Lotterie & Humanismus  Eine Million gewonnen

Eine Million gewonnen Foto: Niels Steeman via unsplash | CC0 1.0

Unsere Autorin Bernardeta Babáková hat eine Kurzgeschichte über einen Millionengewinn geschrieben. Was soll man mit so viel unverhofftem Geld anfangen?

Ich mag nicht, wenn plötzlich das Handy klingelt. Man erstarrt und beginnt dann in der Tasche herumzuwühlen, bis das Klingeln unverhofft wieder verstummt. Nicht aber, weil man es nicht rechtzeitig geschafft hat, sondern weil der Opa im Holzfällerhemd endlich in die Brusttasche gegriffen hat, um „Ich höre“ in das Gerät zu brummen.
 
Der letzte Monat war voll solcher Irrtümer. Es stimmt zwar, dass ich häufiger als sonst auf das Handy geschielt habe; ich hatte Geburtstag und habe gehofft, dass sich vielleicht jemand melden würde, ruhig auch ein paar Tage später oder auch eine Woche. Nach langem Schweigen im Walde, rief ich dann selbst bei einigen Bekannten an und lud sie zu mir nach Hause ein.
 
„Tut mir leid, es passt gerade nicht so ...“
„Schade.“
„Viel zu tun, bin ständig unterwegs, kennst du ja.“
„Hmmm.“
„Und wie kommt’s eigentlich? Ein Abendessen für Freunde, oder was?“
„Ich habe Geburtstag.“
„Ach sooo. Na dann, alles Gute!“
„Danke.“
 
Tuuuuuut
 
Trotz des stumpfen Tons, der vermittelt, dass die Person auf der anderen Seite der Leitung mit einem nicht mehr reden möchte, haben sich einige überwunden und sogar kleine Geschenke mitgebracht. Ein Stück Efeu, der vorm Haus wächst, einen aus der Kneipe geklauten Bierkrug, getrocknete Pilze oder süßes Gebäck auf einer Papierserviette. Jirka schaute sich kurz verlegen um und warf mir einen verschämten Blick zu (ich habe ihm zum Geburtstag ein Handbuch für Hobby-Zimmerer geschenkt – Wie man sich seinen Traum baut), dann durchsuchte er seine Hosentaschen und übergab mir triumphierend zwei Rubbellose der Lotterie Der Millionenkarpfen. Irgendwann zwischen der dritten Flasche Schankwein und hartgekochten Eiern mit Brot Marke Šumava zwang mich Jirka, alle sechs Felder mit einem Fünfkronenstück abzurubbeln, um meine Glückszahlen zu finden.
 
Genau zehn Tage später läutet das Telefon. Die Feier liegt hinter mir und so versuche ich erst gar nicht danach zu suchen, ich halte mich an der Straßenbahnstange fest und warte, wer von den Mitreisenden rangeht. Eine knochige alte Frau mit strengem Blick und starkem Geruch beugt sich zu mir hinüber und verkündet mit scheinbarer Diskretion „Ihr Telefon klingelt.“

Guten Tag, verfolgen Sie unsere Lotterie?“
„Es tut mir leid, ich habe keinen Fernseher.“
„Das ist aber wirklich schade!“

Also greife ich in die Tasche, solche telefonische Ausdauer, das kann nur ein Versicherungsvertreter sein. Alle Blicke richten sich auf das blinkende Gerät in meiner rechten Hand. Als ich an der nächsten Haltestelle aussteige, klingelt es immer noch.
 
„Guten Tag, verfolgen Sie unsere Lotterie?“
„Es tut mir leid, ich habe keinen Fernseher.“
„Das ist aber wirklich schade!“
„Sie wollen mir jetzt aber nicht einen verkaufen, oder?“
„Das nicht, obwohl Sie sich jetzt auch zwanzig leisten könnten.“
„Auch mit einem Rabatt habe ich kein Interesse.“
„Verehrteste, ich rufe Sie an, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Los vom 21.06. zu 80 Prozent erfolgreich war und ich darf Ihnen zu einem Gewinn von einer Million Kronen gratulieren! Leider haben Sie Ihre Kontonummer nicht angegeben, deswegen haben wir den Betrag für Sie in bar hinterlegt. Sie können sich die Summe zwischen 12:00 und 17:00 Uhr in der nächsten Postfiliale abholen.“
„Aha.“
 
Tuuuuuut
 
Na, sieh einer an. Da hat Jirka bei der Geschenkwahl ein glückliches Händchen gehabt. Das ist nicht wenig. Eine Million. Da kann ich ja mein Geburtstagsessen wiederholen. Jetzt aber irgendwo, wo ich nicht den ganzen Tag danach abwaschen muss. Und wo sich niemand scheut, hinzukommen. Für eine Million könnte man auch einen tollen Urlaub machen. In Norwegen, wovon Jirka schon seit Jahren schwärmt. Mit einem Flieger, und wir könnten uns sogar das Bier dort leisten.
 
Zuerst sollte ich sie aber abholen. Die Million. Bei der Post. Gehe ich zu Fuß wie immer? Ich könnte ja auch mit dem Bus fahren? Oder mit dem Taxi, so als Millionärin... ach, alles Quatsch, außerdem müsste ich das Taxi gleich bezahlen und das kann ich mir jetzt noch nicht leisten. Nicht? Erkennt man einen Millionär nicht eben daran, dass er sich wie einer verhält? So aussieht? Sich den Luxus leistet, ohne jede Krone zweimal umzudrehen? Gutes Trinkgeld gibt, und auch mal eine frisch aufgemachte Flasche Sekt zurückgibt, weil er ihm einfach nicht schmeckt? Millionäre haben vermutlich andere Geschmackszellen auf der Zunge, ich würde Sekt nie zurückgeben, mir schmeckt der nämlich immer.
 
Also gut, zur Post gehe ich auch deswegen zu Fuß, weil es umweltschonend ist. Jetzt kann ich mir zudem tolle Schuhe aus Biomaterialien besorgen. Und französische Kosmetik aus Talg und Heilpflanzen ohne Pestizide. Die wird von Behinderten hergestellt und die Etiketten auf den Flakons malen sozial Benachteiligte. Wenn ich mir wirklich schöne neue Markenklamotten kaufe, werden sie auch länger halten, weil sie qualitativ besser sind? Das hängt wohl davon ab, womit man wäscht. Vielleicht braucht es auch eine neue Waschmaschine. Wenn sie in unser Plattenbaubadezimmer passt. Und überhaupt die Wohnung, warum ewig Miete zahlen?
 
Ich fische das Handy aus der Tasche. Internetbrowser an, wie viel kostet wohl so eine Wohnung? Oder ein Haus? Besser eine Wohnung... Ach, das Eigenheim übersteigt mein momentanes Budget. Höchstens ein Grundstück und dann lieber selbst – Jirka! Ohne ihn hätte ich doch nie meine Glückszahlen gefunden. Er war es, der mir die Lose geschenkt hat.
 
„Jirka?“
„Hi.“
„Sag mal, kannst du jetzt schon den Traum bauen?“
„Ich habe es bis jetzt nur durchgeblättert.“
„Ginge das auch unter einer Million?“
„Na klar. Eine Blockhütte zum Beispiel. Wenn man ein Grundstück hätte.“
„Eine Blockhütte?“
„Na ja, vielleicht eher eine Jurte. Eine Million ist nicht sehr viel, wenn man bauen will.“
„Nicht?“
„Fünf wären schon besser. Oder zehn. Das wäre was anderes. Da würde ich auch den Traum bauen.“
 
Tuuuuuut
 
Jirka ist der einzige Mensch auf der Welt, bei dem ich immer diejenige bin, die auflegt.
 
Bei der Post herrscht wegen mir größte Aufregung. Die Eingangstür wird verschlossen, als sie mir das mit Klebeband umwickelte Päckchen überreichen. Eine Rentnerin mit ausgewachsener Haarfarbe wird ermahnt, die Diskretionszone nicht zu überschreiten. Ich solle lieber woanders nachzählen. In der Bank vielleicht. Ich stecke die Million in die Tasche und werde von einer Angestellten bis vor die Tür begleitet, sie schaut mir nach, ob ich auch wirklich in Sicherheit bin. Ich und meine Million.
 
Ich tue so, als wäre nichts. Rufe mir kein Taxi. Ich gehe an einigen Menschen mit Kaffee, Pizza, Croissants oder belegten Baguettes vorbei. Unauffällig werfe ich einen Blick in die Tasche und kratze mit der Fingernagelspitze das Klebeband ab. Bevor ich es zur Bank bringe, könnte ich irgendwohin frühstücken gehen. Das ist sicherlich eine Millionären-Attitüde. Bis jetzt bedeutete ein Frühstück für mich ein Brötchen von vorgestern, zwischen dem Zähneputzen herunter gekaut und mit einer Brause nachgespült.

Kein berühmter Millionär stopft sich um halb zehn morgens voll mit gesättigten Fettsäuren und Kakaopulver. Alle berühmten und erfolgreichen Menschen sind schlank. Dürr sogar.

In einem Café im Zentrum nehme ich mir die Morgenzeitung und schaue mir die Karte an. Am liebsten hätte ich Englisches Frühstück bestellt mit Orangensaft und einem doppelten Espresso und zum Schluss noch heiße Schokolade. Ich wiederhole im Kopf meine Bestellliste und hypnotisiere mit dem Blick den Kellner, der sich gerade eine Zigarette dreht und mich – seinen einzigen Gast  – ignoriert. Wenn ich ihn dann mit allem auf einmal überschütte, wirke ich bestimmt wie der verfressenste Mensch der Welt. Nein, wie jemand, der sich endlich den Bauch vollschlagen kann. Also ein armer Schlucker, der unverhofft und unverdient zu Geld gekommen ist und damit nicht umgehen kann. Natürlich, ich muss es gut anlegen, rentabel investieren. In einen kleinen Goldbarren zum Beispiel.
 
„Was darf’s denn sein?“, fragt der junge Mann mit Schürze, die Kippe noch im Mundwinkel. Kein berühmter Millionär stopft sich um halb zehn morgens voll mit gesättigten Fettsäuren und Kakaopulver. Alle berühmten und erfolgreichen Menschen sind schlank. Dürr sogar.
 
„Ein Espresso, bitte!“ Der junge Mann verdreht die Augen. „Und einen älteren Whiskey. Was können Sie mir da empfehlen?“
„Den doppelten Bushmills.“
„Danke.“ Der Alkohol hätte nicht sein müssen, aber, wie oft gewinnt man schon eine Million?
 
Ich spüle den Whiskey mit dem Kaffee nach und fische mit einer Hand in der Tasche nach dem Handy. Ich wollte in der Suchmaschine nach Trauminvestionen suchen. Ich könnte auch Jirka anrufen, aber ich fürchte seine Antwort, eine Million würde für eine ordentliche Investition nicht ausreichen. Auf dem Display leuchtet eine Nachricht von meiner Chefin: kommst noch? Sie hat nie gelernt, dass das Verb allein für einen Satz nicht reicht, dass es auch Personalpronomen gibt.
 
In Hochstimmung trete ich vors Café, fest entschlossen, die Chefin anzurufen und die Situation zu erklären. Einige Mal hebe ich das Handy und führe es zum Ohr, dann lasse ich die Hand wieder sinken. Feige entscheide ich mich für eine SMS.
 
kann ich heute frei nehmen? danke.
erwarte kein geld!

 
Erwarte ich nicht, denke ich.
 
Tuuuuuut
 
Ich spüle den doppelten Whisky mit einem weiteren Kaffee herunter und mit einem Herz auf Hochtouren frage ich nach der Rechnung. Der junge Mann nuschelt etwas von zweihundert. Aus dem Päckchen konnte ich aber nur einen Fünftausender herausziehen. Er fährt mich an, dass es nicht mal im ganzen Laden so viel Geld gibt, um mir Wechselgeld zu geben. Ich senke den Kopf, als wäre das alles meine Schuld und sage: „Passt schon.“
 
Nicht einmal gelächelt hat er, Drecksack.
 
Auf dem Weg zur Bank bleibe ich leicht beschwipst vor einem Sozialladen stehen, in dem eine Freundin aus der Schulzeit arbeitet. Die Preise für abgetragene Schuhe und benutzte Geschirrtücher sind nur eine Empfehlung, mehr spenden kann man immer. Ich kaufe ein abgewetztes Perlmutttäschen, für einen weiteren Fünftausender. Mir wird bewusst, dass ich in der letzten halben Stunde mehr Geld ausgegeben habe, als im ganzen letzten Monat. Es ist so einfach! Außerdem habe ich gleich am Morgen die Bilanz eines übelgelaunten Jungen ohne Aufstiegschancen verbessert und einen gemeinnützigen Laden unterstützt. Das ist es!, spricht der doppelte Whiskey in meinem leeren Magen, Charitas.
 
Und als hätte ich ihn gerufen, kommt schon ein älterer Mann angewackelt und fragt nach Kleingeld. Im Blut hat er ungefähr genauso viel Promille wie ich. Ohne zu zögern ziehe ich aus dem Päckchen den nächsten Schein.
 
„Kleingeld klimpert besser. Sieht aus, als hätt ich’s wo gestohlen.“
„Meinen Sie?“, schrecke ich besorgt zurück.
„Ach, ich komm schon klar“, winkt er ab und steckt den Schein schnell ein.
 
Betrunken läuft es sich viel leichter, ich spüre, wie ich nur ganz leicht den Boden berühre.
 
Hat jemand das Geld in meiner Tasche gesehen, oder funktioniert nur die Stille Post am Rande des Existenzminimums so verlässlich? Keine Ahnung, aber gleich hinter der nächsten Ecke treffe ich auf eine Bande tobender Kinder. Sie verlangen Süßigkeiten. Da ich aber nur eine angefangene Packung Kaugummis dabei habe, ziehe ich aus der Tasche einen weiteren Schein. Aber, egal, wie hoch der Betrag, nur einem einzigen Kind etwas zu geben, ist den anderen gegenüber ungerecht. Mit Süßigkeiten wäre es wohl besser gewesen. So werden die Kinder nur lauter, schubsen sich und verlangen ihren Anteil, in einem Atemzug danken sie mir und beschimpfen mich. Die bunten Scheine, über die sie streiten, zerreißen in der Umklammerung der Fäustchen.

Ich hatte eine Million. Heute Morgen“, sage ich mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr und das Päckchen in meiner Tasche.
„Eine Million?“, spuckt der Mann aus, „das kann man gleich zum Klo runterspülen“, sein Goldzahn blitzt auf und weg ist er.

Kurz darauf brummt eine scharfe Frauenstimme hinter meinem Rücken, was das denn solle. Ein wenig desorientiert erkläre ich der Mutter von einem der Rotznasen, der nur ein kleines Zipfelchen mit dem Wasserzeichen ergattert hat, ich hätte Geburtstag und dank des Schicksals auch ein wenig Glück und dass ich jetzt zwar etwas Geld zum Ausgeben und Verteilen habe, es aber wohl lieber investieren sollte, in Immobilien. Die Frau kratzt sich an der Stirn und verspricht, ihren Cousin zu holen, der zufällig ein Investitionsberater sei, und dann noch jemanden, der eine Wohnung loswerden wird, und eine Nachbarin, die ein kleines Apartment vermiete. Dann schaut sie bedeutungsvoll auf meine Tasche. Ohne zu zögern, ziehe ich einen weiteren Schein heraus.

Das Warten auf der dreckigen Straße überbrückt ein Typ mit seinem Geklampfe auf einer E-Gitarre, dass die Ohren schmerzen, ich schenke ihm ein bisschen „Kleingeld“, damit er weiterzieht. Dann kommt schon die Frau zurück, in Begleitung von drei Kompagnons. Der Investitionsberater hat sogar einen Zahn aus Gold, der Nachbar mit der Wohnung, hinkt auf dem linken Bein, und der dritte im Bunde stellt sich als Vermittler unbebauter Grundstücke vor. Die Immobilienspekulanten eröffnen ein Feuerwerk aus Fragen und Angeboten. Ich spüre, wie ich schwitze, und halb intuitiv mache ich ein paar Schritte zurück. Aber es zeigt sich, dass ich mich letztendlich nur durch eine Anzahlung für ihre Dienste und ihre Zeit freikaufen kann. Die Frau mit der scharfen Stimme, sammelt ihre Kinder, und auch die anderen, die eher wie Straßenkinder wirken, und nach und nach verlassen sie die Straße. Ich bleibe allein mit dem Investitionsberater und einem dumpfen Schmerz im Hinterkopf, Ausnüchterung.
 
„Wie viel haben Sie denn nun?“, fragt mich der Berater und verschränkt die Arme.
„Ich hatte eine Million. Heute Morgen“, sage ich mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr und das Päckchen in meiner Tasche.
„Eine Million?“, spuckt der Mann aus, „das kann man gleich zum Klo runterspülen“, sein Goldzahn blitzt auf und weg ist er.
 
„Na?“
„Hallo.“
„Also, eine Jurte, sogar mit einem hübschen Klohäuschen, könnte man für eine Million kriegen. Oder einen gedämmten Wohnwagen, wenn du irgendwo einen Wagenplatz findest.“
„Klingt gut.“
„Find ich auch. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht beleidigen. So ein schönes Geschenk und ich habe da nicht mal reingeguckt.“
„Schon in Ordnung.“
„Aber jetzt bin ich voll drin.“
„Hmmm.“
„Und du, alles gut bei dir? Ist was passiert?“
„Eigentlich nicht. Eigentlich schon.“
„Ja? Was denn?“
„Ich hab eine Million gewonnen."
 
Tuuuuuut.

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