Würden wir uns „europäischer“ fühlen, wenn wir bei der Europawahl in allen EU-Staaten über die gleichen Kandidaten abstimmen dürften? Nicht nur Emmanuel Macron glaubt das. Eine entsprechende Reform des Wahlrechts wurde allerdings vom Europaparlament abgelehnt. „Wir brauchen das trotzdem. Und wir machen es einfach!“ sagt man bei DiEM25. Die paneuropäische Bewegung tritt bei der Europawahl 2019 zum ersten Mal an.
Es ist ein sonniger Mittwochvormittag, ein warmes Aprillüftchen weht durch die kurzen Bäume am Rathaus in Berlin-Neukölln. In der Rathausvorhalle haben sich fünf Menschen zum Europawahlkampf versammelt. Doch wer Wimpel, Flyer, Kugelschreiber und Sonnenschirme erwartet hat, wird enttäuscht. Ein junger Mann mit Lockenkopf hält ein Schild mit der Aufschrift „Green New Deal“ eher wie ein Willkommensschild als wie ein Wahlplakat in die Höhe. Denn heute gehen die Wahlkämpfer der Bewegung DiEM25 nicht auf die Straße zum Stimmenfang, heute kommen die (potentiellen) Wähler zu ihnen, um sich bei der Registrierung helfen zu lassen. Die Aktion ist Teil der Kampagne Register-to-Vote. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament dürfen nämlich auch EU-Ausländer wählen, sie müssen sich dazu allerdings an ihrem Wohnort im Wählerverzeichnis registrieren lassen.
Als No-name-Partei für Wähler interessant zu sein, sei nicht leicht, sagt Joanna Bronowicka, die in Berlin die Kampagne Register-to-Vote betreut: „Wir sind eine junge Partei und haben keine großen Ressourcen für einen großen Auftritt. Aber wir tun, was wir tun können.“ Zielwähler von Demokratie in Europa, dem deutschen Wahlflügel von DiEM25, seien die vier Millionen EU-Bürger in Deutschland ebenso wie Erst-, Nicht-und Nicht-Mehr-Wähler. Sie konzentriere sich mit ihren politischen Freunden in Deutschland „auf die vielen jungen Menschen, die an ein grünes, soziales und fortschrittliches Europa glauben“, so Joanna. Sie sei überzeugt, dass es in der Hauptstadt zahlreiche Menschen gebe, die die Hoffnung auf ein Europa, dessen Länder eine gemeinsame linke Politik für die Umwelt, die sozial Schwachen und für Minderheiten macht, noch nicht verloren haben.
Ein gemeinsames Programm für Ost-, West-, Süd- und Nordeuropa
Ähnliche Inhalte vertreten auch andere Parteien in ganz Europa. DiEM25 aber unterscheidet von ihnen vor allem der paneuropäische Ansatz. Die ursprüngliche Absicht von DiEM25 war, die Wähler in allen EU-Staaten über dieselbe transnationale Kandidatenliste abstimmen zu lassen. Ein entsprechender Änderungsantrag zum EU-Wahlrecht wurde im Februar 2018 jedoch vom Europäischen Parlament abgelehnt. „Nationale Listen und Programme sind ein Anachronismus“, kommentiert Jasper Findeldey. „Wir brauchen das trotzdem. Und wir machen es einfach!“ Der 31-Jährige ist der Vorsitzende des deutschen DiEM25-Ablegers Demokratie in Europa. Deren Spitzenkandidat ist der Mitgründer von DiEM25 und vermutlich europaweit das prominenteste Mitglied: Yanis Varoufakis, der ehemalige griechische Finanzminister. Auf der deutschen Kandidatenliste steht außerdem auch Joanna Bronowicka – und auch sie ist EU-Ausländerin, stammt aus Polen.„Das machen andere Parteien nicht so, wie wir es machen“, betont Jasper Finkeldey, der dennoch enttäuscht ist, dass es keine europaweiten Kandidatenlisten gibt. Das führe dazu, dass in der EU weiterhin nationale Egoismen zu viel Raum bekommen und es unüberwindbare Unterschiede gebe, selbst innerhalb von Parteifamilien, so der Doktorand der Sozialwissenschaften. Der internationale Charakter der deutschen Kandidatenliste von DiEM25 ist deshalb auch nicht nur symbolisch: DiEM25 tritt in sieben Ländern mit ein und demselben Wahlprogramm an. „Wir haben als Europäer und Europäerinnen ein Programm geschrieben, an dem Parteien, zivilgesellschaftliche Akteure und interessierte Bürgerinnen und Bürger gleichrangig mitgewirkt haben. Es gibt also ein progressives Programm für Europa, auf das sich Ost-, West-, Süd- und Nordeuropa einigen konnten.“
„Wir wollen das Wählen zum Gemeinschaftsereignis machen“
Damit trifft DiEM25 offenbar einen Nerv. Anfang Mai 2019 hatte die Bewegung – gut drei Jahre nach ihrer Gründung – nach eigenen Angaben bereits rund 116.ooo eingetragene Mitglieder, darunter so bekannte wie der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek oder der britische Avantgardemusiker Brian Eno. Auch die Register-Vote-Kampagne am Neuköllner Rathaus trägt Früchte. Mohammad will sich als Wähler registrieren lassen und wird von Joanna freudig auf Englisch begrüßt. „Ich wundere mich über Menschen, die denken, dass ich als Polin oder Mohammad als Niederländer nicht an Europawahlen in Deutschland teilnehmen dürften“, sagt die 33-jährige Soziologin. Jeder, der innerhalb Europas umziehe, spräche schließlich ausreichend Englisch, um das Wahlkonzept des Landes zu verstehen, glaubt sie. Auch könne jeder Interessierte auf der Webseite in acht europäischen Sprachen die Standpunkte von DiEM25 nachlesen.Für die wollen Jasper und Joanna in ihren Berliner Heimatbezirken die Menschen begeistern. Jede Stimme zählt. „Wir wollen das Wählen für die interessierten EU- Migranten in Deutschland zu einem Gemeinschaftsereignis machen, wir wollen gemeinsam Spaß haben, nett zueinander sein und vermitteln, dass die europäischen Länder keine einsamen Inseln sind“, sagt Joanna.
Mai 2019