Im Jahr 1982 beantragte Jindřich Tomeš politisches Asyl in Frankreich. In der Tschechoslowakei (ČSSR) hatte er die Charta 77 unterzeichnet. Ins „kapitalistische“ Ausland flüchtete er mit einem fremden französischen Pass, nachdem sich er bereits vorher monatelang versteckt hatte, um einer Gerichtsverhandlung zu entgehen. Die Französin Carole Paris brachte ihn in Sicherheit, unter Umständen, die so auch in einem Thriller von John Le Carré vorkommen könnten.
„Rowdys“ auf der Hochzeit
Mit 21 Jahren war Tomeš zum ersten Mal aus politischen Gründen inhaftiert. Die damalige Anschuldigung und Verurteilung (wegen „Rowdytums“) war eine einzige Farce und verdient es, genauer angesehen zu werden. Die Staatssicherheit hat sich bei der „Konstruktion eines konstruierten Prozesses“ gegen die nordböhmischen Undergrounder keine besondere Mühe gegeben.Im März 1980 feierte ein Freund von Tomeš in einem Vorort von Ústí nad Labem Hochzeit. Für die private Feier mietete er einen Saal in einer Gaststätte. Unter den Hochzeitsgästen waren viele weitere Langhaarige [sog. Máničky, meist Angehörige von musikalischen Subkulturen, die in der ČSSR Diffamierungen und Repressalien ausgesetzt waren, Anm.d.Red.]. Mitglieder der Hilfspolizei (normale Bürger mit entsprechenden Armbinden) kontrollierten ihre Ausweise, uniformierte Polizisten kamen nicht. Trotzdem griff die Polizei zwei Monate im Mai 1980 später zu.
Jindřich Tomeš hatte auf der Hochzeit eigene Lieder gesungen. Ein Bekannter, der ein Informant der Staatssicherheit war, hatte Tomeš und Charlie Soukup, einen weiteren Liedermacher, denunziert: Sie hätten angeblich unanständige, staatsfeindliche Texte gesungen. Beide wurden festgenommen und kamen ins Gefängnis.
Die Gerichtsverhandlung mit Karel „Charlie“ Soukup und Jindřich Tomeš fand am 4. und 5. November 1980 in Ústí nad Labem statt. Laut der Mitteilung Nr. 261 des Komitees zur Verteidung unrechtmäßig Verfolgter (Výbor na obranu nespravedlivě stíhaných – VONS) [VONS war eine 1978 gegründete Bürgervereinigung in der Tschechoslowakei, die die Fälle von politisch Verfolgten beobachtete und öffentlich machte. Anm.d.Red.] soll der folgende Dialog das Wesen der Verhandlung treffend einfangen.
Soukup: „Ich vermute, dass /literarische/ Texte nicht von einem Gericht beurteilt werden können.“ Richter: „Wenn es so weit kommt, dass Sie hier sind, dann schon.“
Aber es half alles nichts: Soukup bekam zehn Monate Gefängnis wegen Rowdytums, Tomeš ein Jahr. Ein Berufungsgericht bestätigte das Urteil. Mehrere Personen hatten zur Verteidigung der Angeklagten einen Brief an den zuständigen Staatsanwalt unterschrieben, einige Dissidenten traten aus Protest einen Ketten-Hungerstreik an – erfolglos. Tomeš saß den Rest seiner Strafe im Gefängnis in Bělušice bei Most ab.
Haarefärben vor der Flucht: Jindřich Tomeš im November 1982 | Foto: © Post Bellum
Flucht in die Illegalität
Nachdem Jindřich Tomeš 1981 aus dem Gefängnis entlassen wurde, dauerte es etwa zwei Monate bis ihn die Staatssicherheit erneut ins Visier nahm. Dieses Mal kam er zunächst nicht in Haft, aber er sollte vor Gericht erscheinen wegen einer angeblichen falschen Zeugenaussage. Tatsächlich wurde ihm vorgeworfen, er habe einen Bekannten aus Ústí, der in einem Blumentopf Hanf angepflanzt hatte, nicht denunziert. Auf die Frage der Polizei, ob er den Anbau von Marihuana bestätigen könne, hatte Tomeš geantwortet: „Ich weiß davon nichts.“Auf dem Weg zum Gericht, sah er, wie eine Freundin gerade in Handschallen abgeführt und ins Gefängnis gebracht wurde. Für Tomeš war klar, dass er keinesfalls wieder hinter Gitter wollte. Er absolvierte deshalb nur einen Teil der Gerichtsverhandlung und ergriff während einer günstigen Gelegenheit die Flucht. Er versteckte sich abwechselnd in den Wohnungen von Bekannten, die Kriminalpolizei gab eine landesweite Fahndung nach ihm heraus.
Angeblich soll Jindřich Tomeš geplant haben, aus der Illegalität weiter gegen das Regime zu kämpfen. So habe er eine geheime Druckerei für den Samizdat gründen wollen. Aber schließlich hatte er genug damit zu tun, um sich selbst in Sicherheit zu bringen, dass für politischen Widerstand weder Zeit noch Kraft blieb. Er fuhr nach Prag, wo er leichter untertauchen konnte als in Ústí, aber auch in der Hauptstadt musste er seinen Aufenthaltsort ständig wechseln, um seine Freunde nicht in Gefahr zu bringen.
Gleichzeitig durfte er so wenig wie möglich nach draußen gehen, denn es war damals gang und gäbe, dass Beamte der Staatssicherheit Ausweise kontrollierten und Tomeš hatte falsche Papiere. Schließlich nahm ihn die Dissidentin Alena Bytomská-Kumprechtová bei sich auf. Er hatte sie zufällig in einer Kneipe kennengelernt, wo er sich Zigaretten besorgen wollte. Bei ihr zu Hause lernte Tomeš dann im Februar 1982 die französische Studentin kennen, die ihm zur Flucht in den Westen verhalf.
Mit fremden Pass nach Paris
Carole Paris (*1960) studierte Germanistik und Russistik. Sie hatte ein außergewöhnliches Talent für Sprachen, und so hatte sie auch hervorragend Tschechisch gelernt. Regelmäßig reiste sie aus Frankreich zu den tschechoslowakischen Dissidenten. Auf der ersten dieser Reisen war sie als Kurierin für den Herausgeber der Exilzeitschrift Svědectví (etwa: Zeugenaussage) Pavel Tigrid unterwegs. Carole Paris freundete sich mit Jindřich Tomeš an und weil seine Situation ausweglos erschien, machte sie sich Gedanken, wie sie ihm wohl helfen könnte.Im August 1982 verbrachte Carole einige Wochen in Mähren für einen Tschechischsprachkurs. In Brno sollte sie sich mit Tomeš treffen, es kam jedoch eine Polizeirazzia dazwischen, vor der Tomeš im letzten Augenblick entkommen konnte. Carole fand dann heraus, dass auch sie von der Geheimpolizei beschattet wurde: „Damals habe ich Jindřich angeboten, dass ich ihm zur Flucht verhelfe. Er zögerte erst, aber dann stimmte er zu, denn er erkannte, dass die Situation nicht mehr zum Aushalten war. Dass sie ihn über kurz oder lang einsperren würden und mit ihm alle, die sich um ihn gekümmert hatten.“
Carole Paris dachte sich einen Fluchtplan aus. Um überhaupt in die ČSSR zu kommen, täuschte sie die französischen Behörden und beantragte für sich einen Pass auf den Namen einer Freundin. Sie änderte ihre Frisur, ihre Brille und Kleidung, und schminkte sich: „Mit meinem neuen Aussehen habe ich meine Eltern besucht. Mein Vater öffnete die Tür und fragte mich höflich, wen ich suche und was ich wollte. Das begann also schonmal vielsprechend.“
Mit Emmanuel, einem Freund, der Tomeš entfernt ähnlich sah, vereinbarte sie Folgendes: Sie reisen zur gleichen Zeit aus Frankreich in die ČSSR und Emmanuel übergibt ihr dann in Prag seine Papiere; Carole unter fremden Namen und Jindřich Tomeš (umgezogen, frisiert und geschminkt) mit Emmanuels Pass fahren dann mit dem Zug nach Paris; Emmanuel meldet dann, dass er seinen Pass in Prag verloren habe, und weil er für Tschechoslowakei ein Unbekannter ist und ihn niemand weder mit Tomeš noch mit Carole in Verbindung bringen kann, wird er ohne Probleme mit einem Ersatzreisepass nach Hause zurückkehren können.
Der Pass des Franzosen Emmanuel Oudara, mit dem Jindřich Tomeš die Tschechoslowakei verließ | Foto: © Post Bellum
„Zünd dir eine an, es wird schon gut gehen…“
Bei einer ersten Reise bekam Emmanuel einen Schreck und machte einen Rückzug, als er sah wie „verspitzelt“ die Tschechoslowakei ist und wie der Eiserne Vorhang in Wirklichkeit aussieht. Schließlich willigte er aber in einen zweiten Versuch ein. Nachdem Carole seinen Pass entgegengenommen hatte, traf sie sich mit Jindřich Tomeš im Bahnhof Prag-Holešovice: „Ich habe ihn gegrüßt und ihn gefragt, wie es ihm geht, aber er schaute mich nur komisch an, was ich wohl von ihm wolle. Ich sagte dann: ,Ich bin’s doch, Carole.‘ Nicht mal er hat mich erkannt.“ Und auch auf ihn wartete eine Verwandlung: damit er zumindest ein bißchen aussah wie Emmanuel. Freunde färbten Tomeš die Haare und klebten ihm falsche Augenbrauen an.Erst als er und Carole in den Zug nach Paris stiegen, wurde ihnen bewusst, wie hoch das Risiko war. Tomeš gab sich als Franzosen aus, ohne ein Wort französisch zu sprechen, Carole reiste mit einem Pass, den sie sich durch Betrug verschafft hatte, und schmuggelte einen landesweit gesuchten Menschen über die Grenze, während sie selbst keine Ahnung hatte, ob und wie die Staatssicherheit sie als Ausländerin überwachte:
„Jindřich war nervös, er schwitzte und die angeklebten Augenbrauen begannen sich zu lösen. Ich hab ihm gesagt: ,Zünd dir eine Zigarette an, es wird schon gut gehen.‘ Dann kamen die Zöllner mit Hunden. Er wurde unsicher, wusste nicht, ob das normal ist oder ob sie ihm schon auf der Spur waren. Dann folgte die Passkontrolle, aber alles klappte reibungslos. An der Grenze habe ich behauptet, Jindřich spreche ausschließlich Französisch, alles habe ich ihm ,übersetzt‘, er schwieg. Wir überquerten die Grenze nach Deutschland, aus Frankfurt haben wir dann eine Freundin angerufen, dass wir es geschafft hatten – und damit war das erledigt.“
Eine kleinere Komplikation gab es erst an der deutsch-französischen Grenze, als der aufmerksame Grenzbeamte bemerkte, dass Tomešs Pass nicht unterschrieben war und Tomeš ihn nicht verstand. Aber da waren sie bereits in der „freien Welt“. Jindřich Tomeš beantragte politisches Asyl in Frankreich und lebt dort noch heute – im Elsass. Carole Paris heiratete später den tschechischen Schriftsteller Jaroslav Formánek.
Dieser Text erschien bereits im tschechischen Watchdog-Magazin HlídacíPes.
November 2019