Wohnen & Teilen  Räume und Träume

Räume & Träume Fotos: © privat

Der literarische Text von Bernardeta Babáková hat klare realistische Konturen. Außer nach dem eigenen Raumes, einem Zimmers für sich allein, stellt Bernardeta Babáková auch Fragen nach Freiheit und Intimität und thematisiert diverse Herausforderungen, die das Wohnen mit sich bringt. Wie kann ein (junger) Mensch heute überhaupt wohnen? Wie geht Teilen ohne Eigentum? Und wie verändert die fehlende Möglichkeit eines „adäquaten” Wohnraums unsere Alltagsrealität? 

Solange ich bei meiner Familie lebte, habe ich nicht darüber nachgedacht, wie wichtig und kompliziert zugleich das Thema Wohnen eigentlich ist. Was muss eine*r alles nicht auf dem Schirm haben: Putzen, Waschen, Bettwäsche besorgen, Matratzen, Betten, Tische, Stühle, Geschirr und Nahrung, Heizen, Reparieren, Instand setzen, Installieren, hier ein kaputtes Klo, da ein morscher Balken, verschimmelte Fenster, schmutzige Fenster, Nebenkostenabrechnungen und alle paar Jahre auch noch mal streichen. Alles muss irgendwo gelagert, die Vorräte aufbewahrt werden. Wie viel Raum, Arbeit, Geld und Energie kostet eine*n das Thema „Wohnen“! Die Hausarbeit sowie die Anforderungen, mich an der Pflege des gemeinsamen Wohnraums zu beteiligen, nahm ich früher nur als ein weiteres Herrschaftswerkzeug wahr, als ein Mittel, mich aus meiner eigenen Welt zu entreißen, aus der Zeitlosigkeit der frühen Lebensphase.

Zuerst muss man die Möbel nur immer wieder entstauben. Später sich ein paar eigene besorgen, sie zusammenbauen und dann nach einiger Zeit wieder auseinander, um sie ins Auto ein- und an einer anderen Adresse wieder auszuladen. Oder sie irgendwo austauschen, verhökern, vergessen oder verantwortungsbewusst zum Werkstoffhof bringen. Also falls man nicht nur mit einer Matratze als einzigem Möbelstück lebt. In den letzten neun oder zehn Jahren bin ich fast jährlich umgezogen, manchmal sogar mehrmals im Jahr. Ein Leben in Bananenkisten verpackt, mit Klebeband umwickelt oder irgendwo in einer Plastiktüte tief unterm Bett vergessen. Die angebrochenen Stängel der Zimmerpflanzen erholen sich in zwei Monaten wieder, aber wie lange braucht es, um anzukommen, sich es wohnlich zu machen und auszuatmen nach der zermürbenden Zeit wiederholter Ablehnungen und neuem Suchen, Packen, Transportieren und Auspacken?

Die Kündigungsfrist eines Mietverhältnisses beträgt drei Monate. Ungefähr ein Vierteljahr steht man also schon mit einem Fuß auf der Straße, scrollt sich durch unzählige Anzeigen, schaut sich Wohnungen an, schreibt Emails, telefoniert herum. Ich besaß noch nie eine Immobilie. Mir war lange nicht bewusst, welchen Luxus mir meine Familie damit ermöglichte, dass ich in einem Haus mit Garten aufwachsen durfte. Meine einzigen Aufgaben waren Müll wegbringen, am Samstagvormittag das geflieste Bad schrubben und vor Weihnachten die frisch gewaschenen Gardinen aufhängen. Es war alles sehr schön da. Dennoch bin ich in eine Stadt gezogen. Und dort begann meine Odyssee von einem befristeten Miet- oder Untermietverhältnis zum nächsten. „Ist das denn die Möglichkeit?“, werde ich gefragt, wenn ich auf die Frage, was es Neues gebe, antworte: ein neuer Mietvertrag in einer anderen Großstadt. Möglich ist es, weil die Dauer aller Verträge, egal ob Miete oder Job, auf ein Jahr beschränkt ist.

„Und eine Hypothek könntest du dir nicht leisten?“, fragt mich ein älterer Verwandter. Ich lächle schüchtern: „Und du?“ Der restliche Nachmittag dreht sich ums Wetter oder das Gassigehen mit dem Hund. Nicht mit meinem, denn Haustiere verringern die Erfolgsaussicht auf dem Wohnungsmarkt. Und das will ich auf keinen Fall riskieren.


Räume & Träume 1 Foto: © privat Hast du mal drüber nachgedacht, warum wir im Tschechischen für Frieden und Zimmer ein und dasselbe Wort [pokoj] haben? Und weißt du, was mein Lieblingsteil bei der Messe ist?
„Grüßt Euch im Namen des Zimmers… also: des Friedens.“

Oder auch die Phrase „Gib mir ein Zimmer“ für „Lass mich in Frieden“ – wie abschätzig das früher für mich klang! Als würde man eine Fliege verjagen. Und heute muss ich immer zuerst an ein Zimmer denken, wenn ich Frieden höre. Ein friedvoller Raum. „Gib mir ein Zimmer“ ist heute fast das Beste, was man jemanden wünschen kann. Fast schon wie „Bleiben Sie gesund!“

Zwei Drittel meiner monatlichen Einnahmen

Du schaust in die Sonne und blinzelst sehr schnell. Dann kommt ein Marienkäfer angeflogen. Bevor du die Punkte auf seinen Flügeln zählen kannst, surrt er und zieht wieder seine Kreise in der Frühlingsluft. Du warst noch nie allein. Und auch jetzt bist du es nicht. Wir sitzen am offenen Fenster in einem Zimmer, in dem alles dir gehört, alles, außer das Bad.

Ein Minischrank für drei bis fünf Bücher. Ein aus dem Hotel gestohlener Kühlschrank. Also eher eine Minibar, das Essen wird darin spätestens in zwei Tagen schlecht. Ein um ein Drittel schmaleres Bett als das, das in deinem alten Kinderzimmer stand. Das Zimmer hast du mit deinen Geschwistern geteilt, hier wechseln sich junge Frauen ab mit fremd klingenden Namen. Wenn sie zu unruhig schlafen, kullern sie nachts aus den Betten wie reife Birnen. Über denen kreisen im Sommer böse Wespen. Deine Gedanken kreisen auch, spiralförmig schweifen sie ab, zeichnen die Bahnen der Bestäuber nach.

Komm, es ist doch nicht so schlimm. Denk an deinen Bruder und sein Zimmer in der Pariser Vorstadt, die Dusche eingezwängt zwischen Waschbecken und Kloschüssel, wenn man sich waschen wollte, konnte man dabei auf dem Klo sitzen.

Eigentlich geht es mir ganz gut, obwohl ich mir für zwei Drittel meiner monatlichen Einnahmen nur ein einziges Zimmer leisten kann. Aber das ist ja eine alte Leier. Eigentlich geht es mir ganz gut, obwohl ich mir das Zimmer oft mit jemanden teile, den morgens nie sein Wecker weckt und der manchmal noch eine ganze Stunde lang klingelt.

Eigentlich geht es mir ganz gut. Denn ich hätte ja auch in einem Slum wohnen können. Und die Menschen, mit denen ich manchmal mein Zimmer teile, suche ich mir selbst aus, ich suche sie aus, obwohl ihre Wecker auch am Wochenende klingeln. Aber es hätte noch viel schlimmer kommen können. Sie hätten auch schnarchen oder schmatzen und alles vollkrümeln können. Oder stinken. Und sie hätten auch fünf mehr sein können. Und die ganze Zeit da sein. Oder ich hätte auch gar nichts zum Wohnen haben können.

Und da haben wir es wieder.

Räume & Träume 2 Foto: © privat „Wir waren dreißig und haben in Schichten geschlafen“, erzählt uns die Nachbarin aus der Platte. Und schiebt dann hinterher, der Krieg hätte aus uns allen harte Kerle gemacht. Schüchtern schauen wir auf unsere Röcke und Kleider. Sie winkt in Richtung Fernseher, wo gerade Nachrichten von der ukrainischen Front laufen. Ich kann sie verstehen.

Frauen definieren Verschiedenheit neu

Wir gehen jetzt, alle drei, ihr hättet vermutlich gesagt: zwei Frauen und ein noch ziemlich kleines Mädchen. Den Essay über das Zimmer für sich allein kennen wir sehr gut. Wir kennen auch Audre Lordes Essay Alter, Race, Klasse und Gender: Frauen definieren Verschiedenheit neu. Lorde beschäftigt sich darin noch einmal mit Woolfs Text und kommt auf einen ziemlich interessanten Gedanken: „Von allen Kunstformen ist das Gedicht die ökonomischste. Es ist am geheimnisvollsten, erfordert die geringste körperliche Anstrengung und das wenigste Material. Es kann zwischen zwei Arbeitsschichten geschrieben werden, im Lagerraum eines Krankenhauses, in der U-Bahn, auf überschüssigen Papierfetzen. Und sie führt fort: Ein Zimmer für sich allein mag notwendig sein, um Prosa zu schreiben, doch man braucht eben auch Berge von Papier, eine Schreibmaschine und viel Zeit.“

„Schreibst du gerade an etwas?“, die Frage taucht plötzlich zwischen uns auf.
„Ich habe keine Zeit zum Schreiben“, sagt die, die das kleine Mädchen an der Hand hält.
„Ich habe keinen Raum zum Schreiben“, sagt die mit den leeren Armen.

Wir teilen uns einen Schreibtisch im Büro. Und versuch mal zu Hause zu schreiben, wenn die neue Nachbarin ständig mit dem Besen an die Wand hämmert, wenn der PVC-Belag sich vom Boden löst, wenn man im Erdgeschoss hockt mit Fenstern fast auf Straßenniveau und die Passanten nicht einmal zögern, sich direkt vor dir zu erleichtern, wenn nachts der Mitbewohner an die Tür klopft, der dein Liebesleben aus dem Müll im gemeinsamen Mülleimer zu orakeln versucht.
Ob es dich gibt oder nicht, ich rede nicht mit dir!
Es gibt keinen Safe Space!


Räume & Träume 3 Foto: © privat

Ich bin am liebsten in der Küche

Kein Zimmer für sich allein. Höchstens als Wunschdenken.
Ich habe eine Feldstudie durchgeführt, doch die Frühlingsluft hat meinen Kopf vernebelt und so sind nur folgende Fetzen übrig geblieben:
  • Gipskarton und ein trampelnder Mader.
  • Verschimmelte Bettfüße.
  • Die gelben Klebesterne leuchten nachts sehr schwach seit dreiundzwanzig Jahren. Der Mond ist abgefallen.
  • Im Winter ist es im Zimmer zu kalt, im Sommer zu heiß.
  • Statt eines Grußes warteten Reißzwecken unter dem Spannbettlaken.
  • Durch die Mitte des Zimmers wurde mit Kreide ein dicker Strich gezogen: Meins – Deins.
  • Die Teile des Tisches, die den Schwestern gehörten, durfte man nicht anfassen.
  • Meine Eltern wollten nicht, dass ich die Zimmertür zumache. Wir waren alle unter ständiger Beobachtung. Später habe ich verstanden, dass Mutter Angst hatte, mit Vater allein zu bleiben. Die offenen Türen waren ihre Absicherung.
  • Ich bin am liebsten in der Küche.
  • Bevor sich meine Eltern trennten und Mutter immer in einen hysterischen Ton während der Streits verfiel, hatte Vater sie immer ins Schlafzimmer gezerrt. Auf einer Schulung auf der Arbeit hatte man ihm erzählt, dass die meisten Stichwunden unter Verwandten und in der Küche passierten. Es war eine Glastür. Durch die schauten wir auf zwei wild gestikulierende Gestalten.
  • Ich hatte wirklich mal eine eigene Wohnung. Nur für mich. Mit Hypothek. Ziemlich hübsch. In einem Haus, frisch renoviert. Ich bin ja schließlich keine Strohwitwe. Dann bin ich zusammengebrochen, statt am Gericht arbeite ich jetzt als Kunsttherapeutin im Frauengefängnis. Aber ich habe immer noch mein Auto. Wenn es mir richtig schlecht geht, fahre ich eine Runde, oder ich kauf mir ein Eis und esse es auf dem Rücksitz.
  • Das Schlimmste ist der Lärm. Ich kann nicht schlafen, nie. Dann bin ich total durch und schreie die Kinder an. Manchmal schlage ich die auch. Die anderen sehen es auch. Und dann kommt der Abend, ich kann nicht schlafen, denke über all das nach und schäme mich.
  • Ich konnte mit ihm nicht mehr zusammenleben, wir haben uns da total verstrickt und ich hatte keine Kapazitäten mehr, um die Beziehung weiterzuführen. Aber ich konnte ihn auch nicht verlassen, weil zusammenzuwohnen bedeutete für mich und meine Tochter nur die halbe Miete zu zahlen. Dann habe ich von einem Freund erfahren, dass er sein Wohnmobil verkauft. Ich habe mir bei meinen Eltern Geld geliehen und ihn gekauft. Ich bin nirgendwohin damit gefahren. Er steht auf einem Grundstück außerhalb der Stadt, wo ich nur jeden zweiten Monat Miete zahlen muss. Solange Nikola klein war, hat uns nichts gefehlt. Aber jetzt will sie ein eigenes Zimmer haben, mit einem eigenen Schreibtisch, wo sie ihre Hausaufgaben machen und zeichnen kann. Und sie will sich in der Dusche waschen statt in einer Waschschüssel. Sie will zu ihrem Vater in die Platte ziehen.
  • Damals im Wohnheim haben wir zu sechst gewohnt. Alle Hebammen im Krankenhaus. Wir haben ständig unsere Hauben und Strümpfe verwechselt, die auf der quer durchs Zimmer gespannten Leine hingen. Manche haben auch ihre Liebhaber mit aufs Zimmer genommen. Das verstehe ich bis heute nicht, aber ich werde es auch nie vergessen.
  • Wir sind hier zu dritt. Frau Králová kann allein nicht mehr aufstehen. Und die andere, ich weiß nicht einmal, wie sie heißt, die redet nicht mit uns. Spielt beleidigte Leberwurst. Aber im Schlaf da spricht sie schon. Manchmal schimpft sie sogar ziemlich krass.
  • Wenn ich nachts auf der Straße schlafe, habe ich immer Schiss, dass mir was passiert. Dass mich jemand zusammenschlägt oder – na, du weißt, was ich meine. Ich lege immer so Dinge aus Glas oder Metall um mich herum. Blechdosen sind am besten, die sind groß und laut. Wenn ich in der Unterkunft schlafe, muss ich zwar keine Angst um meine Nieren haben, aber sobald ich einschlafe, wird mir immer was geklaut: Essen, Schuhe, sogar Socken haben die mir schon von den Füßen gezogen. Und dann lauf mal am nächsten Morgen barfuß durch die Stadt.
  • Ich verstehe nicht, was ihr da immer fürʼn Problem habt – als ich klein war, haben wir immer gesagt ... – warte mal, wie ging das nun?
  • Wenn man nur im Himmel so viel Platz hätte.

Räume & Träume 4 Foto: © privat

Perspectives_Logo Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Revue Prostor, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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