Warum sich dreißig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die beiden Nachbarländer Deutschland und Tschechien immer noch in der Annäherung befinden: eine Analyse von Zuzana Lizcová.
Die Länge einer Staatsgrenze lässt sich ziemlich leicht bestimmen. Ein paar Klicks mit der Maus genügen und wir wissen, dass die Linie, die zwischen Deutschland und Tschechien verläuft, volle 817 Kilometer misst. Eine derart lange Grenze teilen die Tschechen mit keinem anderen Land, die Deutschen nur mit Österreich. Viel schwieriger aber ist die Frage, wie es sich auf beiden Seiten der Trennlinie lebt. Was haben die einen den „anderen“ zu sagen? Und sind sich Deutsche und Tschechen bedeutend näher gekommen in den letzten 30 Jahren?„Ja, eindeutig ja!“, behaupten einstimmig führende Ökonomen und Politikerinnen beider Länder. Sie haben ohne Zweifel recht. Der unüberwindbare Eiserne Vorhang wurde durch die Freizügigkeit von Personen und Waren ersetzt. Deutschland und die Tschechische Republik sind heute gemeinsame Mitglieder von NATO und Europäischer Union. Mit den Traumata der Vergangenheit beschäftigen sich statt Diplomaten Historikerinnern und Schriftsteller. Der gemeinsame Handel wächst seit langer Zeit.
Der Handel läuft wie geschmiert
Deutschland ist für Tschechien in den letzten drei Jahrzehnten der unangefochten größte ausländische Handelspartner und Investor. Und auch das kleine Tschechien ist für seinen Nachbarn nicht unbedeutend. Es reiht sich problemlos in die Top Ten der wichtigsten wirtschaftlichen Partner der Bundesrepublik ein. Die Fragen der weiteren Zusammenarbeit bearbeitet in den letzten Jahren zudem der Strategische Dialog zwischen Berlin und Prag, der auf Ebene der Ministerien geführt wird. Und nicht nur das – Tschechien pflegt auch intensive Kontakte mit den benachbarten Bundesländern Bayern und Sachsen.Bedeuten diese Erfolge in Politik und Handel, dass sich auch die Gesellschaften und Bürgerinnen und Bürger beider Länder weiter annähern? Interessant ist, dass die Zahlen hier keine so klare Sprache mehr sprechen. Sie legen eher nahe, dass zwischen Deutschen und Tschechen – bildlich gesprochen – gewisse Reste des Eisernen Vorhangs bestehen bleiben, ob nun in der Realität oder nur mental.
Nah und fern
Die tschechische Wirtschaftsleistung beispielsweise hat sich der deutschen angenähert, bleibt aber weiterhin bedeutend zurück. Das tschechische Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt beträgt gegenüber der Bundesrepublik nicht einmal die Hälfte, der Durchschnittslohn ein Drittel. Trotz gewisser Verbesserungen bleiben große Lücken auch in der grenzüberschreitenden Infrastruktur, vor allem im Eisenbahnverkehr. Der Weg von Prag nach München dauert auch in der Zeit der Hochgeschwindigkeitszüge nach wie vor lange fünf Stunden. Und auch zwischen weiteren deutschen und tschechischen Städten fehlt (mit Ausnahme der Trasse Berlin-Dresden-Prag) eine bessere Verbindung.Gerade auch die Sprachkenntnisse sind alles andere als umwerfend. In Tschechien ist das Deutsche laut Studien zwar die am zweithäufigsten genutzte Fremdsprache, auf fortgeschrittenem oder höherem Niveau sprechen es aber nur 8,5 Prozent der Bevölkerung. Tschechisch im Gegenzug können so wenig Deutsche, dass darüber nicht einmal Statistiken geführt werden. Das Englische, das immer mehr Menschen sprechen, kann diese Unzulänglichkeit überbrücken, aber nur teilweise und nicht in jeder Lebenssituation. Umfragen aus dem Grenzgebiet belegen dies eindeutig.
Mit der Sprache hängt vielleicht auch die Tatsache zusammen, dass Deutschland für Tschechen nicht gerade zu den beliebtesten Reisezielen gehört – und auch Tschechien für Deutsche nicht. Im Fall von Fernreisen ist dies verständlich, im Fall von Kurztrips schon weniger. Knapp gesagt scheint es, dass für eine Reihe von Tschechen Deutschland auch weiterhin eine schnelle Autobahn bleibt auf dem Weg zu „interessanteren“ Orten.
Und Tschechien nehmen auch heute noch viele Deutsche als etwas seltsames und zurückgebliebenes Land im Osten wahr. Dies gilt aber selbstverständlich nicht für alle. Die Bewohnerinnen und Bewohner der sogenannten Neuen Bundesländer sind den Tschechen klar näher. Und die Gesamtzahlen deutscher Gäste in Tschechien und tschechischer in Deutschland steigen in den letzten Jahren – langsam, aber stetig.
Günstig erscheint die Tatsache, dass die Zahl deutscher Studierender an tschechischen Hochschulen in den letzten Jahren wächst. Umgekehrt ist dies aber nicht der Fall – die Zahl von Tschechinnen und Tschechen an deutschen Universitäten hat in den letzten 15 Jahren abgenommen. Auch so bleibt Deutschland für sie aber die beliebteste Zieldestination.
Kultur sorgt für Annäherung, die Politik weniger
Zwischen beiden Ländern gibt es heute einen lebendigen und interessanten kulturellen Austausch, beliebt sind die traditionellen großen Film- und Theaterfestivals sowie kleinere regionale Initiativen. Die Zahl an Buch-Übersetzungen beispielweise folgt diesem Trend aber nicht – aus dem Deutschen ins Tschechische (und umgekehrt) werden jedes Jahr weniger Titel übertragen.Eine gemischte Bilanz geht auch aus Untersuchungen dazu hervor, wie Deutsche und Tschechen einander wahrnehmen. Sie legen beispielsweise nahe, dass im Grenzgebiet nicht gerade großes gegenseitiges Vertrauen herrscht. Und wiederholen auch, dass sich weder die einen noch die anderen besonders für ihre Nachbarn interessieren würden oder dass sie anderen Nachbarn den Vorzug geben (Tschechen zum Beispiel Slowaken oder Österreichern und Deutsche Skandinaviern).
Möglicherweise ist der Hintergrund dieser Ergebnisse auch, dass sich die Mehrheit der deutschen oder tschechischen Gesellschaft nicht auf gemeinsame Lösungen für grundlegende Herausforderungen der Gegenwart einigen kann – etwa in Fragen von Klimawandel, Migration oder Europäischer Integration.
Die Vielfalt des Lebens, von Erfahrungen und zwischenmenschlichen Beziehungen können können allerdings keine Statistiken einfangen. Auch können sie verschieden ausgewählt und ausgelegt werden. In verschiedenen Gesprächen darüber, warum sich Deutsche und Tschechen eigentlich nicht noch näher sind, fallen aber häufig zwei Argumente. Nennen wir sie Normalität und Globalisierung.
Die „langweiligen“ Nachbarn
Eine Normalität liegt darin, dass sich Deutsche und Tschechen eigentlich sehr ähnlich sind. Beide Länder sind relativ stabil und im Vergleich mit dem Rest der Welt sind sie nicht durch sonderlich dramatische Ereignisse geprägt. Tschechien wird nicht von Viktor Orbán oder Jaroslaw Kaczyński regiert, Deutschland nicht von Donald Trump oder Boris Johnson. Die Berichterstattung über den anderen weckt in der Regel keine großen Emotionen und füllt nicht die Titelseiten der Zeitungen. Deutsche und Tschechen sind für den jeweils anderen – im positiven Sinne – ein bisschen langweilig.Damit hängt auch das Globalisierungs-Argument zusammen. Warum sich gerade für das interessieren, was um die Ecke liegt, wenn sich einem die ganze Welt öffnet? Warum mit dem Zug oder Auto in das Nachbarland tuckern, wenn ich in derselben Zeit in die wärmsten und exotischsten Gefilde fliegen kann? Warum sich angesichts der riesigen globalen Konkurrenz gerade für deutsche oder tschechische Kunst, Theater oder Musik interessieren?
Gründe gibt es sicher eine Menge. Nur bieten sich diese in der heutigen Flut von Angeboten nicht von selbst an und es ist nötig, sie auch ein bisschen zu suchen. Hier kommt man nicht ohne eine gewisse Menge gesunder Neugierde aus. Gerade diese würde uns für die Zukunft auf beiden Seiten der deutsch-tschechischen Grenze sehr wohltun.
Für den Einzelnen sind drei Jahrzehnte eine lange Zeit, für eine Gesellschaft nur eine Episode. In diesem Kapitel der gegenseitigen Beziehungen haben Deutsche und Tschechen nach jahrzehntelangen Zerwürfnissen und Isolation ein riesiges Stück auf dem Weg zum gegenseitigen Kennenlernen, Verstehen und Zusammenarbeiten zurückgelegt. Statt eines Happy End öffnet sich für uns aber ein neues Kapitel. Es liegt an uns, was in diesem geschrieben stehen wird.
Oktober 2019