Europawahlen  Die letzten Wahlen, die noch Sinn ergeben

Stanislav Biler: „Das Hauptproblem der EU ist heute nicht ein Übermaß an Macht und Kompetenzen, sondern deren Mangel.“
Stanislav Biler: „Das Hauptproblem der EU ist heute nicht ein Übermaß an Macht und Kompetenzen, sondern deren Mangel.“ Foto: © privat

Gerade mal 18,2 Prozent der Wahlberechtigten in Tschechien haben bei den Europawahlen 2014 ihre Stimme abgegeben. Warum aber gerade die Wahlen zum Europaparlament viel wichtiger seien als nationale oder kommunale, erklärt der Publizist Stanislav Biler (*1982) in einer Polemik.

Die Europäische Union ist eine der mächtigsten Gemeinschaften in der Weltpolitik. Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind eine Gelegenheit, die Entwicklung und Ausrichtung der Organisation zu beeinflussen, die als einzige in der Lage ist mit anderen Mächten und mit übernationalen Konzernen auf Augenhöhe zu agieren oder einen sinnvollen Plan im Kampf gegen den Klimawandel umzusetzen. Die Tschechinnen und Tschechen allerdings ignorieren die Europawahlen und haben kein Vertrauen in die EU. Im Gegenteil erfreuen sich die Gemeinderäte ihres größten Vertrauens, deren Nullkompetenzen den tschechischen Bürgern nah und verständlich sind.

Staatengemeinschaft einer halben Milliarde Menschen

Die lokalen Selbstverwaltungen haben heute nicht einmal mehr die Kompetenzen, um Markierungen für Fußgängerübergänge auf die Fahrbahn zu malen. Ihre Rolle beschränkt sich leider auf das Kehren von Bürgersteigen und Reparaturen der Kanalisation. Für diese Aufgaben könnten sie schon bald zum Beispiel von Staubsaugerrobotern ersetzt werden, die darüber hinaus über mehr Programme, Vollmachten und manchmal auch größere Courage verfügen.

Auf der nationalen Ebene scheint es in Tschechien nur noch um die Höhe der Renten zu gehen, oder um die Absicherung des Geldflusses in die Kolchose Agrofert. Andere Themen wie das 30 Jahre lang vernachlässigte Schulwesen, von Pestiziden verseuchtes Wasser, Waldsterben, ausgewaschene landwirtschaftliche Flächen, und fehlende Niederschläge vor dem Hintergrund des Klimawandels liegen vollkommen außerhalb des Blickfelds unserer souveränen Regierung. Die größte Oppositionspartei kontert mit der Idee Alkohol auch hinter dem Steuer zu erlauben, womit ihr die Aufmerksamkeit der von einer Alkoholismusepidemie gebeutelten Öffentlichkeit gewiss ist.

Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind wohl die letzten und einzigen Wahlen, die noch irgendeinen Sinn ergeben. Und weil die Tschechinnen und Tschechen für Dinge, die sinnvoll sind, nicht besonders viel übrig haben, erfreuen sich auch diese Wahlen nicht des Interesses der Öffentlichkeit.

Den Sinn einer einzelnen Stimme in einer Staatengemeinschaft von einer halben Milliarde Menschen wahrzunehmen, ist selbstverständlich mühsam. Aber diese Stimme hat immer noch mehr Gewicht als im Fall der anderen Verwaltungseinheiten, die unser Leben formen und beeinflussen.

Das Geschäft mit unseren Daten

Unsere öffentliche Debatte wird von Facebook bestimmt, einem Unternehmen, das auf der Grundlage eines unbekannten Algorhytmus und ohne Möglichkeit des Einspruchs jeden und jede aus dieser Debatte für eine beliebig lange Zeit ausschließen kann. Selbst in totalitären Staaten existiert oft noch eine Andeutung eines Gerichts, vor dem man theoretisch Einspruch erheben kann – wenn auch der Betreffende anschließend im Gulag endet.

Informationen liefert und sortiert gemeinsam mit Facebook die Firma Google, der es ebenso wie Facebook in erster Linie um die Verwertung unserer Daten und deren Verkauf an Werbetreibende geht. Weitere Machtzentren sind noch viel weiter entfernt.

Konzerne wie Exxon Mobil oder BP geben Milliarden Dollar aus, um das Bemühen um Lösungen für den Klimawandel zu blockieren, denn Profit muss sein, auch wenn der Planet brennt. Ähnlich unbemerkt bleiben in Tschechien die Interessen der Kohlelobby, für die zum Beispiel Präsident Zeman die Aufhebung von Fördergrenzen für Braunkohle vorantreibt. Stattdessen sind Ökologen das Hassobjekt, die weder teure Anzüge, Flugzeuge, Autos und Medien besitzen, noch Milliarden zur Bestechung lokaler Politiker.

Das Paradox der schwindenden Macht der EU

In dieser Situation ist die Europäische Union die letzte Instanz, die überhaupt noch irgendeine Macht hat und in der Lage ist, Entscheidungen gegen den Willen von Industrie-, Energie- oder Medienholdings zu treffen.

Der praktische Unterschied wird zum Beispiel offensichtlich bei einem populären Thema der letzten Jahre, und zwar den überteuerten Mobilfunkkosten, die uns das Kartell der Mobilfunkbetreiber in Rechnung stellt. Tschechische Regierungen sind unfähig diese Betreiber zu irgendetwas zu zwingen und deshalb unterstützen die tschechischen Bürgerinnen und Bürger die Aktionäre zweier übernationaler Konzerne und eines nationalen, der in den Händen des reichsten Tschechen Petr Kellner ist. Und nebenbei: Man kann zwar den tschechischen Präsidenten direkt wählen, aber über dessen Außenpolitik entscheidet zu einem hohen Grad gerade dieser Kellner, indem er den Präsidenten dorthin dirigiert, wo er ihn gerade braucht.

Im Gegensatz dazu war einzig die Europäische Union in der Lage, die Mobilfunkbetreiber in die Schranken zu weisen, indem die Roaminggebühren abgeschafft wurden – um nur ein Beispiel zu nennen.

Das Hauptproblem der EU ist heute nicht ein Übermaß an Macht und Kompetenzen, sondern deren Mangel.

Eine Schwächung der Union bedeutet nicht die Stärkung der Nationalstaaten, sondern im Gegenteil deren weitere Schwächung. Erst durch und dank der Union haben wir eine Machtbeteiligung, wie wir sie niemals zuvor hatten, und andernfalls auch nie haben könnten. Ohne die EU würden wir sie wieder verlieren. Ohne sie wären wir für China wohl ein ähnlich starker Verhandlungspartner wie irgendeine größere Stadt in einem Bezirk im Norden. [Anspielung auf die tschechoslowakische TV-Serie Okres na Severu (Bezirk im Norden) aus dem Jahr 1980, die für die damalige Zeit relativ kritisch die Verhältnisse in einer Bezirksorganisation der Kommunistischen Partei beschreibt, Anm. d. Red.]

„Nach mir die Sintflut“

Andrej Babiš verspricht uns auf den Wahlkampfplakaten, dass er uns hart und kompromisslos vor Brüssel beschützen würde. Damit meint er natürlich vor allem sich selbst, denn wegen seiner Interessenskonflikte ist er bereits seit längerem im Visier von „Brüssel“. Wir anderen aber hingegen müssen von Brüssel beschützt werden vor Leuten wie eben Andrej Babiš. Vor einem Mann, der sich die Unterstützung der älteren Generationen erkauft, um die Zukunft der jüngeren zu Grabe zu tragen.

Gegenwärtig sehen wir uns der Bedrohung durch den näherrückenden Kollaps des Klimas und unserer gesamten Umwelt gegenüber. Zu unserem Unglück sitzen aber in der Führung unseres Staates Personen, die nicht nur zu inkompetent sind, um sich darum zu kümmern, sondern die sich weigern, dieses Problem überhaupt wahrzunehmen. Warum würden die Wahlkampfslogans sich sonst abarbeiten am Schutz vor Brüssel und besserer Wurst?

Für uns, die wir vorhaben, noch länger als eine Woche auf diesem Planeten zu verweilen, und so Gott will, auch noch Kinder großzuziehen, sind diese Wahlen aber mit die letzten, in denen es wirklich noch um etwas geht. Eine Stärkung jedweder nationalistischer und chauvinistischer Gruppierungen bedroht nicht nur irgendeine abstrakte Union, sondern leider und vor allem unsere ganz konkrete Zukunft.

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