Männer haben im Vergleich zu anderen Säugetieren die kleinsten Hoden im Verhältnis zu ihrem Gesamtkörpergewicht. Mit der Fortpflanzung ist es bei ihnen knifflig. Denn außerdem produzieren Männer von allen Säugetieren die wenigsten Spermien pro Gramm Hodengewebe. Im Ejakulat von Bullen oder Widdern sind zum Beispiel üblicherweise nur 10 Prozent der Spermien missgebildet und nicht fortpflanzungsfähig. Bei Männern sind es oft 90 bis 95 Prozent, und das gilt immer noch als normal.
Die Entdeckung der Spermien
Über die Zusammensetzung des Ejakulats machte sich bereits der römische Dichter Titus Lucretius Carus Gedanken. In seinem epischen Gedicht De Rerum Natura (Über die Natur der Dinge) verknüpfte er bei der Beschreibung des Ejakulats Bereiche wie Träume, Geschlechtsverkehr, sexuelles Begehren, Vererbung und Empfängnis. Er nahm an, dass sowohl Männer als auch Frauen Flüssigkeiten produzieren, die für die Zeugung eines Kindes notwendig sind. Doch erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, nach der Erfindung des Mikroskops, wurden Wissenschaftler erstmals auf die Spermien selbst aufmerksam.„In den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden Zählkammern eingerichtet, mit denen die Anzahl der Spermien pro Milliliter Ejakulat unter dem Mikroskop geschätzt werden konnte. Die Ärzte Donald Macomber und Morris Sanders veröffentlichten 1929 im angesehenen New England Journal of Medicine ihre Schlussfolgerungen, dass die durchschnittliche Anzahl von Spermien 100 Millionen in einem Milliliter Ejakulat beträgt und dass ihren Annahmen zufolge ein fruchtbarer Mann mindestens 60 Millionen Spermien in einem Milliliter Ejakulat haben muss. Seitdem diskutieren Experten immer wieder darüber, welche Mindestanzahl an Spermien für eine erfolgreiche Empfängnis erforderlich ist“, so Professor Ivan Varga vom Institut für Histologie und Embryologie der Medizinischen Fakultät der Comenius Universität in Bratislava über die Geschichte der Spermienforschung.
Ivan Varga in einem Lehrraum der Comenius-Universität in Bratislava | Foto: © Linda Kisková Bohušová
Prof. RNDr. Ivan Varga, PhD. et PhD. (*1981) ist Professor für Anatomie, Histologie und Embryologie und arbeitet als Hochschuldozent und Wissenschaftler am Institut für Histologie und Embryologie der medizinischen Fakultät der Comenius-Universität Bratislava. Derzeit ist er auch Prodekan für Wissenschaft, Forschung, Stipendien, Promotionsstudien und Auslandsbeziehungen an der Medizinischen Fakultät der Comenius-Universität Bratislava.
Ivan Varga ist Autor von circa 100 wissenschaftlichen Publikationen, die in ausländischen Datenbanken indexiert sind und für die er über tausend Zitate vorweisen kann. In seinen Forschungen widmet er sich der mikroskopischen Anatomie und Entwicklung der weiblichen Genital- sowie der menschlichen Immunorgane. Auf dem Gebiet der Innovation der Nomenklatur in der mikroskopischen Anatomie ist er Koordinator der Expertengruppe innerhalb der International Federation of Associations of Anatomists (IFAA).
Für seine Leistungen in der Wissenschaft wurde er mit dem Jessenius-Preis der Slowakischen Medizinischen Gesellschaft (2021) ausgezeichnet, er gewann den ESET-Wissenschaftspreis in der Kategorie herausragender Hochschullehrer (2020) sowie den Jaroslav-Jirsa-Preis der Karlsuniversität in Prag für das beste medizinische Lehrbuch im Jahr 2016. Derzeit ist er Inhaber eines Stipendiums der slowakischen Forschungsgemeinschaft APVV, das sich mit der Beziehung zwischen Eileiterstruktur und Unfruchtbarkeit befasst, sowie eines Kultur- und Bildungsstipendiums (KEGA), mit dessen Hilfe er das Fach Klinische Embryologie in die Lehre der Medizinischen Fakultät der Comenius-Universität in Bratislava einführt.
Erkenntnisse eines Spermiogramms
In Kliniken für Reproduktionsmedizin wird bei der Untersuchung einer Ejakulatprobe zuerst das Volumen gemessen. „Dies gibt einen Hinweis auf die Funktion der Prostata und der Samenblasen, deren Sekrete den größten Teil des Ejakulatvolumens produzieren. Die Spermien selbst machen nur etwa ein Prozent des Ejakulats aus“, erklärt Professor Ivan Varga.Anschließend wird die Konzentration, Beweglichkeit und Form der Spermien unter dem Mikroskop in einer Zählkammer untersucht. Bei Normozoospermie (normales Sperma) liegt die Spermienkonzentration bei mindestens 15 Millionen Spermien pro Milliliter Ejakulat, mindestens 40 Prozent der Spermien sind beweglich und maximal 96 Prozent der Spermien haben eine abnorme Form – sie haben zwei Köpfe, zwei Geißeln oder sind geknickt.
Der Weg der Spermien zur Eizelle
Männer produzieren weit mehr Spermien als für den eigentlichen Vorgang zur Befruchtung der Eizelle benötigt sind. „Nach der Ejakulation machen sich oft mehrere hundert Millionen Spermien auf eine Reise, die so lang ist, wie wenn ein Mensch sechs Kilometer im Wasser schwimmen würde. Sie müssen den Gebärmutterhals passieren, der eine Menge Schleim produziert. Dann wandern sie durch die Gebärmutterhöhle, bis sie schließlich die Eileiter erreichen. Dort erwartet sie ein reich strukturiertes Labyrinth aus Schleimdrüsen (Zilien), das sie bis zur Eizelle durchwandern – allerdings nur wenige hundert davon. In ihrer Nähe scheiden sie Enzyme aus, die die Schale des Eies anknabbern. Nur eines von ihnen schafft es, ins Innere einzudringen, der Rest der Spermien stirbt“, sagt Varga.Nicht allein die Anzahl der Spermien ist entscheidend
Weltweit leiden viele Millionen Paare an Unfruchtbarkeit, betroffen ist jedes sechste Paar. Früher gab man allein den Frauen die Schuld, wenn ein Paar unfähig war, Nachkommen zu zeugen. Statistiken zeigen jedoch, dass nur in etwa einem Drittel der Fälle das Problem bei der Frau liegt, wenn die Fruchtbarkeit eines Paares beeinträchtigt ist. Bei einem weiteren Drittel der unfruchtbaren Paare ist der Mann zeugungsunfähig, und das letzte Drittel sind Fälle, in denen bei beiden Partnern gleichzeitig medizinische Probleme vorhanden sind.In den 1980er Jahren hat die Weltgesundheitsorganisation die minimale Spermienkonzentration auf 20 Millionen pro Milliliter „gesenkt“, das heißt ein solcher Wert gilt noch als normal. „Seit 2010 gilt eine Konzentration von nur 15 Millionen Spermien pro Milliliter Ejakulat als eine Art ‚Kipppunkt‘ zwischen fruchtbaren und unfruchtbaren Männern. Die Spermienzahl ist einfach zu berechnen, aber sie ist nicht der einzige Indikator für die Fruchtbarkeit eines Mannes“, erklärt der Embryologe Ivan Varga.
Die Spermien müssen außerdem ausreichend beweglich sein, eine normale Form haben und in der Lage sein, bei der Befruchtung die Hülle der Eizelle zu durchdringen. Daher ist das Thema Ejakulatuntersuchung viel komplexer und kann nicht allein auf das Zählen der Spermien begrenzt werden.
Ursachen männlicher Unfruchtbarkeit
Einige Studien besagen, dass in der männlichen Bevölkerung die Spermienzahl jährlich um ein bis zwei Prozent abnimmt. Wenn dies tatsächlich stimmt, wären Männer in ein paar Jahrzehnten nicht mehr in der Lage, auf natürlichem Wege Nachwuchs zu zeugen und ein fruchtbarer Mann wäre bald eine Seltenheit. „Andere Wissenschaftler glauben diesen Daten jedoch nicht, da es in verschiedenen Teilen der Welt eine große Variabilität der Spermienzahlen gibt. Allerdings kann die Spermienzahl auch bei ein und demselben Mann im Laufe eines Jahres schwanken. Es ist schwierig, Daten über die Spermienzahl bei gesunden Männern zu erhalten, da diese keine Zentren für Reproduktionsmedizin aufsuchen. Ich persönlich bezweifle außerdem, dass man vor einem halben Jahrhundert die Spermienkonzentration auf die gleiche Weise gezählt hat wie heute, wo es automatische Analysegeräte gibt“, sagt der preisgekrönte Universitätsdozent Ivan Varga.Die amerikanische Wissenschaftlerin Shanna Swan behauptet, dass ein schlechter Lebensstil für männliche Unfruchtbarkeit nicht so sehr verantwortlich ist wie chemische Stoffe. Professor Varga zählt neben schädlichen Umweltgiften eine langen Liste weiterer möglicher Ursachen für männliche Fertilitätsstörungen auf: Faktoren wie genetische Veranlagung, Infektionen, Rauchen, Dauerstress, Übergewicht, unausgewogene Ernährung, Überhitzung der Hoden durch enge Kleidung und sitzende Tätigkeiten sowie die Einnahme von Medikamenten gehören dazu.
„Ich persönlich glaube nicht, dass es nur einen einzigen Schlüsselfaktor gibt, der allein einen signifikanten Rückgang der Fruchtbarkeit beim Mann verursacht. Es handelt sich um eine Reihe verschiedener negativer Einflüsse, und das Problem manifestiert sich dann, wenn die Wirkung der einzelnen Tropfen das imaginäre Fass zum Überlaufen bringt. Welcher dieser Tropfen war ausschlaggebend? Einer allein nicht, aber alle zusammen schaden im Laufe der Zeit eindeutig der Fruchtbarkeit eines Mannes“, sagt Varga.
Seiner Meinung nach gibt es also keinen Grund, die Elternschaft auf ein höheres Alter zu verschieben, da die Fruchtbarkeit sowohl bei Frauen als auch bei Männern mit dem Alter abnimmt. „Und das Wichtigste: Wenn ein Paar nach einem Jahr auf natürlichem Wege keinen Nachwuchs bekommt, braucht es keine Angst zu haben, ein Zentrum für Reproduktionsmedizin aufzusuchen“, ermuntert der Embryologe Varga.
Zur Forschung
Professor Varga und seinen Kollegen ist es gelungen, Zellen des Immunsystems in der Schleimhaut der Eileiter zu entdecken, die zuvor noch niemand umfassend beschrieben hatte. Des Weiteren beschäftigten sie sich mit den breiten Lymphschlitzen in der Wand des Eileiters, die in der Fachliteratur zuvor nur einmal beschrieben wurden, und das bereits vor 100 Jahren. „Es liegt nun an uns und anderen Forschungsteams herauszufinden, welche Bedeutung diese Strukturen für die menschliche Fortpflanzung haben. Ich persönlich finde die Beziehung zwischen dem Immunsystem der Mutter und dem Embryo, der den Eileiter durchläuft und sich dann in der Gebärmutterwand einnistet, unglaublich faszinierend. Dieser Embryo hat 50 Prozent seiner Gene vom Vater, so dass das Immunsystem der Mutter ihn als ‚Fremdkörper‘ ansehen und eine Immunreaktion auslösen müsste. Aber das kommt nicht vor, abgesehen von einigen Fällen wiederholter Fehlgeburten in der Frühschwangerschaft“, beschreibt der Embryologe Varga seine Erkenntnisse und Forschungsthemen.
Er fügt hinzu, dass in der Gebärmutterschleimhaut zum Zeitpunkt der Einnistung des Embryos Immunzellen etwa 30 bis 40 Prozent ausmachen, die aber paradoxerweise die Immunreaktion gegen den Embryo unterdrücken und nicht auslösen. „In unserer neuesten Forschung versuchen wir, auch diese Immunzellen bei Frauen mit wiederholten Misserfolgen bei der Embryoeinpflanzung so zu beeinflussen, dass bei der Einpflanzung des Embryos die Prozesse zur Unterdrückung der Immunreaktion und nicht die Initiierung der Immunreaktion überwiegen“, ergänzt Varga.
Juli 2021