenz sieht es gelassen: „In den deutschen Medien bekommt man sehr wenig von den Geschehnissen in der Türkei mit, insofern war das für unsere Arbeit auch zu erwarten. Das Interesse von vielen Deutschen ohne Migrationshintergrund scheint an den europäischen Außengrenzen auch seine eigenen Grenzen zu erreichen.“ Für die kriegsähnlichen Zustände an der Grenze und den katastrophalen Umgang mit Geflüchteten hätte Lorenz allerdings doch mit einem größeren Aufschrei gerechnet – „insbesondere in der Blase, in der ich mich sonst so bewege.“ Dort jedoch hätten die Anliegen der Geflüchteten auf den griechischen Inseln Priorität. „Nicht, dass das nicht auch gut wäre“, sagt Lorenz. „Aber gerade, weil unser Anliegen sehr wenig mit Corona zu tun hat, bleibt Europa eher blind dafür. Dabei wurden ganz klar Tabus gebrochen, es wurde scharf auf Menschen geschossen! Das forderten ursprünglich die AfD-Politikerinnen Frauke Petry und Beatrix von Storch und damals war es noch der Eklat des Monats. Heute, vier Jahre später, interessiert es kaum noch wen, wenn es tatsächlich so geschieht.“
Der Weg zurück ins eigene Leben
Wenn man Lorenz zwischen all dem fragt, was eigentlich aus seinem Auslandssemester geworden ist, zuckt er kaum merklich zusammen. Sieben Tage in der Woche ist er mit seinen Projekten beschäftigt, für die wegen Corona angebotenen Onlinekurse bleibt da kaum noch Zeit. „An den Wochenenden, an denen man nicht raus durfte, konnte ich schon einiges aufholen. Aber grundsätzlich habe ich da gerade keinen Nerv für“, gibt er zu. Die Projekte mit Geflüchteten bestimmen zur Zeit sein ganzes Leben. Achtsame Trennung von Arbeit und Privatleben im Home Office? Fehlanzeige.„Zum einen habe ich ja gar kein Privatleben mehr. Meine WG hat mich wegen meines Kontaktes zu so vielen Geflüchteten aus Angst vor Corona rausgeworfen, ich wohne jetzt alleine und habe weder für Hobbies noch Freunde Zeit. Zum anderen empfinde ich das alles gar nicht als Arbeit. Ich verdiene damit kein Geld und habe auch nicht das Gefühl, mich – wie für eine Arbeit – bewusst für diese Tätigkeit entschieden zu haben. Ich empfinde es eher als Verantwortung. Das macht es natürlich nicht weniger anstrengend, aber ich habe nicht das Gefühl, mich um eine Trennung zu meiner Privatsphäre bemühen zu müssen.“
Seine Erlebnisse holen Lorenz trotzdem ab und zu ein. „Die ersten Tage habe ich viel von Krieg geträumt. Die ganz schwere Traumatisierung blieb aus, vermutlich, weil wir nie direkt im Dschungel oder an der Grenze waren.“ Die Geschichten der Einzelnen nehmen ihn mit, keine Frage. Aber viel Zeit zum Nachdenken gibt es dann auch wieder nicht, dafür ist ja zu viel zu tun. Und Lorenz stürzt sich rein: „Solange ich mich jeden Tag anstrenge und alles aus mir heraushole, was ich den Menschen geben kann, bin ich sehr zufrieden. Wenn man alles in seiner Macht Stehende tut, muss man sich später nicht fragen, ob man selbst wirklich genug getan hat.“
Im Sommer geht es für Lorenz zurück nach Berlin. Zurück an die Uni, zurück in eine Welt, in der all das Leid, das er gesehen hat, wohl immer noch hinter Virologen-Talkshows, Reportagen zu Verschwörungstheoretikern und Impfdebatten zurücktreten muss. Lorenz werden die Bilder und Geschichten weiter begleiten. Und er wird sich weiter für die Menschen einsetzen. Das große Ziel nach dem Jura-Studium: Er möchte Anwalt für Menschenrechte werden.
Mai 2020