EU-Beitritt Ungarns 2004  20 Jahre nach der Zuckerwatte im Freizeitpark

Was hat die EU-Mitgliedschaft für Ungarn gebracht? Illustration: © Runway

Was hat die EU-Mitgliedschaft für Ungarn gebracht? Der ungarische Journalist Tamás Jamriskó zieht – nostalgisch und nüchtern zugleich – ein Zwischenfazit seiner ganz persönlichen europäischen Biografie und der seines Landes.

Zu unserem zwanzigsten Jubiläum, seit wir Mitglied der Europäischen Union sind, sind in letzter Zeit zahlreiche Analysen, Auswertungen, Studien, Radio- und TV-Sendungen sowie verschiedene Meinungen entstanden. Diese wurden von sachkundigen Expert*innen par excellence und Journalist*innen erstellt. Daher möchte ich nun durch meinen eigenen, sehr persönlichen Filter nur einige Eindrücke und Gedanken zu diesem wichtigen Jubiläum äußern.

Ja, es muss wahrhaftig passiert sein...

In Bruchstücken erinnere ich mich an den 1. Mai 2004 und das übliche Maifest, den Tag, an dem Ungarn der Union beitrat. Ich durfte damals noch nicht wählen, da ich noch nicht volljährig war – noch lange nicht, erst bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 durfte ich mein Wahlrecht erstmals ausüben. Nicht viel ist bei mir von diesem Tag hängengeblieben, aber damals herrschte eine etwas andere, gehobenere Stimmung – ohne jeglichen Pathos, wie auf einem 18. Geburtstag etwa. Die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, hatte mich damals noch sozusagen an der „kurzen Leine“. In mein Gedächtnis haben sich als Kulisse dieser Zäsur die üblichen Bilder und Gerüche des Maifestes im sogenannten Freizeitpark eingraviert. Sprich: klebrige Zuckerwatte, Bratwurst gratis für alle, Tanzshows, Komiker*innen und Zelte überall, Tumult, hallende Hintergrundmusik und vielleicht sogar die Ode an die Freude, die ich heute mit Hilfe einer App auf einem für Kleinkinder gedachten Synthesizer wahrheitsgetreuer spielen kann als sie damals für mich geklungen hatte. Ja, es muss wahrhaftig passiert sein, wie 1993 die Unterbrechung von Disneys Duck Tales gerade an der spannendsten Stelle, weil unser erster freigewählter Ministerpräsident József Antall gestorben war. Was sich lange Zeit im Gedächtnis der Kinder eingeprägt hat. Oder wie Der Traum des Dschuang-Dsi.
 

Trotz aller Fehler und Schwächen ist die EU die beste Organisation, die Europa bisher vorzeigen konnte.“

Doch abgesehen vom Taumel meiner Erinnerungen, wenn ich nur subjektiv durchgehe, was uns, was mir persönlich die EU, beziehungsweise die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft gegeben hat, könnte ich eine ganz schöne Liste zusammenstellen. Natürlich werde ich nicht alles in ihrer Vollständigkeit hier niederschreiben, denn ein großer Teil davon ist in unserem Leben bis heute präsent. Es gibt hierzulande keine Siedlung, in der nicht irgendetwas mit EU-Unterstützung entwickelt worden wäre, es gibt niemanden in Ungarn, dessen Verwandte*r, Bekannte*r oder er oder sie selbst nicht vom freien Verkehr von Personen zwischen den Ländern Gebrauch gemacht hätte, sei es als Student*in, Tourist*in oder Arbeitnehmer*in. Im Rahmen internationaler Programme (Erasmus, Jugend in Aktion und so weiter) hatte ich das Glück, nette Typen von der Insel La Réunion kennenzulernen, wir organisierten zum Beispiel gemeinsam ein Jugendprojekt mit Est*innen. Ich nahm, wie auch viele andere an Aus-und Weiterbildungen in Polen, Schweden, der Slowakei und Griechenland teil. Wir arbeiteten zusammen mit serbischen, deutschen und österreichischen Kolleg*innen an verschiedenen gemeinsamen Radioinhalten. Und gerade jetzt wird (unter anderem) auch in Rahmen des transnationalen Kreativprojekts Perspectivesdie Fertigstellung dieses Artikels unterstützt.

Denken wir nur eine Minute darüber nach, inwiefern diese Programme der Jugend unseres Landes nützlich waren. Sich in Englisch zu üben, nahe und ferne Länder und Kulturen kennenzulernen, Kooperations- und Kreativitätsfähigkeiten zu erweitern und noch so vieles mehr. Und vergessen wir nicht dabei, dass all dies mit minimalen Kosten verbunden oder gar kostenfrei war, was zur sozialen Mobilität erheblich beitrug.

Was hat die EU uns gegeben?

In jüngster Zeit haben wir, mehr oder weniger gelinde gesagt, heftige Kritik an der EU erlebt, deren Wahrheitsgrad zwar umstritten ist, weniger aber die Tatsache, dass das Bündnis zwischen den Staaten unterschiedliche Schwierigkeiten und Herausforderungen aufzeigt, je nach dem unter welchem Licht man es betrachtet. Doch trotz aller Fehler und Schwächen ist die EU die beste Organisation, die Europa bisher vorzeigen konnte.

Wenn wir achtzig – oder sagen wir nur vierunddreißig – Jahre zurückblicken, dann sehen wir im Westen den letzten (?) Weltkrieg und den Eisernen Vorhang. Wenn man Richtung Süden blickt, dann die Kriege in Jugoslawien, und wenn der Blick nach Osten geht… darauf muss ich wohl nicht eingehen. Auch wenn die EU nur zur Verhinderung bewaffneter Konflikte im Herzen Europas gegründet worden wäre, wäre schon dies ein erheblicher Erfolg. Natürlich wirft dieses Gebilde und alles, was damit in Zusammenhang gebracht werden kann, überdies noch viel weitläufigere Fragen auf.

Und wenn ich „unsere“ zwanzig Jahre objektiv betrachte, dann sehe ich auf den ersten Blick „nur“ jene Vorteile, von all dem, was die EU uns gegeben hat:
 
  • Bewegungsfreiheit: Wir können in jedem beliebigen EU-Mitgliedstaat leben, arbeiten, studieren oder dorthin reisen. Dieses Recht basiert auf dem Zugang zum Binnenmarkt, einem Binnenmarkt, in dem Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen frei verkehren können.
  • Wir haben in jedem der EU-Länder freien Zugang zur Arbeit und zum Studium, ohne eine Arbeitserlaubnis beantragen zu müssen. Darüber hinaus haben wir Zugang zu Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten in der gesamten Union.
  • Erheblicher Verbraucherschutz: Die EU verfügt über strenge Normen, die uns vor unlauteren Geschäftspraktiken wie Täuschung und falscher Werbung schützen, und bietet außerdem einen strengen Qualitätsrahmen für Produkte. Flugreisen sind einfacher und billiger geworden, ebenso die Telekommunikation.
  • Umweltschutzmaßnahmen, wie die Einführung von Schadstoffgrenzwerten oder ganz einfach, dass jeder in der EU Zugang zu sauberem Trinkwasser hat.

Jetzt liegt es an jedem einzelnen von uns, ganz in Stille für sich nachzudenken, was wir der EU gegeben haben.

Perspectives_Logo Dieser Artikel erschien zuerst auf der Webseite des ungarischen Radiosenders EPER, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

Das könnte auch von Interesse sein

Failed to retrieve recommended articles. Please try again.

Empfehlungen der Redaktion

Failed to retrieve articles. Please try again.

Meistgelesen

Failed to retrieve articles. Please try again.