Akustische Verschmutzung  Ich ertrinke im Lärm

Blonder Frau kommt Rauch zu den Ohren heraus. Foto (Ausschnitt): kinkate via pexels.com, CC0

Lärm, oder auch Stille, nehmen wir je nach momentaner Stimmung wahr. Je nach Geisteszustand. Das, was die einen stört, fällt anderen noch nicht einmal auf.

Nach einem 24-Stunden-Arbeitstag schlief ich ein. Ohne mir den Wecker zu stellen. Am nächsten Tag hatte ich zum Glück frei. Ich schlief bei offenem Fenster. Weil ich im ersten Stock wohne, an der Hauptstraße. Der Motorenlärm der vorbeifahrenden Autos in der morgendlichen Rushhour bringt mich nicht aus der Ruhe. Da höre ich es auf einmal. Ich springe aus dem Bett und beuge mich aus dem Fenster. Ich wusste es. Da küsst sich ein Liebespaar. Zunge reibt sich an Zunge, Zähne schleifen über Zähne. Es ist zum Verrücktwerden. Als ob sie mir mit einem Hammer auf den Kopf schlagen würden.

Ich weiß nicht, was ich in meinem früheren Leben war, denn über Lärm freue ich mich, je mehr Dezibel, desto besser. Aber ich hasse Infrageräusche, die sind für den Homo sapiens normalerweise nicht wahrnehmbar. Mich stört das Klicken der Kugelschreiber von nervösen Kollegen. Oder auch das Klirren der Löffel an Kaffeetassen, das Schlürfen und Schlucken. Was das betrifft bin ich überempfindlich. Ich sollte mir wohl professionelle Hilfe suchen.

„Kamil, dreh mal den Sound auf!“

Es ist seltsam: In der Bar, in die ich immer gehe, gerate ich manchmal in Zustände, in denen mir der Lärm aus der Jukebox dort an die Nerven geht. Die Gäste werfen da mehr Geld rein, als ich an einem Abend versaufen kann, und dabei bitten sie die Bedienung noch: „Kamil, dreh mal den Sound auf!“. Kamil holt das Maximum aus den Boxen heraus und ich ertrinke im Lärm. Dabei starre ich auf zwei Fernsehbildschirme, von denen jeder einen anderen Sender zeigt, natürlich auf stumm geschaltet.

Die begeisterten Zuhörer stopfen im Mordstempo Geld in die Box, also ist die Playlist auf dem Bildschirm bald voll. Ich höre, wie die Seiten mit den nächsten Wunsch-Hits im Gerät rascheln.

Es kann aber auch anders sein: Es ist dieselbe Atmosphäre, dazu das Dröhnen der Bar voller Stammgäste, sie überschreien sich gegenseitig, damit sie sich verstehen, und das, obwohl sie nebeneinander sitzen. Sie streiten sich darüber, wer der bessere Politiker ist und wen sie das nächste Mal wählen. Dann bin ich glücklich, konzentriert und schreibe zum Beispiel genau diesen Text hier. Oder liegt es daran, dass ich was getrunken habe? Ich weiß es nicht.

Der Lärm auf dem Jiřák

Ich habe mich entschlossen herauszufinden, wie es anderen dabei geht. Ich gehe los zum Jiřák, dem Jiřího z Poděbrad Platz, da kenne ich die Obdachlosen und werde sie fragen. „Ahoj Míra, welcher Lärm stört dich, wenn du hier auf dem Platz übernachtest?“ frage ich den ersten. „Für’n Bier sag ich’s dir“, antwortet er. Und ich: „Abgemacht!“

„Also erstens stören mich von allem am meisten die Sirenen. Wenn die hier die Straße langfahren. Ich weiß nie, ob das nicht Polizisten sind, die mich suchen. Oder ein Krankenwagen, da hab ich gleich das Gefühl, dass ich krank bin. Oder dass ich sie höre, weil ich schon bewusstlos bin. Oder die Feuerwehr, wie als meine Hose gebrannt hat, weil ich mir vor’m Schlafen noch eine angezündet hab. Und zweitens stört mich, wenn ich aus den Kneipen in der Nähe dieses Furzen höre. Wenn das Bier alle ist und sie den Zapfhahn vom Fass abmachen, oder was das ist. Sonst stört mich nichts.“

Vladimír, der eine Bank weiter sitzt, hört unser Gespräch mit an: „Mich stört am meisten, wenn sich Leute anschreien, wenn sie sich streiten. Bei offenem Fenster. Da komme ich mir dann vor wie zuhause. Deshalb bin ich auch von da weggegangen. Aber wie soll ich von der Straße weggehen? Da hallt alles ganz furchtbar.“Er vergisst nicht, seine Belohnung einzufordern. „Ich hoffe, das Bier gilt auch für mich.“

Hildegarda kommt

Da kommt eine Oma, auf zwei französischen Krücken. Das ist Hildegarda Kacafírková, die die Obdachlosen auf den Bänken täglich besucht. Ich kenne sie schon lange. Manchmal bringt sie mich ziemlich durcheinander. Sie nennt mich nie beim Namen, sie nennt mich „Junge“. Ich muss hinzufügen, dass auf eine Anrede mit „Junge“ ungefähr dreimal die Anrede „Mädel“ kommt. Die Oma sieht wahrscheinlich schlecht, aber sie ist über 80 und hat ein Recht darauf. „Ahoj Oma, wie sehr stört dich der Lärm? Oder besser, welcher Krach macht dir was aus im Leben?“ Sie schaut mich an, als würde sie mich zum allerersten Mal sehen. „Lärm, Oma!“ schreie ich. „Mir macht das nichts aus, ich höre nichts, Mädel“, sagt sie.

Das könnte auch von Interesse sein

Failed to retrieve recommended articles. Please try again.

Empfehlungen der Redaktion

Failed to retrieve articles. Please try again.

Meistgelesen

Failed to retrieve articles. Please try again.