Leben mit einer schizophrenen Mutter  Sprechende Lampen und zwielichtige Magier

Nilüfer Türkmen wuchs mit einer schizophrenen Mutter auf. Foto: © privat

In der Lampe wohnt ein Spion. Überall droht Gefahr. Ein Magier soll das kleine Mädchen beschützen, doch auch ihm ist nicht zu trauen. Es könnte der Plot für eine Netflix-Serie sein: Märchen, eine Prise Horror, mehr oder weniger logisch verknüpft. Für Nilüfer Türkmen (24) war es Alltag. Sie wuchs mit einer schizophrenen Mutter auf. Über diese Erfahrung hat sie ein Buch geschrieben.

„So wie Eltern ihre Kinder in ihren Fantasiewelten belassen, beließ ich auch meine Mutter in ihrer Welt. Wenn sie mit der Lampe sprach oder den Magier kontaktierte, war das wie ein fernes, aber gewohntes Hintergrundrauschen. […] Doch immer wieder tat sich ein Abgrund zwischen den verschiedenen Welten auf.“

Auszug aus Als Mama mit der Lampe sprach. Mein Leben mit einer Schizophrenen Mutter von Nilüfer Türkmen

Wie war euer Alltag, als du klein warst?

Wir lebten zu zweit mit unseren Meerschweinchen in einer Wohnung in Bremen, schiefen auf einer Matratze. Ich spielte draußen, fuhr Fahrrad, besuchte Freund*innen. Meine Mutter war viel in ihrer eigenen Welt, erzählte Geschichten, die nur für sie Sinn ergaben. Fernsehen war schwierig, das vermischte sie oft. Meine Mutter rauchte auch stark. Das ist eine Strategie gegen den Stress. Ihre Realität war immer bedrohlich. Da waren der Spion in der Lampe, wilde Tiere und böse Männer, die uns etwas tun wollten. Es gab auch den Magier, der sollte uns eigentlich beschützen. Der war aber eine zwiespältige Gestalt. Zwischendurch ging meine Mutter einkaufen und versorgte mich, so gut sie konnte. 

Hätte das nicht jemandem auffallen müssen? Deinem Vater, Familie, Freunden?

Meine Mutter lebt schon lange mit der Erkrankung, vermutlich seit ihrem 20. Lebensjahr. Sie nahm Medikamente, das klappte mal mehr, mal weniger gut. Der Kontakt zur Familie ist kaum vorhanden, wir lebten zurückgezogen. Als meine Eltern sich kennen lernten, war meine Mutter 36 Jahre alt. Und mein Vater war selbst krank. Er hatte einen Gehirntumor und starb daran, als ich ein Kleinkind war. Sowas führt auch zu Wesensveränderungen. Möglich, dass ihm viele Eigenheiten meiner Mutter gar nicht aufgefallen sind. Nach seinem Tod hat seine Familie uns buchstäblich vor die Tür gesetzt. So viel also zur Unterstützung.

Wann kam bei dir die Erkenntnis, dass die Realität deiner Mutter nicht mit der anderer Menschen übereinstimmt?

Zunächst war mir das überhaupt nicht klar. Ich habe das einfach so hingenommen, teilweise auch ungefiltert weiter erzählt. Erst im Kindergarten habe ich gemerkt: Da kann etwas nicht stimmen. Meine Freud*innen führten ein ganz anderes Leben, viel geordneter. Das Ganze war aber auch ein Prozess. Es gab nicht den einen, großen Aha-Effekt, eher viele kleine Erkenntnisse. So richtig bewusst wurde es mir erst irgendwann in der Grundschule.

Ich musste mich selbst sortieren, die Schule und den Alltag schaffen und nebenher habe ich versucht, das Leben meiner Mutter zu managen.“

Kurz danach bist du in eine Einrichtung für Kinder gekommen.

Genau, da war ich neun. Der Anfang war schrecklich. Ich habe viel geweint, hatte Angst, bin lange nicht angekommen, mit dem Heimleiter kam ich überhaupt nicht zurecht. Vor allem habe ich mir Sorgen um meine Mutter gemacht. Sie war danach ja noch eine Weile allein in unserer Wohnung. Ich hatte furchtbare Angst, dass ihr etwas passiert. Das wurde erst besser, als sie auch in eine Einrichtung für betreutes Wohnen kam. Da wusste ich: Jemand kümmert sich um sie. Ihr Tag hat Struktur, sie verwahrlost nicht. So ganz freimachen kann ich mich davon aber wahrscheinlich nie. Ich spüre bis heute, auch über viele Kilometer hinweg, wenn es ihr nicht gut geht.
Nilüfer Türkmen Nilüfer Türkmen: „Ich spüre bis heute, auch über viele Kilometer hinweg, wenn es meiner Mutter nicht gut geht.“ | Foto: © Melina Waliczek

Wie hast du für dich einen gesunden Abstand gefunden?

Ganz ehrlich? Erst mal überhaupt nicht. Die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir war ja fast symbiotisch. Ich hatte auch im Heim immer das Bedürfnis, alles für sie regeln zu müssen. Ich musste mich selbst sortieren, die Schule und den Alltag schaffen und nebenher habe ich versucht, das Leben meiner Mutter zu managen. In der 11. Klasse sah es dann aus, als würde ich mein Fachabitur nicht schaffen. Das war ein Weckruf. Ich habe erkannt: Nilüfer, du verbaust dir hier gerade deine Zukunft. Mein Betreuer hat mir damals auch sehr deutlich gemacht: Ich bin für mein eigenes Leben verantwortlich. Ich muss Abstand gewinnen, auch mental. Das war extrem schwierig und ich fühlte mich schuldig. Aber der Schritt war notwendig. Ich hatte auch therapeutische Unterstützung.

Offensichtlich hat es geklappt: Du studierst, du arbeitest, hältst Vorträge und außerdem hast du ein Buch geschrieben. Wann war der Moment, als du wusstest: Ich möchte das aufschreiben?

In der 13. Klasse habe ich ein Referat zum Thema Schizophrenie gehalten. Das kam gut an, weil ich es sehr anschaulich gestalten konnte. Meine Lehrerin hat mir empfohlen, ein Buch daraus zu machen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie das geht, also habe ich einen Kurs für Kreatives Schreiben besucht. Für die Veröffentlichung hat meine Mutter mir die Erlaubnis gegeben.

Wie hat der Rest deiner Familie auf das Buch reagiert?

Es ging so. Das kannte ich aber schon. Die Reaktionen auf mein Coming Out waren seinerzeit auch ziemlich übel. Viel erwartet habe ich da nicht.

Die meisten Leute wissen zu wenig über psychische Krankheiten und sagen: ‚Reiß dich doch mal zusammen!‘ Wahnideen verschwinden aber nicht einfach, schon gar nicht durch sogenannte mentale Disziplin.“

Was würdest du dir für die Zukunft wünschen für den gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Erkrankungen?

Mehr Aufklärung. Die meisten Leute gehen auf Abstand. Das muss nicht sein, gerade, wenn Menschen medikamentös gut eingestellt sind. Außerdem fehlt oft der Respekt. Wenn ein Mensch in der Bahn sitzt und – scheinbar – mit sich selbst redet, wird ganz schnell das Handy gezückt. Das Video geht dann viral, der Mensch wird öffentlich lächerlich gemacht. Außerdem wissen die meisten Leute zu wenig über psychische Krankheiten und sagen: „Reiß dich doch mal zusammen!“ Wahnideen verschwinden aber nicht einfach, schon gar nicht durch sogenannte mentale Disziplin.

Wie geht es deiner Mutter heute?

Sie lebt immer noch in der Einrichtung. Das erleichtert mich sehr. Weil das bedeutet: Ich bin nicht (allein) verantwortlich. Wir haben einen guten Umgang gefunden. Über meine Sorgen kann ich mit ihr nicht sprechen. Sie würde das nicht einordnen können. Damit möchte ich sie nicht belasten.

Eines weiß ich aber ganz sicher: Sie liebt mich sehr. Das habe ich immer gespürt. Ohne diese Liebe wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Das hat mir die Fähigkeit gegeben, mich selbst und auch andere zu lieben. Dafür bin ich unglaublich dankbar.
 

Nilüfer Türkmen studiert Politik- und Rechtswissenschaft in Bremen und Belfast, arbeitet für den Stadtführer Barrierefreies Bremen und prüft Einrichtungen auf barrierefreie Zugänglichkeit hin. Außerdem ist sie freie Referentin zum Thema Schizophrenie und betreibt Aufklärungsarbeit über diese Erkrankung. Ihr Buch Als Mama mit der Lampe sprach erschien 2021 bei Bastei Lübbe.

Weitere Infos unter: niluefertuerkmen.de

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