Noch nie Sex  Leben in Wartehaltung

Leben in Wartehaltung - Absolute Beginner Foto: Priscilla Du Preez via unsplash | CC0 1.0

Von schockverknallt bis abgefuckt: Liebe und Sex haben ihre Höhen und Tiefen. Was aber, wenn man beides als Erwachsener noch nie erlebt hat?

Alex T. lebt in Rheinland-Pfalz, hat dort einen festen Job, wohnt alleine, treibt regelmäßig Sport. Am Telefon  hat er eine ruhige Stimme, häufig fällt das Wort „Schüchternheit“: „In der Schule war ich nie so der Klassenclown, immer ein bisschen so mittendrin, aber auch schüchtern. Ich hatte eigentlich immer relativ viele Freunde und Kumpels, durch Fußball und Schule, aber ich war halt ein bisschen zurückhaltender.“ Mit 19 Jahren hatten seine Kumpels oft schon eine Freundin – nur er nicht. Heute ist er 41 Jahre alt und ist nach drei Anläufen in Sachen Beziehung immer noch Single.
 
Jugendliche oder erwachsene Menschen ohne sexuelle Erfahrung kennt man als „Jungfrau“. Einen Begriff für Menschen, die unfreiwillig nur wenig oder gar keine Beziehungserfahrung haben, gibt es im zeitgenössischen Deutsch allerdings nicht. Die „alte Jungfer“ oder der „Hagestolz“ bezogen sich einst darauf, dass Leute unverheiratet blieben – Liebschaften oder Partner*innen waren aber nicht ausgeschlossen.
 
Etwas aktueller ist hierzulande der Begriff „Absolute Beginner“ (kurz: AB), der seit etwa Ende der 90er Jahre in Gebrauch ist. Er geht zurück auf eines der mittlerweile größten Internetforen für das Thema, den AB-Treff. Entlehnt wurde der Name vom gleichnamigen David Bowie-Song. Schon zuvor tauschten sich Betroffene in englischsprachigen Internetforen aus – als „Incels“. Das Kofferwort steht als Abkürzung für „involuntary celibacy“, unfreiwillige Enthaltsamkeit. Heute wird Incel im engeren Sinne mit gewalttätigen und/oder frauenfeindlichen Hetero-Männern in Verbindung gebracht. Diese waren einst nur ein kleiner Teil der Incel-Szene.
 

„Ich möchte, dass mein erstes Mal was Besonderes ist“

Über den AB-Treff kommt der Kontakt zu Alex T. zustande. Statt „Absoluter Beginner“ findet er „Jungfrau wider Willen“ eine bessere Bezeichnung für sich: „Ich will nicht sagen, ich bin stolz darauf Jungfrau zu sein, aber ich habe mir vorgenommen, dass mein erstes Mal etwas Besonderes sein sollte und kein One-Night-Stand oder Bordellbesuch.“ Dass sich T. öffnet, ist mutig, denn das Thema ist vor allem für heterosexuelle Männer mit viel Scham besetzt. Auch in T.s Umfeld wissen nur wenige Bescheid, einige sogar erst, nachdem er 2017 einer deutschen Zeitung ein Interview darüber gegeben hat. Damals erschien auch ein kurzes Video, in dem man sein Gesicht sieht. Warum outet er sich so? „Ich wollte gucken, wie die Resonanz ist? Vielleicht meldet sich ja auch eine Frau darauf und außerdem wollte ich einfach mal drüber reden. Weil dieses ganze Versteckspiel und Freunden und Familie mit ihren Fragen ausweichen wollte ich auch nicht.“
 
Liest man das Interview von 2017, wird klar: T. hatte eine sehr schwierige Zeit in seiner Familie, mit 16 ist er zu Hause ausgezogen. Trotzdem wünscht er sich heute: Heiraten und Kinder kriegen. Nach einer Partnerin sucht er auf Dating-Apps und bei Facebook, hat die Hoffnung auch noch nicht ganz aufgegeben. Aber: „Ich habe meinen Alltag, meine Arbeit. Ich gehe zwei Mal in der Woche zum Fußballtraining, dann gehe ich ab und zu ins Fitnessstudio. Jetzt habe ich noch angefangen, Baseball zu spielen. Also ich bin eigentlich gut ausgelastet und von daher denke ich nicht mehr so oft an Beziehungen.“ Dann wieder gibt es Tage, an denen er abends alleine auf dem Sofa sitzt. „Jetzt eine Partnerin neben mir und bisschen kuscheln, das wäre doch ganz schön.“ Über eine Therapie hat T. mal nachgedacht, „aber so richtig drum gekümmert habe ich mich nicht. Ich wüsste auch nicht, wer mir da irgendwie helfen könnte.“

Screenshot aus dem Videointerview, das Alex T. 2017 gegeben hat Screenshot aus dem Videointerview, das Alex T. 2017 gegeben hat | Foto: © Frankfurter Allgemeine Zeitung

Äh, war das jetzt schon Sex?

Ab wann man genau aufhört, ein „Spätzünder“ zu sein und ein „Absoluter Beginner“ wird, ist kaum definierbar. Denn der Punkt, ab wann Intimität und eine Beziehung beginnen, ist kulturell und letztlich auch ganz persönlich geprägt: Beim ersten Kuss? Nach der ersten gemeinsamen Nacht? Wenn man Freund*innen und Eltern des anderen kennenlernt? Der erste Sex und die erste Beziehung sind auch so etwas wie ein universeller Übergangsritus ins Erwachsenenleben. Wer’s gemacht hat, der redet drüber. Und: Wer in diesem „Club“ drin ist, kann auch eine eigene Identität drumherum entwickeln: Wie bin ich in einer Partnerschaft, worauf stehe ich im Bett, wen finde ich sexy und welche Beziehungsform will ich leben? Das Kniffelige: Nur in der Theorie lässt sich sowas kaum umfassend herausfinden. Hinzu kommt ein lukrativer, von Unsicherheiten und Erwartungen befeuerter Markt von Styling über Fitness hin zu Dating-Apps, Sexshops, Liebes-Coaches, Hochzeitsmessen und Paartherapeut*innen. Der fiktive Werbetexter Don Draper aus der Serie Mad Men brachte es mal auf den Punkt: „Liebe ist etwas, das ich erfunden habe, um Strümpfe zu verkaufen.“ Wer bei all diesen tollen Angeboten Single bleibt, wird schräg angeschaut. Und die ABs schweigen – meist aus Scham.
 
Unklar ist, wie viele ABs es allein in Deutschland gibt. Die Partnerschaftsbörse „Gleichklang“ versandte 2019 einen Fragebogen, geantwortet haben 5963 Singles im Alter von 18 bis 82 Jahren. Gut 1090 von ihnen gaben an, keine oder nur wenig sexuelle oder Beziehungserfahrung zu haben. Die Mehrheit davon waren Männer, die sich als heterosexuell identifizieren und einen starken Beziehungswunsch haben. Dies deutet zumindest darauf hin, dass ABs nicht per se asexuell oder Beziehungen abgeneigt sind. Unter ihnen, so die Stichprobe, gibt es eine ebenso große Vielfalt wie unter Nicht-ABs. Warum sind sie aber länger alleine als sie wollen?

Berührung kann man lernen

„Fast alle haben ein eher schlechtes Verhältnis zum eigenen Körper“, so Monika Büchner. Sie ist Sexualtherapeutin und Autorin in Frankfurt am Main und bietet spezielle Therapien für Absolute Beginner aus dem deutschsprachigen Raum an. „Das sind keine Rampensäue. Die Männer in meiner Praxis achten sehr darauf, bei Frauen keine Grenzen zu überschreiten. Das sind oft sensible und feinfühlige Männer, sie haben da sehr feine Antennen, was möchte die Partnerin, was nicht. Manchmal denken sie dann schon bei einem Stirnrunzeln: Ah, habe ich was falsch gemacht?“

Alles, was man so kann, hat man im Leben irgendwie gelernt. Die Liebe darf man genauso lernen.“

Sexualtherapeutin Monika Büchner

Büchner hatte vor gut zehn Jahren das erste Mal einen AB in ihrer Praxis vor sich sitzen: Der Mann war Anfang 50, sportlich, unauffällig gekleidet, normaler Beruf. Und: Noch nie eine Beziehung, kein Sex – auch nicht mit sich selbst. Ein „Hardcore-AB“ nach den Kriterien des Forums AB-Treff. Die Therapie half ihm, Büchner veröffentlichte 2016 ihr Buch Für die Liebe ist es nie zu spät. Ihre Klient*innen finden sie meist, wenn in den Medien über Absolute Beginner berichtet wird. Oft ist sie die erste Person, der die Betroffenen sich anvertrauen. In manchen Fällen rät die Sexualtherapeutin zunächst zu einer Psychotherapie. Mit anderen beginnt sie zusammen eine soziale Analyse  – wie ist der persönliche Look, gibt es einen Freundeskreis oder Hobbys, wie ist die Körpersprache und wie lernen die Betroffenen überhaupt neue Leute kennen?
 
Büchners Ansatz geht aber weiter: „Das andere ist die körperliche Ebene. Hat diese Person beispielsweise schon eine erotische Ebene mit sich selber oder nicht? Wo fangen wir da an?“ Hier kann auch das Sexological Bodywork ins Spiel kommen – verkürzt meint dies ein körperorientiertes Sexualcoaching, bei dem es um das sinnliche und haptische Erkunden der eigenen Lust und Sexualität geht. Stimmt die Vertrauensbasis zwischen Klient*in und Büchner, beginnt die Therapeutin, den Körper des anderen zu berühren. Zunächst an den Armen oder Beinen, dann „liegt ein Mann oder eine Frau auf der Massagebank und ist nackt. Dann könnte es sein, dass ich diesen Körper berühre und dass dann auch das Geschlecht dazukommt. Wenn sich das ganz ok anfühlt, ist es für die Klienten oft ein ganz großer Schritt.“
 
Sexological Bodywork komme aber nicht bei jeder Person zum Einsatz, betont die Sexualtherapeutin. In manchen Fällen verweist sie männliche Klienten auch an sogenannte Sexualassistentinnen. Diese arbeiten auch, aber nicht immer als Sexarbeiter*in, die die Sexualität von Menschen mit Behinderungen begleiten. „Bei den AB-Frauen muss ich ziemlich suchen, bevor ich einen Mann finde, der sowas auch anbietet. Da gibt's nur ganz wenige“, so Büchner. Denn der Eindruck, dass es mehr Männer gebe, die ohne Sex, Liebe oder Beziehung ihr Leben verbringen, täusche. AB-Frauen kämen etwa ab Mitte 30 in ihre Praxis, wenn sie erlebten, dass andere um sie herum plötzlich doch noch eine Partnerschaft eingehen, heiraten, Kinder bekommen. Erst dann verhärtet sich das Alleinsein zum Problem, das bisher nicht besonders auffiel – viele der weiblichen Betroffenen haben einen Job, einen Freundeskreis, sind sozial eingebunden. Doch der Herzensmensch kommt einfach seit Jahren nicht und die Frauen senden nur schwache Signale aus.
Sexualtherapeutin Monika Büchner veröffentlichte 2016 das Buch „Für die Liebe ist es nie zu spät“. Ihre Klient*innen finden sie meist, wenn in den Medien über Absolute Beginner berichtet wird. Oft ist sie die erste Person, der die Betroffenen sich anvertrauen. Sexualtherapeutin Monika Büchner veröffentlichte 2016 das Buch „Für die Liebe ist es nie zu spät“. Ihre Klient*innen finden sie meist, wenn in den Medien über Absolute Beginner berichtet wird. Oft ist sie die erste Person, der die Betroffenen sich anvertrauen. | Foto: © Antje Kern

Wie von einem anderen Planeten

Auch Wolfram Huke steckte als Dauersingle fest. Der Filmemacher und Kameramann entschloss sich deshalb vor rund zehn Jahren zu einem radikalen Schritt: Er drehte den Dokumentarfilm Love Alien über sein Leben als Absoluter Beginner, outete sich damit vor Familie, Kolleg*innen, Freund*innen, ja selbst im Supermarkt sprach man ihn darauf an. „Manche haben eine Beziehung nach der nächsten, die gehen in die Disco und knutschen mit irgendwem rum. Wie machen die das denn, das ist ja wie eine andere Welt? Deswegen habe ich den Film auch Love Alien genannt, weil sich das für mich auch so angefühlt hat, als wäre ich wie jemand von einem anderen Planeten, der diese Sprache nicht spricht“, so Huke rückblickend. Damals war er 30, lebte in München und studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film. In seiner Doku geht er erst ins Kloster, dann zu einer Therapeutin, kauft neue Klamotten, strampelt im Fitnessstudio.
 
Am Ende des Films ist Huke immer noch Single, aber sein Outing vor der Kamera verändert alles, er erzählt in zahlreichen deutschen Talk-Shows davon, wie es ist, ein AB zu sein. „Irgendwann habe ich gedacht: du redest jetzt seit einem halben Jahr darüber, was ist das denn eigentlich, worüber du da redest? Ist das denn noch so bedeutend? Das Thema hat sich in seiner Größe etwas aufgelöst. Es war dann nicht mehr so lebensbeherrschend und ich habe nicht mehr so viel darüber nachgedacht.“ Noch in München beginnt der Filmemacher mit dem Swingtanzen, zieht danach beruflich nach Leipzig und begegnet dort auf einer Geburtstagsparty seiner ersten Partnerin. Hunderte Menschen schrieben ihm nach der Filmpremiere, ihnen gehe es so wie ihm. „Ich hab’ da eigentlich nie eine Wut rausgelesen, weder bei Männern noch bei Frauen. Aber eine große Traurigkeit und Ratlosigkeit.“
 
Eine pauschale Lösung gibt es nicht. Huke betont, wie wichtig es ist, aus der Isolation auszubrechen. „Für mich war es ein Hobby, bei dem man sprichwörtlich mit vielen Menschen in Berührung kommt. Ich hätte es früher abgelehnt, zu tanzen, um Frauen kennenzulernen. Das wäre mir zu blöd gewesen“, sagt der Filmemacher. „Das Tanzen hat mir geholfen, weil man aus dieser Schockstarre herauskommt, sobald man in der Nähe von anderen Menschen ist. Wenn man da ein bisschen natürlicher wird und lernt, Nähe auszuhalten und das auch zu genießen, dann ist das die beste Voraussetzung dafür, dass mehr passieren kann.“ Für ihn reichte es nicht, sich einfach nur das Leben nett einzurichten – mit einem guten Job, Geld oder Reisen, so Huke. Man führe trotzdem ein „Leben in Wartestellung“, wacht morgens auf und fragt sich, warum man immer noch alleine ist – und wie lange das wohl noch dauert. Eine Partnerschaft wird zur unbewohnten Utopie, in die jegliche persönliche Erfüllung hineinprojiziert wird; der Rest des Lebens ist auf Stand-by.
 
Huke konfrontiert sich letztlich mit seiner Angst vor Ablehnung und der eigenen Scham: „Vergiss die ganzen Ratgeber und To-Do-Listen. Um die persönliche Weiterentwicklung, dieses Mit-sich-selber-befassen und Lernen, zu sich selber zu stehen, kommt man nicht herum. Das ist einfach Arbeit des Erwachsenwerdens, die muss man leisten.“ Ein Korb ist für ihn heute nicht mehr der Weltuntergang. „Das hat jetzt halt nicht gepasst. Vielleicht hätte es zu einem anderen Zeitpunkt geklappt, vielleicht habe ich auch Fehler gemacht – aber mit mir ist nicht grundlegend etwas falsch.“
 

Im Herzen wieder 15 sein

Büchner hingegen muss manchmal Erwartungen dämpfen – viele Klient*innen haben noch nicht die Erfahrung gemacht, wie zeitintensiv, aufwendig und auch teils kostspielig die Partner*innensuche sein kann: „Dieses ‚Ich muss was dafür tun‘ ist manchmal sehr gering ausgeprägt. Dass man nicht nur dasitzt und wartet, bis das Schicksal einem jemanden zuführt, sondern viele kleine Schritte geht.“ Dabei hätten ihre Klient*innen vor allem Angst, sich zu blamieren, wenn sie zu ehrlich bei einem Date sind und das Gegenüber damit „vergraulen“. Ein Korb oder Ghosting hinterließen dann ein Gefühl von Ohnmacht und Versagen.
 
Die erste Beziehung muss auch bei ABs nicht lebenslang halten, viel eher gibt es mehrere Anläufe – mal länger, mal kürzer. Manche beschließen auch, dass sie doch lieber ohne Beziehung leben wollen, aber dann als freie Entscheidung und nicht als erduldete Bürde. „Alles, was man so kann, hat man im Leben irgendwie gelernt“, sagt Sexualtherapeutin Büchner. „Die Liebe darf man genauso lernen. Der Stand meiner Klient*innen ist dabei ungefähr so, als wären sie in diesem Bereich 15 Jahre alt – dann müssen sie auch ein bisschen wohlwollend mit sich sein. Der 15-Jährige darf jetzt ausprobieren und das wird schon werden.“
 
Von Büchners Leichtigkeit oder Hukes Radikalität wirkt Alex T. noch ein Stück weit entfernt. Im Gespräch geht es auch um Opfer, die man für die Partnerschaft mal bringen müsse; dass eine Fernbeziehung für ihn nicht denkbar sei und dass etliche Männer Frauen nur Liebe vorgaukelten, um regelmäßig Sex zu haben. Es erscheint stellenweise wie ein Weltbild, in das man sich nur noch „richtig“ einfügen muss, damit alles korrekt sitzt und es endlich mit dem Leben losgeht. In dieser Ordnung scheint es auch wenig Widersprüchliches zu geben – keine uneindeutigen Geschlechterrollen, keine Zwischenstufen, keine fließenden Grenzen.
 
Alex T. ist vorsichtig geworden, wie viel er einer Frau vorab von sich verrät, denn manche Frauen sagen ihm auf den Kopf zu, dass er als AB als Partner nicht in Frage kommt. Er probiert es weiter, zuletzt hat er über eine App ein paar Frauen angeschrieben. Und: Er fragt nach Monika Büchners Kontaktdaten.

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