Fake in der Architektur  Echt eine Lüge oder ein echtes Erlebnis?

The Strip, Las Vegas
The Strip, Las Vegas Foto: Dietmar Rabich | CC BY-SA 4.0

In der Architektur herrscht die Überzeugung vor, dass es nicht richtig sei, andere Bauten oder historische Stile zu imitieren. Architektur solle doch wahrhaftig sein. Nur manchmal ist gerade die Nachahmung die Bestimmung eines Gebäudes. Wie sieht sowas dann aus? Die Dichterin und Architekturtheoretikerin Anna Beata Háblová beschreibt konkrete Beispiele.
 

Ich fahre durch die Landschaft am Fuße der Niederen Tatra und plane, bei einer Kirche auf einem kleinen Hügel Halt zu machen. Alles wirkt vollkommen: die Bergkanten, die von der Sonne ausgeschliffenen Hänge und der sich zum Gipfel windende Weg. Der Genius loci hätte sich hier in das haltbarste Material gießen lassen können, wenn das nur möglich wäre. Je näher ich dem Gebäude aber komme, das auf der Karte als Kostol dvoch sŕdc – Archa Locus (Kirche der zwei Herzen – Arche Locus) bezeichnet wird, stelle ich mit Verwunderung fest, dass die Kirche ein bisschen zu sehr der Arche, und zwar der von Noah, ähnelt. Die Arche Noah ist ein beliebtes biblisches Motiv. Es trägt die Symbolik vom Zorn Gottes und der Entsendung der Flut in sich, aber auch dessen Erbarmen, als er Noah beauftragt ein Boot auf einem Hügel zu errichten, auf das er sich später zusammen mit weiteren sieben Menschen und unterschiedlichen Tierarten rettet.

Wie in einem geheimen Club für Fetischisten

Das Bild der Hoffnung, das die Bibel hiermit vermittelt, ist schön. Aber nur solange, wie es nicht wortwörtlich in Form einer Kirche umgesetzt wird. Denn dann ist es, als zerfalle der Gedanke in viele Einzelteile, und alles was ich wahrnehme ist ein Gewirr an Formenlehre und Material, das einerseits seinen Zweck erfüllen (also damit man hier Messen abhalten, schnell mal auf die Toilette gehen oder beichten kann) und andererseits Geschichten erzählen muss. Ein Beispiel für die Umwandlung eines geistigen Bildes in Material ist die Wand des Beichtstuhls, die mit Fell bedeckt ist – auf der einen Seite ist es grobes Stierfell in schwarzer Farbe, auf der anderen weißes Schaffell. Die Bedeutung ist hier naheliegend – wer eintritt, ist von Sünde befleckt, wer hinausgeht, ist durch die Beichte reingewaschen. Das ist ein lobenswerter Gedanke, sein Abbild aber erweckt den Eindruck, dass man sich in einem geheimen Club für Fetischisten befindet – so sehr verlockt einen die riesige Fläche Fell dazu, die Hände in ihr zu vergraben.

Es scheint also, dass die zu genaue Abbildung eines Gedankens zu dessen Karikatur führt. Architektur hat ihre eigene Sprache, die von Raum, Licht und der Struktur von Materialien erzählen kann. Aber wenn sie die Funktion eines Buchs voller Geschichten übernehmen soll, wird das, was sie sagt, zu Kindergebrabbel, in dem die Rundung des hölzernen Schiffdecks auf eine gerade, glänzende Marmorwand trifft und diese wiederum auf einen groben Bodenbelag aus Schiefer – von dem Tierfell ganz zu schweigen. Die Unwahr(haftig)heit ist in diesem Fall offensichtlich – das bauliche Abbild eines Schiffs wird sich niemals vom Hügel losreißen und davonfahren.

Kirche der zwei Herzen – Arche Locus am Fuße der Niederen Tatra Kirche der zwei Herzen – Arche Locus am Fuße der Niederen Tatra | Foto: Michal Jakubský | CC BY 3.0

Das Dasein in der Heterotopie

Ein anderes Beispiel habe ich aus Tokio. Stell dir vor, du befindest dich an einem Ort mit historischen Lampen, profilierten Fassaden und rot gefärbter Sonne. Die Wolken werden dunkler und du stehst auf diesem sfumatoartigen Platz, der vom Renaissance-Wappen einer fiktiven Kirche dominiert wird. Du fühlst große Ruhe und die Lust auf einen Kaffee in einem der vielen Restaurants in der nächtlichen italienischen Stadt. Berauscht vom Koffein vergisst du ganz, wo du bist, vielleicht ist dieser Ort ja Venedig selbst.

Du willst schon aufstehen und am Lido schwimmen gehen oder in die Hosentasche greifen, wo du ganz sicher das Programm der diesjährigen Biennale verstaut hast. Bevor es dir aber gelingt, die Schichten der Erinnerungen an die physische Metropole Venedig durchzugehen, erwartet dich ein vorprogrammiertes Erwachen. Die Morgendämmerung bricht an, die mit Wolken bemalte Decke wird Ostlicht überzogen, die Lampen erlöschen, der Platz mit der Kirche verliert alles Magische und du hast immer noch den gleichen Kaffee und das Angebot der verschlungenen Straßen voller Markengeschäfte vor sich.

Einen ganzen venezianischen Tag kannst du innerhalb einer einzigen Stunde erleben. Die Luft ist angenehm gesättigt vom Wasser, das aus von Nymphen gestützten Fontänen plätschert, alle Details des errichteten Orts sind dazu da, dich aus dem Tokioter Einkaufszentrum Venus Fort nach Italien zu transportieren. Du hast dich an einem anderen Ort wiedergefunden, mit einem anderen zeitlichen Rhythmus, einer anderen Realitätswahrnehmung. Die Arbeit mit der Nachahmung der Umgebung kann Manipulation sein, aber auch Erlebnis. Du wirst dir der Andersartigkeit des Ortes noch bewusster, wenn du das Einkaufszentrum verlassen und mit der sehr faden, langweiligen Blechfasade dieser Schachtel von riesigem Ausmaß konfrontiert wirst – also auch mit dem normalen Leben, so gewöhnlich, wie es ist.

Diese Fähigkeit, in einen anderen Zustand von Bewusstsein, Erinnerungen und Wahrnehmungen zu gelangen, also kurzgesagt an der Stelle eines anderen zu sein, ist ein Synonym für das Wesen der Heterotopie. Die Bezeichnung „hetero-topias“ – wortwörtlich „andere Orte“, verwendete erstmals der Philosoph Michel Foucault im Jahr 1967 in Paris während einer seiner Vorträge für den Studienkreis Architektur (Cercle d’études architecturales). Er meinte damit alle Orte, Situationen oder erlebte Zeit, die sich auf irgendeine Weise aus der Alltäglichkeit oder Gleichförmigkeit herauslösen.

Einkaufszentrum Venus Fort in Tokio Einkaufszentrum Venus Fort in Tokio | Foto: Christophe95 | CC BY-SA 4.0

Wirklicher sein als die Wirklichkeit

Michel Foucault definierte die Orte der Heterotopie durch sechs Prinzipien, von denen er die erste als „Krisenheterotopien“ bezeichnete. Es handelte sich dabei um privilegierte oder verbotene Orte „primitiver“ Gesellschaften, bestimmt für Individuen, die sich in einem gesellschaftlichen „Krisenzustand“ wie dem Erwachsenwerden, Schwangerschaft oder hohem Alter befanden. In der heutigen Gesellschaft ist die Krisenheterotopie bis auf die jüngsten Beispiele von Internatsschulen und Militärdienst fast verschwunden. Sie wurde durch die Abweichungsheterotopie ersetzt, zu der man Gefängnisse oder psychiatrische Heilanstalten zählen könnte.

Als zweites Prinzip der Heterotopie gilt, dass jede Heterotopie ihre eigene Funktion hat und eine eigene Beziehung zur Gesellschaft eingeht. Als Beispiel führt Foucault den Friedhof an, der, obwohl am Rand der Stadt oder jenseits ihrer Mauern gelegen, mit jedem Individuum innerhalb der Gesellschaft durch verstorbene Vorfahren in Beziehung steht. Das dritte Prinzip beruht laut Definition auf der Fähigkeit der Heterotopie, sich gegenseitig ausschließende Räume nebeneinander zu stellen. Ob es sich nun um den Raum des Theaters handelt, in dem abwechselnd die unterschiedlichsten Kulissen erscheinen, oder die Realität des Zuschauerraums versus der virtuellen Bühnenwelt, oder der Raum des Kinos, in dem auf eine zweidimensionalen Fläche eine dreidimensionale Welt projiziert wird.

Das vierte Prinzip betrifft die Heterotopie als Zeitabschnitt, die Heterochronie. Das sind Momente, wenn sich der Mensch in einem anderen zeitlichen Rhythmus befindet, wenn die Zeit sich kumuliert, bis sie stehen bleibt (Bücherei, Museum), einen vorübergehenden Charakter hat (Pause, Ferien) oder eine fast feierliche Anmutung (Ausstellungsräume). Das fünfte Prinzip ist das Vermögen der Heterotopie sich zu öffnen und zu schließen, also die Fähigkeit des Raums, nicht für jeden, jederzeit und unter jeder Bedingung zugänglich zu sein.

Diese Orte erfordern eine bestimmte Art von Erlaubnis, Vorbereitung oder Reinigung. Das können zum Beispiel Moscheen sein, vor deren Betreten man die Schuhe ausziehen und sich die Füße waschen muss. Eine Kirche, die zum Stillsein mahnt oder Konzertsäle und Theater, die eine bestimmte Kleiderordnung erfordern. Das sechste Prinzip liegt im Bestreben der Heterotopie, einen Ort der Illusion zu erschaffen, der eine reale Welt zugänglich macht (Bordell), oder die Erschaffung eines realen Ortes, der wirklicher sein soll als das, was draußen ist.

Das Bestreben eine Stadt zu imitieren

Der Philosoph Lieven De Cauter und der Urbanist Michiel Dehaene geben der Bedeutung von Foucaults Heterotopie in ihrem Buch Heterotopien und die Stadt (Heterotopia and the City: Public Space in a Postcivil Society) aus dem Jahr 2008 eine neue Richtung. Den Autoren zufolge existiert die Heterotopie in unserer heutigen Welt vor allem in der Form von Einkaufszentren, Vergnügungsparks, Erholungszentren und Wellness-Hotels.

Wenn wir uns auf die Einkaufs- und Vergnügungszentren beziehen, die in Foucaults Prinzipien der Heterotopie erwähnt werden, kommen wir zu dem Schluss, dass sich die meisten von ihnen mit dem Raum von Zentren decken. Einkaufszentren zum Beispiel entsprechen dem dritten Prinzip der Heterotopie, weil hier gleich mehrere untereinander artfremde Welten und Räume existieren, und am charakteristischsten sind hier vor allem die sogenannten Lifestyle-Zentren. Neben dem Thai-Restaurant gibt es eine Ecke, die an ein Fischerdörfchen erinnert, und daneben ist der Eingang in den Dino-Park, von dem aus man mit nur wenigen Schritten zu einem Geschäft mit der intimen Atmosphäre des heimischen Gartens gelangt.

Dem vierten Prinzip zufolge sind Einkaufszentren Orte mit unterschiedlich ablaufender Zeit, was zur Folge haben kann, dass man das Bewusstsein für die Zeit verliert. Dies wird unterstützt durch die Vielzahl an Materialien und Charakter der Räume und die allgegenwärtige erfrischende und beruhigende Mainstream-Musik. Das fünfte Prinzip des Öffnens und Schließens wird bei Einkaufszentren nicht nur durch die festen Öffnungszeiten deutlich, die das Betreten nicht zu jeder Zeit erlauben, sondern auch durch den Ausschluss sozial unpassender Besucher, die die Kriterien eines kaufkräftigen Kunden nicht erfüllen. Einkaufszentren sind also auf keinen Fall für jeden, jederzeit und unter allen Umständen zugänglich.

Das letzte, sechste Prinzip – die Erschaffung einer Illusion – erfüllen Einkaufszentren dann durch den Versuch, echte Städte mit Straßen, Plätzen und Mobiliar zu imitieren und so ein realeres (idealeres) Bild einer Stadt zu schaffen als das der Stadt da draußen, die mit Straßenverkehr, schlechtem Wetter und Bettlern zu kämpfen hat.

Man soll nichts imitieren?

In der Architektur herrscht die Überzeugung vor, dass es nicht richtig sei andere Bauten oder historische Stile zu imitieren. Architektur soll wahrhaftig sein, Materialien sollen sich zu ihrem wahren Wesen bekennen. Stilen wie dem Funktionalismus oder High-Tech liegt gar die Präsentation ihrer technischen Details und die Rohheit ihrer Baumaterialien zugrunde: Rohre aller Arten und Größen nicht durch Verkleidungen oder Gipskartonwände verstecken, sondern den Raum durchziehen lassen wie eine originelle Verzierung. Eine derartige Ehrlichkeit war für die Architektur ein genauso bedeutender Wendepunkt wie in der Literatur das Schreiben über gewöhnliche und alltägliche Dinge.

Und dann gibt es hier Orte und Gebäude, bei denen Kitsch und Täuschung so weit getrieben wurden, dass einem vor Benommenheit ganz schwindelig wird. Zum Beispiel Las Vegas. Eine Stadt, die ein einziger großer Betrug ist. Hier gibt es ein weiteres Venedig mit Kanälen, Paris mit dem Eiffelturm oder eine ägyptische Pyramide. Trotzdem kann man nicht behaupten, dass dieser Ort nicht auch seinen Zauber hat. Ähnlich wie das Venedig im Tokioter Einkaufszentrum oder das bizarre Schiff auf dem Hügel inmitten unberührter Natur unterbricht Las Vegas die scheinbare Kontinuität und Normalität des gewöhnlichen alltäglichen Raumes. Und das ist keine Kleinigkeit.

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