Operation „Kámen“  Falsche Grenzen, echte Opfer

Szene aus einer der Theaterwanderungen „Fingierte Grenzen“ über die Operation Kámen
Szene aus einer der Theaterwanderungen „Fingierte Grenzen“ über die Operation Kámen Foto: © Ovigo-Theater

Es war eine der perfidesten Geheimdienstoperationen des Kalten Krieges. Mit fingierten Grenzanlagen ließen Agent*innen der tschechoslowakischen Staatssicherheit flüchtende Regimegegner*innen im Glauben, sie seien in Freiheit. Die Forscherin Václava Jandečková rekonstruiert die Geschichten der Opfer.

Im Februar 1948 übernahmen die Kommunisten die Macht in der Tschechoslowakei. Ab dem 23. Februar 1948 durften Menschen das Land selbst mit gültigem Reisepass nicht mehr verlassen, wenn sie nicht über eine Ausreisegenehmigung verfügten. Wer kommunistische Verfolgung zu befürchten hatte, dem blieb also oft nur der illegale Weg über die Grenze.

Ein gut organisiertes Netzwerk aus Schmuggler*innen und Widerstandskämpfer*innen unterstützte die Flucht nach Deutschland und trug Informationen für den amerikanischen Geheimdienst zusammen. Die Staatssicherheit beschloss, das Netzwerk zu zerschlagen – Akce Kámen (wörtliche Übersetzung: Aktion Stein, auf Deutsch gelegentlich als „Operation Grenzstein“ bezeichnet) war geboren.

Mit erheblichem Aufwand wurden im westdeutsch-tschechischen Grenzgebiet mehrere Scheingrenzen und falsche Grenzstationen errichtet. In dem Glauben, das Schlimmste überstanden zu haben, gaben die Geflüchteten dort bereitwillig preis, was sie wussten: Namen von Helfer*innen, Unterstützer*innen, Schleuser*innen.

Forscherin Václava Jandečková hat die Geschichten von Opfern der Operation Kámen rekonstruiert.

Die Opfer waren ahnungslos

Den Fabrikbesitzer Jan Prošvic hatte es hart getroffen. Seine Fabriken wurden verstaatlicht, ihm selbst drohte Gefängnis. Ein Mann, der sich „Johnny“ nannte, machte ein verlockendes Angebot: Er würde der Familie bei der Ausreise helfen. Jan Prošvic wurde im April 1948 verhaftet. Er war das erste von vermutlich hunderten Opfern der Operation Kámen, die von der tschechoslowakischen Staatssicherheit bis mindestens 1951 durchgeführt wurde.

Marie und Vlasta Štěrbová waren schon lange beim Staat in Ungnade gefallen, als sie sich im Sommer 1950 zur Flucht entschieden. Außer einer angeblichen „Arbeitsunwilligkeit“ hatte Marie ihre Meinung über den Staatsapparat etwas zu deutlich geäußert, nämlich, „dass an den führenden Stellen ausgemachte Trottel und Tölpel sitzen, die nichts verstehen“. Ein Mann namens „Pepík“ machte Marie glauben, er sei ein Agent der amerikanischen Spionageabwehr (CIC) und könne ihr bei der Ausreise nach Deutschland helfen – vorausgesetzt, sie wäre bereit, gegen das Regime zu arbeiten. Marie stellte ein ganzes Nachrichtennetzwerk auf die Beine. Pepík gab vor, alles sei für die Ausreise vorbereitet, er selbst sei schon vorgefahren – und er verriet die Štěrbovás an die Staatssicherheit.

Der Geschäftsmann Josef Šikola hatte schon mehrere erfolglose Versuche, die Republik zu verlassen, hinter sich. Er fiel Ende 1950 auf einen vermeintlichen Schleuser herein, der die Familie aktiv kontaktiert hatte. In dem Verhör durch die falschen Amerikaner gab Šikolas Sohn Mirko alles preis, was er wusste. Er wähnte sich auf westlichem Boden – was sollte schon passieren?

Mirko Šikola mit Václava Jandečková Mirko Šikola mit Václava Jandečková | Foto: © Archiv von Václava Jandečková

Täuschend echte Grenzanlagen

Eigentlich wollte Václava Jandečková vor allem über ihren eigenen Großvater forschen, der ab 1949 als Widerstandskämpfer und Fluchthelfer agiert hatte. Im Zuge ihrer Recherchen stieß sie auf die Aktion Kámen. Sie begann weiter nachzuforschen und Kontakt zu Familien der Opfer aufzunehmen. Eine Geschichte führte zur anderen, jeder Fall entfachte das Interesse aufs Neue.

Die Idee, falsche Grenzen zu errichten, sei nicht neu gewesen, betont Jandečková. Die Sowjetunion unternahm Ähnliches schon vor dem Zweiten Weltkrieg. „Ungewöhnlich war der Aufwand, der betrieben wurde, inklusiver falscher Grenzbeamter und Büros“, so die Forscherin. „Es sollte so echt wie möglich aussehen, um die Opfer in Sicherheit zu wiegen. Ziel von Operation Kámen waren nicht nur die Menschen, die flüchten wollten. Das System dahinter sollte komplett zerschlagen werden.“

Der Ablauf war immer gleich: Ausreisewillige Menschen wurden ausspioniert, Agenten der Grenzpolizei und ihre Mittelsleute gaben vor, bei der Flucht nach Deutschland behilflich sein zu wollen. Die Opfer wurden über die vermeintliche Grenze geschickt und stießen bald auf ein Grenzbüro der „Amerikaner“.

In der Region gab es viele leerstehende Häuser, die eindrucksvollsten wie das ehemalige Einkehrgasthaus in Heiligenkreuz, das als falsches Zollamt fungierte, wurden für die Aktion Kámen hergerichtet es sollte so amerikanisch wie möglich aussehen. Dort wartete ein freundlicher „Hauptmann Thomson“ oder „Johnson“ oder einer seiner Mitarbeiter. Es standen amerikanischer Whiskey und Zigaretten bereit und Präsident Truman blickte von einem Portrait über dem Schreibtisch wohlwollend auf die Szenerie, während Hauptmann Thomson „nur ein paar Fragen“ hatte.

Die Opfer begaben sich oft nur allzu bereitwillig in die Rolle der Geflüchteten. Sie glaubten das Schlimmste hinter sich, nannten Namen und Adressen, wollten gefallen. Zudem fürchteten sie, bei nicht ausreichender „Kooperation“ wieder zurück geschickt zu werden.

Nach dem Scheinverhör landeten die Opfer in den Händen von Sicherheitsbehörden, kommunistischen Gerichten und Gefängnissen. Viele von ihnen erfuhren nie, dass sie den tschechoslowakischen Boden in Wirklichkeit nie verlassen hatten.

Als Mutter und Tochter Štěrbová im Juni 1950 ins Gefängnis nach Prag überstellt wurden waren sie fest überzeugt, von deutschem Boden zurück in die Tschechoslowakei entführt worden zu sein.

Das ehemalige Einkehrhaus Heiligenkreuz diente für die Operation Kámen als falsches deutsches Zollamt. Heute beherbergt das Haus ein Restaurant mit Casino und Nachtclub. Das ehemalige Einkehrhaus Heiligenkreuz diente für die Operation Kámen als falsches deutsches Zollamt. Heute beherbergt das Haus ein Restaurant mit Casino und Nachtclub. | Foto: © Archiv von Václava Jandečková

Neue Erkenntnisse dank hartnäckiger Forschung

Die historische Forschung hat sich wenig mit Operation Kámen beschäftigt. Das liegt teilweise an fehlendem Interesse, aber auch an der Quellenlage, glaubt Jandečková. Sie begann ab 2012 im Archiv der Sicherheitsdienste zu forschen. Dort befinden sich die Unterlagen, die die Staatssicherheit produziert hat. „Wenn sie nicht vernichtet wurden, gibt es in der Regel zu jedem politischen Häftling, beziehungsweise zu jedem verfolgten Menschen einen oder mehrere Aktenbände“, so Jandečková. Dabei sind ihr Ungereimtheiten aufgefallen – weil sie gute Deutschkenntnisse besitzt. So steht im offiziellen Protokollbericht mit Jan Prošvic, er sei in Neukirchen / Heiligenkreuz verfasst worden. Aber: „Er beinhaltet enorme grammatikalische Fehler. Da konnte etwas nicht stimmen.“ Der Instinkt der Forscherin erwies sich als richtig: Tatsächlich war der Verfasser ein StB-Angehöriger und das Protokoll selbst im falschen Zollamt in Myslív erstellt worden. Jandečková hatte ein entscheidendes Puzzlestück gefunden.

Bei ihrer Recherche legte die Forscherin eine gewisse Hartnäckigkeit an den Tag: „Ich dachte praktisch pausenlos darüber nach, auch bei der Hausarbeit.“ Sie machte Opfer und Hinterbliebene ausfindig, nahm Kontakt auf, las hunderte Seiten Protokolle und Listen, jeder neue Name führte zu neuen Erkenntnissen. Die Bürokratie des Staatsapparates war sehr sorgfältig – auch von und über die Agent*innen wurden viele Berichte erstellt. „Jeder sollte kontrollierbar sein“, fasst Jandečková zusammen. „Irgendwann war mir klar: Diese Geschichten müssen aufgeschrieben werden. Die Opfer verdienen wenigstens das.“

Seit 2021 wird das Andenken an die Opfer der perfiden Täuschung auch auf der Bühne gepflegt. Florian Wein vom Ovigo-Theater wurde durch eine Ausstellung von Jandečková auf die Operation Kámen aufmerksam. Anhand eingängiger Episoden erzählt die Theatergruppe mit über 60 Darsteller*innen per Reenactment die Geschichte der Aktion Kámen – auf Wanderungen an den Originalschauplätzen bei Selb / Aš, Waldsassen / Cheb und Stadlern / Bělá nad Radbuzou. Das Publikum ist live dabei, wenn sich die Schlingen enger um Josef Šikola ziehen, begleitet Jan Prošvic und seine Familie, die Zuschauer ahnen lange vor Mutter und Tochter Štěrbová, dass deren Freundin in Wirklichkeit eine Agentin ist, die die Frauen unauffällig aushorcht. „Die Dialoge finden sowohl in deutscher als auch in tschechischer Sprache statt. Zum Verständnis reicht aber eine von beiden Sprachen aus. So können alle der Handlung problemlos folgen“, so Wein.

Szene aus einer der Theaterwanderungen „Fingierte Grenzen“ über die Operation Kámen Szene aus einer der Theaterwanderungen „Fingierte Grenzen“ über die Operation Kámen | Foto: © Ovigo-Theater

Ein Thriller ohne Happy End

Die Geschichten der Aktion Kámen hören sich an wie Agententhriller, doch auf ein Happy End wartet man vergebens. Sowohl die dreiteilige Buchreihe als auch das Theaterstück erzählen die Geschichten bis zum bitteren Ende: Marie Štěrbová stirbt 42-jährig in Gefangenschaft, noch vor einer Verurteilung. Ihre Tochter Vlasta wird nach dreieinhalb Jahren in eine „Freiheit“ entlassen, die keine ist. Obwohl sie drei Fremdsprachen beherrscht, darf sie als „Straftäterin“ lediglich im Kohleabbau, in der Fabrik oder als Reinigungskraft arbeiten. Sie heiratet und bekommt ihren Sohn Zdeněk, doch das Gefängnis lässt sie nie mehr ganz los. Körperlich und psychisch schwer angeschlagen stirbt sie Mitte der 80er Jahre mit gerade mal 53 Jahren.

Jan Prošvic wird zu Zwangsarbeit verurteilt, kurz darauf aber gelingt ihm doch noch die Flucht aus dem Arbeitslager nach Großbritannien. Seine Frau Jiřina wurde zwar offiziell freigesprochen, verlor aber sämtliches Eigentum: Die Familienvillen wurden beschlagnahmt, sie stand mit ihren vier Kindern mittellos da. Eine der beiden Villen wurde im September 1949 von Antonín Zápotocký, dem späteren Präsidenten der Tschechoslowakei, sehr günstig erworben.

Neue Offenheit für ein heikles Thema

Jandečkovás Aufklärungsarbeit zeigt Erfolge. Hat bis vor einigen Jahren kaum jemand von der Operation Kámen gewusst (oder gewusst haben wollen) füllt sich diese Lücke langsam. Die Forscherin organisiert Ausstellungen und hält Vorträge zum Thema, auch an Schulen. „Besonders junge Leute sollten dieses Teil der Geschichte kennen“, findet sie.
  Auch die Theaterwanderungen tragen dazu bei, wie Florian Wein erzählt: „Viele jüngere Leute können sich das gar nicht mehr vorstellen, wie es damals war. Aber einige der Älteren erinnern sich noch sehr genau – und wollen auch mit uns darüber sprechen.“

Für Wein ist das Überqueren der realen Grenze immer ein besonderer Moment. „Wir wissen, was damals hier passiert ist. Und heute marschieren wir einfach über die Grenze und es interessiert niemanden. Das ist ein ganz merkwürdiges Gefühl.“ Tatsächlich sieht Wein darin auch eine Aufgabe des Theaterprojekts: „Wir können froh sein, dass wir diese offenen Grenzen in Europa haben. Wir wollen daran erinnern, dass es nicht immer so war und in manchen Teilen der Welt auch heute noch nicht so ist.“

Verbrechen und Folgen verjähren nicht

Aktion Kámen war lange ein blinder Fleck in der Geschichte. Täter*innen und Drahtzieher*innen lebten ihr Leben als vermeintlich unbescholtene Bürger, inklusive aller staatlichen Pensionsansprüche. Bestraft wurde bis heute niemand – obwohl die Verbrechen nicht verjährt sind. Die Opfer und ihre Familien litten, teilweise ihr Leben lang. Zdeněk Klíma (64), der Sohn von Vlasta Štěrbová lächelt freundlich von einem Foto in Jandečkovás Buch. Er sagt, seine Mutter habe „diesen Stein (tschechisch: kámen) das ganze Leben mit sich geschleppt und sich nie mehr als Mensch aufgerichtet. Zdeněk arbeitet heute als Touristenführer: „Weil ich Menschen mag.“
 

Václava Jandečková ist eine unabhängige Forscherin, Absolventin der Fakultät für Internationale Beziehungen an der Wirtschaftsuniversität Prag und Mitbegründerin der Gesellschaft zur Erforschung der Verbrechen des Kommunismus e.V. (Společnost pro výzkum zločinů komunismu z.s.) Sie forscht, schreibt und referiert über die Operation Kámen, für Ende 2022 ist zudem eine Comicadaption geplant.

Unter dem Namen Operation Kámen (Akce Kámen) wurden von 1948 bis 1951 Menschen über falsche Grenzen geschleust. Jandečková konnte bislang 42 Fälle sicher rekonstruieren, die Dunkelziffer liegt aber viel höher, geht vermutlich in die hunderte. Die Operation wurde von der tschechoslowakischen Staatssicherheit (StB) durchgeführt. Ab Juli 1951 war der Grenzschutz für die Sicherung der Staatsgrenzen zuständig.

Quellen: Fingierte Grenzen – Täter und Opfer geheimer Grenzoperationen der tschechoslowakischen Staatssicherheit Band 1, LIT Verlag, 2022

Das Ovigo-Theater, gegründet 2012, eingetragener Verein seit 2016, ist ein freies Theater und entwickelte sich ursprünglich aus dem Schultheater des Ortenburg-Gymnasiums Oberviechtach. Aufgeführt werden Klassiker und Kultstücke, darunter Der Gott des Gemetzels, und Der kleine Horrorladen. Das Wandertheater Fingierte Grenzen über die Operation Kámen findet seit 2021 an den Orignalschauplätzen statt und soll fester Bestandteil des Repertoires werden. Florian Wein (36) ist Mitbegründer und künstlerischer Leiter des Ovigo-Theaters.

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