Andrićgrad  Eine Stadt mit vergewaltigter Geschichte

Regisseur Emir Kusturica wollte keine vorübergehenden Kulissen, errichten ließ er einen ständigen Kitsch.
Regisseur Emir Kusturica wollte keine vorübergehenden Kulissen, errichten ließ er einen ständigen Kitsch. Foto: © Andrej Bán

Filmemacher Emir Kusturica ließ in Bosnien und Herzegowina ein Städtchen zu Ehren des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andrić errichten. Es sollte spektakulär werden, so wie vieles auf dem Balkan. Es ist ein bisschen anders geworden, so wie vieles auf dem Balkan.

Das Städtchen Andrićgrad ist eine Erinnerung an die triumphale serbische Geschichte (voller triumphaler Niederlagen). Vor zehn Jahren ließ der berühmte Filmemacher Emir Kusturica diesen Stadtteil in Višegrad, im Osten von Bosnien und Herzegowina, erbauen. Diesmal hat der Regisseur von Underground jedoch keine Kulisse für einen weiteren großen Film über den „Wilden Osten“ errichtet. Andrićgrad sollte ein neues Zentrum für Kultur, Kunst, ökologischen Lebensstil und Unterhaltung werden, und zwar dort, wo der Literaturnobelpreisträger (1961) Ivo Andrić lebte, dessen berühmtester Roman Die Brücke über die Drina hier spielt. Allerdings hat die Sache ein paar große Aber.

Nationalität ist auf dem Balkan ein „fließender“ Begriff

Das erste Problem ist, dass der Schriftsteller Andrić eigentlich Kroate aus der Stadt Travnik in Zentralbosnien war und kein Serbe. Das stört hier aber kaum jemanden. Wenn es um berühmte historische Persönlichkeiten geht, die als Marketingprodukte dienen können, sind die Serb*innen nachsichtig und tolerant.

Andrićgrad feiert eine serbische Mythologie und leugnet die Geschichte. Andrićgrad feiert eine serbische Mythologie und leugnet die Geschichte. | Foto: © Andrej Bán Andrićgrad steht somit auch für eine krampfhafte und komisch anmutende Aneignung dieser großen Persönlichkeit in die serbische Nationalgeschichte. Keine Überraschung. Drückt man es mit den Worten des Soziologen Zygmunt Bauman aus, so ist Nationalität auf dem Balkan, wo zwischen 1991 und 1995 verheerende Kriege tobten, ein „fließender“ Begriff. Schließlich wurde auch Kusturica, der Mäzen von Andrićgrad, in Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina in einer muslimischen Familie geboren. Heute setzt er sich jedoch für die orthodoxe Kirche ein, ist serbischer Nationalist und ein Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Andrić hatte ein kleines Haus in Višegrad. Jedoch ließ sich jemand in den wilden 1990er Jahren am gegenüberliegenden Ufer der Drina schwarz ein hässliches würfelartiges Familienhaus bauen ließ, das heute gleich einer Ironie des Schicksals den Blick auf Andrićgrad versperrt. Außerdem behandelte die Stadt ihren berühmten Schriftsteller recht stiefmütterlich. Man vergab sein Haus an einen Eisenbahner, der nach Schweden floh, und so verfiel das Gebäude.

Einer der „Helden“ von Andrićgrad ist der Attentäter des habsburgischen Thronfolgers Franz Ferdinand. Einer der „Helden“ von Andrićgrad ist der Attentäter des habsburgischen Thronfolgers Franz Ferdinand. | Foto: © Andrej Bán Das Hauptproblem liegt jedoch woanders, nämlich in der Auslöschung der muslimischen Geschichte. Višegrad war in den 1990er Jahren Schauplatz einiger der schlimmsten Massaker. Die serbischen Tschetniks schlachteten ihre muslimischen Nachbarn ab und warfen sie in Massengräber oder die schäumenden Fluten der Drina. Aber davon erfährt man im potemkinschen Andrićgrad kein Wort. Alles, was man sieht, sind kitschige Kulissen, Pasquillen, materielle Zeugnisse einer vergewaltigten und sterilisierten Geschichte. Lauter Repliken orthodoxer Kirchen, wichtiger Gebäude und sogar ein großes buntes Mosaik, das Mitglieder der radikalen Vereinigung Mlada Bosna (Junges Bosnien) zeigt. Darunter auch Gavrilo Princip, der Attentäter des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo. Nach dessen Ermordung im Jahr 1914 brach der Erste Weltkrieg aus.

Nicht nur die Liebe, auch der Hass geht über das Grab hinaus

An einem symbolischen Ort am Eingangstor von Andrićgrad, im Café Goya (nein, der berühmte spanische Maler war kein Serbe), gegenüber dem Mosaik des Attentäters Princip, treffe ich Miro Jeremić, den Vorsitzenden der Tschetnik-Vereinigung Ravnogorje. Natürlich duzen wir uns, der rüstigen Siebzigjährige und ich, schließlich sind wir Slawen. Miro ist ein moderner Tschetnik, er mag leckeren Macchiato.

Vom Fenster des Cafés aus können wir einen Platz sehen, der von einer Andrić-Statue beherrscht wird. Bei der verzweifelten Suche nach Gründen, wie und warum sie diesen Kroaten vereinnahmt haben, kommt den Serben die Tatsache zu Hilfe, dass der Schriftsteller in seinen Romanen die während des Osmanischen Reiches an den Serben verübten Gräueltaten (Pfählung und dergleichen) teils wahrheitsgetreu, teils talentiert mit literarischen Fiktionen beschrieb. Die Osmanen beherrschten dieses Gebiet bis 1918.

Regisseur Emir Kusturica wollte keine vorübergehenden Kulissen, errichten ließ er einen ständigen Kitsch. Regisseur Emir Kusturica wollte keine vorübergehenden Kulissen, errichten ließ er einen ständigen Kitsch. | Foto: © Andrej Bán Heute, 27 Jahre nach den Kriegen, die den Zerfall Jugoslawiens begleiteten, gehört Višegrad zu einer der beiden sogenannten Entitäten von Bosnien und Herzegowina, der Republika Srpska. Nach dem Ende der Kämpfe im Herbst 1995 wurde das Land durch die Machthaber im Abkommen von Dayton in zwei Entitäten aufgeteilt (die andere Teilrepublik ist die bosnisch-kroatische Föderation von Bosnien und Herzegowina).

Miro sagt, dass er bis zum Ausbruch des Krieges 1991 eher als Muslim denn als Serbe lebte. Er arbeitete im nahe gelegenen Goražde als einer von 5000 Arbeitern in einer Rüstungsfabrik. Er sei von dort nur mit einem Gewehr in der Hand geflohen, sagt er. Goražde war vor dem Krieg eine mehrheitlich muslimische Stadt, die von der UNO sogar zu einer der fünf sicheren Zonen erklärt wurde, wie Srebrenica. Die Serben flohen dorthin, um der Rache für die begangenen Massaker zu entgehen.

Miro Jeremić verzerrt hartnäckig die Geschichte. Von Verbrechen seiner eigenen Leute, den Tschetniks, will er gar nichts wissen. Das waren ihm zufolge alles Ustascha, Feinde der Serben. Selbst wenn er auf dem Mars geboren wäre, sagt er, würde er für sie immer ein Tschetnik sein und sie für ihn die Ustascha. Nicht nur die Liebe, auch der Hass geht also über das Grab hinaus.

Tourismus in einer armen, mit Massengräbern übersäten Region

Von der Kaffeehausdebatte, die in einen Streit auszuarten droht, kehren wir zurück in die Stadt, die auf den Ruinen einer ausgelöschten muslimischen Geschichte errichtet wurde. Kusturica wollte zunächst einen großen Film drehen, der auf Andrićs Roman basiert – über die örtliche, von der UNESCO geschützte Brücke und die Menschen um sie herum. Allerdings störte ihn die zeitliche Vergänglichkeit, denn Kulissen werden in der Regel nach Abschluss der Dreharbeiten abgerissen. Deshalb hat der Regisseur Andrićgrad erfunden, das „mindestens für immer“ dort stehen bleiben wird.

Kritiker haben diesem grandiosen Projekt Größenwahn und Kitsch vorgeworfen. Aber betrachten wir die Angelegenheit einmal pragmatisch. Nach den ursprünglichen Plänen soll die nagelneue historische Stadt mit einer Bibliothek, einem Theater und einem Universitätscampus vor allem als Attraktion für Urlaubsreisende dienen, um den Tourismus in einer armen, mit Massengräbern übersäten Region anzukurbeln.

Neben einigen kleineren hat dieses Projekt, das man sich vom kroatischen Dubrovnik abgeguckt hat, wenn auch ohne Adria und echte Geschichte, jedoch ein großes Problem. Statt einer pulsierenden Stadt gleicht Andrićgrad auch ein Jahrzehnt nach seiner Errichtung eher einer toten Filmkulisse. Die Kulisse der vergewaltigten Geschichte.

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