Authentizität in Beziehungen  Mehr Zahnbürsten ins Bad

Mehr Zahnbürsten ins Bad Foto: Bart Scholliers via unsplash.com | CC0 1.0

Sich zu verlieben heißt, sich selbst und die eigene Authentizität durch den anderen zu entdecken. Was, wenn wir uns für jemanden anderen ausgeben? Was kann dabei herauskommen? Bernardeta Babáková hat das in ihrer Kurzgeschichte durchgespielt.

Diese zwei wissen wirklich nicht mehr, wie man fernsieht. Das für ein paar Tage von wohlhabenderen und verständnisvollen Freunden geliehene Wochenendhäuschen bietet nicht nur Entspannung, einen Ortswechsel und den Hauch von Feierlichkeit, sondern auch eine unauffällige Simulation des Zusammenlebens in einer erdachten Zukunft. Am ersten Abend ließen sie sich ein gemeinsames Bad ein, am zweiten stöberten sie durch alte Bücher und Fotoalben der Großeltern ihrer Freunde, am dritten Abend liehen sie sich ohne Erlaubnis zwei Flaschen Rotwein aus der Speisekammer. Nach dem heutigen Gewaltmarsch im Dauerregen verführt sie diese kleine schwarze Kiste zum Glotzen. Seit ihrer Kindheit und Pubertät, während der sie eindeutig die meiste Zeit vor dem Fernseher verbrachten, sind nicht allzu viele Jahre vergangen, aber die Menge an Kanälen überrascht sie doch auf unangenehme Weise.

Missmutig schaltet sie von einem Sender zum nächsten, Entscheidung unmöglich. Fast hat sie Lust vorzuschlagen: „He, sollen wir nicht lieber miteinander schlafen?“ Sie spielt eine Weile mit diesem Gedanken, überlegt, wie steril oder reizvoll ihm dieser Vorschlag vorkommen wird. Aber bevor sie die Worte herausbekommt, entscheidet er sich für Naked attraction – Dating hautnah. Eine Reality-Show, die da weiter macht, wo Dates normalerweise enden, wie der Videotext verkündet. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen wählen aus einer Reihe von Wettbewerbern anhand von Körperteilen, die enthüllt werden; Knöchel, Waden, Knie, Rumpf, Brust, Bauch, Hintern, Hände, wobei die auswählenden Teilnehmer Hals und Gesicht erst zum Schluss sehen werden.

Sie greift nach der Fernbedienung, um den Sender zu wechseln. „Lass laufen, damit hab ich in Riga die langen Winterabende totgeschlagen, das ist ziemlich abgedreht,“ hält er sie unerwartet zurück. Als er ihren verblüfften Gesichtsausdruck bemerkt, drückt er ihr aufmunternd das Knie.

Wieder so ein Typ mit Fernbedienung

Das Kommentieren von von Fernsehsendungen konnte sie schon als Kind nicht ausstehen. Meistens waren es die Eltern, die sich die langen Sonntagnachmittage damit vertrieben, als sie noch zusammen waren. Im besten Fall gaben sie beim Schauen ihrer Lieblingsmärchen unaufgefordert Informationen von sich wie „Jaja, Libuška ist sowieso die schönste Prinzessin,“ oder „Wie konnten die nur Trávníček besetzen, der ist doch aus Brno!“. Im schlimmsten Fall wurde der Fernseher zum Druckmittel, ein Symbol der Machtausübung. Am Ende bekam immer irgendwie der Vater die Fernbedienung, und dann liefen statt der Märchen Fußball oder Lokalnachrichten.

„Wieder so ein Typ mit Fernbedienung“, dachte sie bei seinem Anblick. Sie stellte ihn sich vor, wie er in zehn, fünfzehn Jahren auf der Couch thronen würde und zog sich zur Sicherheit die Decke bis ans Kinn.

Die Fernsehshow war in einem Stadium angelangt, wo sich ein glatzköpfiger, sportlich aussehender Dreißiger nur noch zwischen drei jungen Frauen entscheiden musste. Die standen komplett nackt in irgendwelchen durchsichtigen Boxen. Alle drei waren tätowiert, schulterlange Haare, leichtes Make-Up und irgendwas zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Die älteste war auch die schlankeste. Sie hatte eine wohlgeformte Figur, eine schmale Taille und es sah so aus, als hätte sie nicht mal Cellulitis, ihre hellen Haare reichten bis zu den Schultern. Die anderen beiden Teilnehmerinnen hatten viel molligere Proportionen, eine hatte einen Bürstenschnitt und die andere Dreads. Die Brust der einen schien ausgesprochen lang und breit zu sein, der Bauch wölbte sich hervor und war weiß, sie hatte auch Falten an den Armen. Die zweite hatte dafür unwahrscheinlich breite Knie und voluminöse Oberschenkel.

Die Moderatorin in pistazienfarbener Kostümhose fragte den auswählenden Mann, was ihm an den drei nackten Frauen gefalle und ob er sich mit ihnen treffen würde. Der Mann hielt sich beherzt zurück und machte mit der Moderatorin einen auf body positive vibes. Er lobte die Frisuren der Frauen, das Lächeln, die Knöchel, die Tattoos, die Ohrringe oder die Haarfarbe. Vorsichtig umkreiste er ihr Aussehen, benutzte Worte wie originell, untypisch, interessant, anziehend anders, aber alles lief darauf hinaus, dass er nur mit der Frau auf ein Date gehen würde, die von allen am nächsten an die idealen Proportionen herankam. Eh klar. Mit der Bemerkung, dass er nicht mit einer gehen würde, die Piercing oder Brille hatte, oder größer wäre als er, sortierte er die beiden molligeren Teilnehmerinnen aus.

Wir suchen doch alle nach Liebe

„Das ist so peinlich“, rief er, „das war von Anfang an klar!”
„Aha, warum?” Sie legte einen schärferen Ton auf.
„Warum sagt er nicht direkt, dass ihm die paar Kilo mehr was ausmachen. Das ist doch ziemlich verlogen.“
„Und du hättest das gesagt, oder was?“
„Ich hätte wenigstens zugegeben, dass mir schlanke Mädels gefallen. Warum so tun, als wäre es anders.“
„Also wenn ich zunehme, dann schaust du dich nach so einer verlebten Dreißigjährigen um?“
„Bezieh doch nicht alles auf dich, wir reden hier über einen TV-Contest, nicht über Beziehungen.“
„Im Ernst?“
„Wie im Ernst?“
„Na, ich weiß nicht, vor ein paar Tagen hast du mir von deinen ehemaligen Mädels bei Tinder erzählt.“
„Und von den Jungs.“
„Und von den Jungs. Auf jeden Fall läuft das da genauso wie in dem Wettbewerb.“
„Da kannst du keine Nacktfotos reinstellen.“
„Na, das ist ja ein wahnsinniger Unterschied.“
„Ich hab zwei Jahre allein in Lettland gelebt, hab niemanden gekannt, wie soll man sonst Leute kennenlernen, wenn nicht über eine App zum Kennenlernen, die außerdem wirklich alle benutzen?“
Sie holte tief Luft.
„Du hattest das Glück, dass du deine Partner in der Schule kennengelernt hast, bei der Arbeit, auf Partys, das Glück hatte ich nicht, also bin ich ihm entgegen gegangen. Mehr muss man da gar nicht von ableiten.“
„Das ist furchtbar konsumorientiert.“
„Wir suchen doch alle nach Liebe.“
„Aber nicht durch Swipen.“
„Warum streiten wir uns eigentlich? Ich habe mich mit Leuten verabredet, die ich über eine App kennengelernt habe. Na und? Wenn ich ein Inserat in der Zeitung aufgeben würde, macht dir das dann nichts aus? Und am Ende hattest du mehr Beziehungen als ich.“
„Also trägst du jetzt mir meine Vergangenheit nach?“

Auf einmal saßen beide am jeweils anderen Ende der Couch. Miteinander schlafen werden sie heute bestimmt nicht mehr.

Sie kam sich selbst manchmal unheimlich vor

Ein bisschen höflich und ein bisschen distanziert wechselten sie sich im Bad ab. Sie ließ sich Zeit, sie hatte keine große Lust, sich neben ihn zu legen. Lange betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel und dann schabte sie mit der Feile unter ihren Fußnägeln herum. Als sie sich neben ihn legte, atmete er regelmäßig, als wenn nichts passiert wäre. Sie wälzte sich hin und her, und auf der Zunge lag ihr schwer der unglaublich schlechte Geschmack der abendlichen Unterhaltung, nach der er so ausgezeichnet und problemlos schlief. Was hatte er überhaupt damit gemeint, dass sie mehr Partner gehabt hatte? Worauf spielt er da an? Er war es doch, der noch nicht komplett damit abgeschlossen hatte, als sie sich kennenlernten.

Er erzählte ihr beim ungefähr fünften Treffen davon, nachdem sie ihn auf dem Konzert irgendeiner dieser Shoegaze-Bands, die damals in diesem Herbst haufenweise in den Clubs auftraten, mit dem Mitbewohner ihres Bruders verwechselt hatte. Beim fünften Treffen. Also zwei Monate, nachdem sie zusammen ein Bier an der Bar getrunken hatten und er sie nach dem Konzert unnötig lange nachhause begleitet hatte. Dann brachte er ihre Telefonnummer in Erfahrung, und wie sich herausstellte hatten sie dutzende gemeinsame Bekannte. Sie gingen zusammen ins Kino und kletterten ein anderes Mal in einer durchzechten Nacht auf das Gerüst an einer baufälligen Barockkirche, schauten in den abendlich kühlen Himmel und teilten sich seine letzte Zigarette.

Damals konnte sie sein Zögern nicht begreifen. Es kränkte sie. Sie ging eine Weile nicht ans Telefon, wenn er anrief, antwortete nicht auf seine Nachrichten und trank auf einem weiteren Konzert ein Bier mit dem echten Mitbewohner ihres Bruders (der außerdem noch ein bisschen besser aussah), ließ sich bis nachhause begleiten, nahm am nächsten Tag eine Einladung ins Kino am Abend an. Es ging zwar schneller, aber dafür in eine ähnliche Richtung. Sie kam sich selbst manchmal unheimlich vor, aber zu viele Zweifel ließ sie nicht zu. Wir sehnen uns doch alle nach Liebe. Als sie ein paar Wochen später mit dem Mitbewohner des Bruders an der baufälligen Kirche vorbeikam, lehnte sie sich auffordernd an das Gerüst.

„Mach keinen Blödsinn“, sagte der Mitbewohner ihres Bruders, „Ende November auf ein Gerüst klettern, da kann es rutschig sein. Oder es sieht uns jemand.“
„Hast du eine Zigarette?“ fragte sie ihn.
„Nein. Und du rauch nicht und gib mir lieber einen Kuss“, sagte er und kam näher.
„Sorry“, wich sie aus, „ich muss da erst noch was mit jemandem klären.“

Gemeinsame Erinnerungen erschaffen

Als sie wieder zueinander fanden, sprach keiner von beiden über diese peinliche Unterbrechung. Er entschuldigte sich und hielt sich bedeckt, was die Gründe seines plötzlich veränderten Verhaltens betraf, er berief sich auf einen reinen Tisch. Sie wiederum deutete etwas in der Art an, dass sie traurig gewesen sei. Sie änderte ihre Taktik, gab sich umso mehr ihrer Beziehung hin, je stärker ihre Gewissensbisse sie plagten. Die Abende erweiterten sich um gemeinsame Morgen, das Kochen von Kaffee und Tee. Beide erlagen der Sache soweit, dass sich auch die Zahnbürsten in ihren Badezimmern als Paar vorkamen, sie in ihren Kalendern die Geburtstage und Namenstage eintrugen, sie versuchten sich die Namen der Mütter und Omas zu merken, sie teilten Fotografien aus der Kindheit und bemühten sich bei Wochenendausflügen mit aller Kraft darum alte Erinnerungen auszutauschen und gemeinsame zu erschaffen. Sie waren keine siebzehn mehr, das machten sie nicht zum ersten Mal. Hin und wieder kletterten sie noch auf ein Dach oder ritzten ihre Namen in den Kamin stillgelegter Fabriken im Gewerbegebiet, was dieser derart oft wiederholten Prozedur des gemeinsamen Zusammenlebens einen nicht allzu überzeugenden Touch von Einzigartigkeit verlieh.

Und dann war da das Handy-Display mit der Dating-App, die er immer noch nicht deinstalliert hatte. Das wurmte sie, weil sie sie selber nicht hatte. Es wurmte sie, weil sie sich dadurch um so viel ersetzbarer, austauschbarer fühlte. Als ob das Licht des Displays die Gebrechlichkeit ihrer Liebe beleuchtete, bei der sie sich immer noch nicht sicher war, ob sie sie fühlte, oder ob sie sich wünschte sie zu fühlen.

Sie hatte ihn ja schließlich auch für eine Weile ausgetauscht. Das war zwar nicht das Wahre, aber wer weiß. Sie wurde wach und fiel wieder in einen unruhigen Schlaf, während seine Atmung in ein Schnarchen hinüberblubberte.

Sie träumte, sie stünde komplett nackt in einer gläsernen Box, genau wie die anderen Teilnehmerinnen, ihr Bruder, der Mitbewohner ihres Bruders und die Moderatorin von Naked attratcion. Er, im glänzenden, pistazienfarbenen Kostüm, betrachtete sie prüfend. Obwohl er lange vor der Box stehen blieb, in der ihr nackter Bruder stand, wandte er am Ende seinen Blick von Hintern und Brust des Bruders ab und wies mit dem Kopf in ihre Richtung.

Er hatte sie ausgewählt, von allen gläsernen Boxen öffnete sich nur die ihre. Sie konnte hinausgehen, ihm nackt gegenüber stehen, ihm die Hand geben und dann ihre Kleidung holen und mit ihm zum Date gehen.

Er hatte sie ausgewählt. Aber trotzdem wachte sie mit einem Ruck aus einem Alptraum auf.

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