Social Fake  Im Zerrspiegel

Im Zerrspiegel Foto: ABDALLA M via unsplash | CC0 1.0

Sag mir, wem du folgst und ich sage dir, wer du bist. In der Ära der Influencer*innen zeigen Menschen ihr perfektes Leben, ihre perfekte Figur, ihre*n perfekte*n Partner*in und ihre vielen Freunde. So sieht es aus… nur in den sozialen Netzwerken. Echt daran ist die enorme Reichweite.

Liken, Teilen, Ängste, Depressionen

Soziale Netzwerke begleiten unser tägliches Leben –in unserer Freizeit, aber auch im Beruf. Im Jahr 2021 nutzten weltweit mehr als vier Milliarden Menschen soziale Netzwerke, und diese Zahl wird bis 2027 voraussichtlich auf fast sechs Milliarden ansteigen.

Der Einfluss sozialer Netzwerke ist erst seit kurzer Zeit Gegenstand von Forschungen und Studien, auch aus dem Grund, weil sie noch so neu sind. Es steht jedoch mit Sicherheit fest, dass unsere Aktivitäten in diesen Netzwerken, mit denen wir durchschnittlich etwa zweieinhalb Stunden am Tag verbringen, uns in hohem Maße beeinflussen. Auf der einen Seite können wir diesen Plattformen dankbar sein, dass sie unser Leben vereinfachen, auf der anderen Seite zeigen Studien jedoch, dass die häufigsten negativen Folgen des Nutzens sozialer Netzwerke Angst und Depression sind, die beiden häufigsten psychischen Störungen weltweit.

Bereits im Mai 2017 veröffentlichten die RSPH (Royal Society for Public Health) und das Young Health Movement einen Bericht, der die positiven und negativen Auswirkungen sozialer Netzwerke auf die Gesundheit zusammenfasst. Man fand heraus, dass ihr Konsum mit einer erhöhten Maß an Angstzuständen, Depressionen und schlechtem Schlaf verbunden war. Der ständige Blick auf andere, die sich im Urlaub amüsieren oder ihr pralles Gesellschafts- und Partyleben genießen, kann dazu führen, dass man sich unzulänglich und unbeliebt fühlt, und sich der eigenen „Gewöhnlichkeit“ bewusst wird.

Insbesondere im Jahr 2021 veröffentlichte Daten beschäftigen die Öffentlichkeit zu diesem Thema: Frances Haugen, eine ehemalige Produktmanagerin des Unternehmens Meta, zu dem auch Facebook gehört, hatte interne Dokumente an das Wall Street Journal weitergegeben. Dabei handelte es sich um Studien, die die schädlichen Auswirkungen von Facebook und Instagram auf Jugendliche belegen. Bei Meta wusste man demnach schon länger von diesen alarmierenden Ergebnissen, Konsequenzen zog das Unternehmen daraus aber nicht.

Vergleiche erleben wir bereits in der Kindheit

Die langfristige Nutzung sozialer Netzwerke hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers und damit auf das Körperbild. Dies betrifft jede*n, unabhängig von Alter und Geschlecht. Die sozialen Medien fördern diesen Trend der Selbstbeurteilung auf recht aggressive Art und Weise. Millionen von Fotos, die stündlich geteilt werden, setzen falsche Maßstäbe für Schönheit. Der bereits erwähnte RSPH-Bericht gibt an, dass neun von zehn Mädchen im Teenageralter mit ihrem Körper unzufrieden sind. „Zweiunddreißig Prozent der Mädchen im Teenageralter, die unzufrieden mit ihrem Körper sind, gaben an, dass Instagram dazu führe, dass sie sich noch schlechter fühlten“, so die Ergebnisse der Studie.

Die Psychologin und Neurotherapeutin Veronika Ragan erklärt, warum wir das Bedürfnis haben, uns mit anderen zu vergleichen, und nennt soziale Netzwerke unseren Spiegel. „Wenn wir uns selbst nicht gut kennen, dann fangen wir an, uns zu vergleichen, und zwar mit einem unrealistischen Bild, das wir vom Leben anderer Menschen haben. Wenn uns beigebracht wird, uns von Haus aus zu vergleichen, kann dies durch soziale Netzwerke noch verstärkt werden. Viele von uns wurden in der Kindheit  gefragt, ‚Welche Noten hast du in der Schule bekommen?‘ und nicht etwa ‚Wie geht es dir?‘ Wir haben gelernt, dass wir nur für eine bestimmte Leistung Liebe bekommen. Oder wir bekamen zu hören, dass dieser und jener Freund bessere Noten hat oder ein anderer zu Hause besser gehorcht als wir, da braucht sich dann niemand zu wundern, wenn wir uns mit anderen vergleichen.“
 
Studien und Daten, die über schädliche Auswirkungen des Instagram-Konsums auf junge Frauen und Mädchen berichten, gibt es viele. In einer Studie aus dem Jahr 2018 wird beispielsweise berichtet, dass sich Frauen im Hochschulalter minderwertig und weniger attraktiv fühlen, wenn sie sogenannte Selfies machen und posten. Und das selbst dann, wenn sie sie retuschieren konnten. Darüber hinaus verstärken soziale Netzwerke den Wunsch nach kosmetischer Chirurgie. Etwa siebzig Prozent der 18- bis 24-Jährigen der Respondent*innen würden den RSPH-Untersuchungen zufolge eine Schönheitsoperation in Betracht ziehen.

Doch erst 2019 verbot das soziale Netzwerk Instagram die Verwendung von Filtern, die speziell mit virtueller Realität arbeiten und plastisch-chirurgische Eingriffe simulieren können. Dazu gehören zum Beispiel Lippenvergrößerungen, Wangenknochen- oder Augenkorrekturen. Bis dahin verglichen sich viele junge Mädchen mit den perfekten, aber falschen Gesichtern von Influencer*innen, oder, was vielleicht noch schlimmer ist, mit ihrem eigenen verschönerten Ich.

„Den Drang, sozialen Vorbildern und Influencer*innen nachzueifern, gab es schon lange bevor die sozialen Netzwerke entstanden“, so die Psychologin Ragan. „Wenn man uns Zuhause beibringen würde, uns selbst wertzuschätzen, wären wir vielleicht mal kurzzeitig ein wenig betrübt, aber die Selbstzweifel wären nicht so stark.“ In ihrer Praxis stößt sie auf ähnliche Probleme. „Kürzlich erzählte mir eine Klientin in einem Gespräch, wie sehr ihr Partner sie verletzt habe, als er ihre Schönheit bewertete und sie sich so mit anderen Frauen verglichen fühlte. Irgendwo beginnt und endet alles in Beziehungen, in unseren Verletzungen und Selbstzweifeln. Ob wir es wollen oder nicht, Schönheit ist das, was die Welt bewegt. Aber wenn jemandem beigebracht wurde, dass dies sein einziger Wert ist, dann ist alles, was diesen Wert in Frage stellt oder bedroht, sehr heikel.“

Realität ohne Filter

Das harte Durchgreifen des Instagram-Managements beim Verbot von Filtern bedeutet jedoch nicht, dass jegliche Fakes von dort verschwunden ist. Das Problem mit der Bearbeitung der Realität ist viel umfassender. Viele Profile haben „gefakten“ Erfolg mit Fotos von einem gepflegten, athletischen Körperbau, Luxusurlauben oder sogar davon, wie wunderbare, kalorienreiche Gerichte verzehrt werden, die das betreffende Model letztendlich nicht einmal gegessen hat. Andere werben für Produkte, die sie noch nie im Leben ausprobiert haben.

Der Psychologin zufolge steckt hinter dem Wunsch junger Menschen, trotz Fotobearbeitung, irreführender und falscher Identitäten in sozialen Netzwerken beliebt zu sein, die „Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Vielleicht ist es der Wunsch, irgendwo dazuzugehören und eine relevante Gemeinschaft für sich selbst zu schaffen. Wenn eine Person im realen Leben nicht so viel Aufmerksamkeit bekommt, wie sie bräuchte, oder es ihr an Wertschätzung fehlt, macht sie das mit positiven Bewertungen im Netz wett. Jeder will natürlich cool sein, was nur mit dem Versuch zusammenhängt, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden und zu behaupten. Nicht so sehr in Bezug auf Position und Macht, sondern eher in Bezug auf soziale Beziehungen.“ Sie weist jedoch darauf hin, dass „man diese Bedürfnisse eine Zeit lang befriedigen kann, aber ein Ersatz für echte Beziehungen ist das nicht. Jeder von uns ist auf der Suche nach der richtigen Gruppe von Menschen, in der wir uns austauschen, lachen, necken, aneinander wachsen und uns sicher fühlen können.“

Zum Glück gibt es heute schon viele Accounts, die ihren Follower*innen zeigen, dass auch Instagram-Models nicht wie Instagram-Models aussehen. Unter den Hashtags #bereal, #nomakeup, #realitycheck und dergleichen zeigen sie sich von ihrer wahren, unvoreingenommenen Seite. Das Essen muss nicht immer perfekt dekoriert sein, nicht jeder Tag perfekt, und die Figur nicht in jeder Pose makellos. Zudem kann sich eine derartige Ehrlichkeit positiv auf heranwachsende Mädchen und Jungen auswirken, indem sie ihnen vor Augen führt, dass die Realität in den sozialen Medien oft ganz anders aussieht und selbst die Anzahl der Herzchen die Falschheit ihres „perfekten“ Lebens nicht wettmacht.

Sozialisierung offline

Welche Präventivmaßnahmen gegen psychische Probleme bei der Nutzung sozialer Netzwerke empfiehlt die Psychologin? „Wir können auf unsere Beziehungen schauen und darauf, wie wir leben. Soziale Beziehungen sind nur eine bestimmte unabhängige Variable, die dabei eine Rolle spielt. Das Wichtigste ist, jemanden zu finden, mit dem man reden und sich austauschen kann. In den meisten meiner Fälle, auch bei meinen jugendlichen Klienten oder jungen Erwachsenen, geht es um ersten Liebeskummer, Missverständnisse mit den Eltern, Mobbing und Gefühle der Einsamkeit. Die Abkoppelung von anderen ist die Ursache für Leid, Schmerz und Einsamkeit, nicht die sozialen Netzwerke. Es ist der Verlust von Verbundenheit und Intimität, von Nähe, Tiefe und erfüllenden Beziehungen“. Daher ist es wahrscheinlich am besten für einen gesunden Konsum von sozialen Netzwerken, sich erfüllende Beziehungen aufzubauen, und zwar insbesondere im Offline-Leben.

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