Eine der schmutzigsten Städte der Welt  Dreck und Gleichgültigkeit

Foto von einem Schuhabdruck in feuchter schwarzer Erde
„Die schwarze Erde wurde gelb und rot bei jedem Kontakt mit meinen Stiefeln.“ Foto: © Bogdan Logvynenko

Die russische Stadt Karabasch ist laut Unesco eine der schmutzigsten Städte der Welt. Die Umgebung erinnert an eine Marslandschaft. Der ukrainische Blogger Bogdan Logvynenko über gelben Schnee, einen roten Fluss und die Verkümmerung der Erkenntnis.

Meine Ausgangspunkte waren gleich drei Orte – Tscheljabinsk, Miass und Slatoust. Dort konnte man übernachten. Die Gegend unterscheidet sich kaum vom Rest der guten alten russischen Provinz, abgesehen davon, dass es hier eine große Zahl sogenannter geschlossener Städte gab. In keinem Verwaltungsbezirk Russlands gibt es mehr militärische Sperrgebiete wie hier in der oblast Tscheljabinsk: Tscheljabinsk-65, Tscheljabinsk-70 und Slatoust-36. Nur mit einem speziellen „Visum“ darf man hier verweilen. Hier wurde „Kuskins Mutter“ geboren, auch Zar-Bombe genannt. Mit ihr versuchte Chruschtschow seinerzeit Nixon zu erschrecken – erfolglos.

Zar-Bombe und Lost in translation

Im Norden der oblast entwickelten Kurtschatow und Sacharow die Geheimwaffe „Kuskins Mutter“, eine thermonukleare Bombe. Als Vater von „Kuskins Mutter“ ließ man später nur Kurtschatow gelten. Sacharow hatte sich ein wenig von der sowjetischen „Kirche“ verabschiedet, wurde Dissident und bekam sogar den Friedensnobelpreis. Aber in jenen Jahren arbeitete Sacharow noch für das sowjetische Regime – genau hier in Tscheljabinsk-70.

„Kuskins Mutter“ war die einzige Erfindung, mit der die Sowjets ihre „Kollegen im Westen“ das Fürchten lehren konnten. Sie fuhren zu einem Besuch hin, luden sie im Gegenzug zu sich ein und erzählten von einer gewissen Mutter, aber der Übersetzer war nicht in der Lage den Besuchern die Angst zu vermitteln, die doch das gesamte amerikanische Volk erfassen sollte. Als man in den USA endlich verstand, worum es ging, kamen Scherze auf: über eine sowjetische Atombombe, die zwar existiert, aber nicht fliegen kann. Und die deshalb wohl dort explodiert, wo sie erfunden wurde.

Über „Kuskins Mutter“ habe ich erstmals in einer Erzählung von Tschechow gelesen, und zum zweiten Mal in einem Internetforum. Ein Bewohner des Städtchens Karabasch, 100 Kilometer von Tscheljabinsk, schrieb dort aber nicht über die Bombe. Sein Beitrag lautete ungefähr: „Wir zeigen euch Kuskins Mutter! Allen, die unsere Stadt beleidigen! Denkt nicht einmal daran zu uns zu kommen! Es gibt keine Marslandschaft mehr in Karabasch, bei uns ist es sauber und ordentlich!“ Von solchen Äußeren gab es noch mehr. Die UNESCO hat Karabasch nämlich auf die Liste der am stärksten verschmutzten Städte der Welt gesetzt. Auf Fotos im Internet sah es wirklich so aus, wie auf einem anderen Planeten. Es hieß, Karabasch sei wie der Mars auf Erden. Ich übernachtete gerade in Miass auf halber Strecke zwischen Tscheljabinsk und Karabasch, also entschied ich mich zu einem Abstecher.

Die Reinheit der Nation die Verkümmerung der Erkenntnis

Ich fuhr per Anhalter. Als erstes erwischte ich einen glatzköpfigen Nazi. Hier gibt eine ganze Menge davon. Sie halten die Idee der „Russischen Welt“ für den Gipfel des globalen Denkens und sich selber, die Russen, für die Krone der menschlichen Entwicklung. Manchmal sage ich solchen Leuten nicht einmal, dass ich aus der Ukraine komme, bemühe mich meinen Akzent zu kaschieren und beginne „O“ wie „A“ auszusprechen, so wie es die Moskauer tun. Die Moskauer mag man hier zwar auch nicht, aber eher noch als irgendwelche Ukrainer.

Auch wenn die Moskauer hier nicht gern gesehen sind, fürchtet man sie gleichzeitig ein bisschen. Hier kannst du ruhig behaupten, dass du aus Moskau bist, denn kaum jemand der Einheimischen war jemals dort. Niemand wird nachfragen, in welcher Straße du wohnst. Ich würde erst in ein paar Wochen in die Hauptstadt fliegen – für 400 Rubel, nicht mehr als 14 Dollar. Aber für die Menschen hier ist das keine Frage des Geldes. Sie sind sehr beschäftigt, haben in ihrer Region viel Arbeit. Sie haben keine Zeit, einfach mal irgendwohin zu fahren. Dieser Glatzkopf zum Beispiel, denke ich, ist damit beschäftigt, die Nation zu reinigen, das nimmt eine Menge Freizeit in Anspruch.

„Ich fahre nicht mehr nach Moskau, vielleicht irgendwann mal meine Tochter…“ sagte mir eine 23-Jährige mit einer kleinen Tochter, bei denen ich in Tscheljabinsk wohnte. Mich schockierte immer, wie wenig sich die Leute für ihr eigenes Land interessieren und für das Leben. Als hätten sie keine Sehnsucht danach herumzukommen, etwas zu sehen und kennenzulernen. An diesem Ort spürte ich die Verkümmerung der Erkenntnis wie nirgends und niemals zuvor.

„Mach hier mal kein Theater und setz dich nicht zu Leuten wie mir“, sagte mir der glatzköpfige Nazi im Lada Schiguli. „Ich bin in Ordnung, aber von Faschisten und Neofaschisten gibt es hier jetzt so viele wie Scheiße. Ich würde sie alle im Turgojak-See ertränken.“

Die Zunge hüten

Ich sagte, dass ein See nicht ausreichen würde, wenn es von ihnen so viele gäbe wie Scheiße. Mir tat der See wirklich leid, er ist ein Bruder des Baikal und sehr schön. Nazis sah ich viele Male auf Bahnhöfen, ich sah sie im Stadtzentrum marschieren, aber ich hatte Glück, ihnen kein einziges Mal von Angesicht zu Angesicht zu begegnen – außer diesem einen, der erst erzählt, dass er kein Nazi sei, und dann vorschlägt, alle im See zu ertränken. Ich sei ja schließlich kein „Aseri“ oder gar ein „Kaukase“? Um Opfer des Faschismus zu werden, kann es aber schon reichen, dass du lange Haare hast. Und ich hatte ziemlich lange Haare. Natürlich interessierte er sich wie die meisten Russen dafür, warum und wozu ich mir diese langen Haare wachsen lasse. Den Scherz, dass sie von selbst wachsen würden, verstand er nicht. Ich beschloss, lieber nichts Schlechtes über „Faschisten und Neofaschisten“ zu sagen, nicht dass das hier ein Test war, ob ich kein Antifaschist bin. In Russland lernst du echt deine Zunge zu hüten.

Ich stieg im Zentrum von Karabasch aus, nicht am Stadtrand, und gleich sah ich mich den aufmerksamen Blicken der einheimischen Obdachlosen ausgesetzt. Ich hatte einen kleinen Rucksack dabei und einen Fotoapparat. In den ersten Sekunden meines Aufenthalts „auf dieser Erde“, erfuhr ich alles, wovon mir ein Abgeordneter erzählt hatte. In der Nase kratzte es, die Zunge rollte sich, die Augen tränten, überhaupt bin ich ein empfindlicher Allergiker und Asthmatiker, aber die Neugier war stärker als die physischen Beschwerden. Links von mir schnitt sich eine unwahrscheinliche Gesteinsmasse in den Asphalt, zumindest schien es zunächst so. Es war schwarze Erde, die an riesenhafte Krater und Risse in der Erdkruste erinnerte. Sie wurde gelb und rot bei jedem Kontakt mit meinen Stiefeln. Außerdem gab es ein rotes Flüsschen, das ins Gelbe überging. Hinter ihm weideten Kühe, die dieses Wasser tranken.

Wir waren durch die grünen und duftenden Berge des Ural gefahren. Sogar durch den Filter der Klimaanlage hatte man die Frische dieser Luft riechen können. Beim Blick aus dem Fenster waren mir keine Landschaften erschienen, sondern Muster der herbstlichen, ein wenig vergilbten Blätter, des herrlichen Novemberwetters und der hohen Berge. Als ich aus dem Auto stieg, verschwand das alles wie ein Traum. Du siehst noch seine Bruchstücke, aber vor dir ist die Realität. Kein einziger Baum, ein roter Fluss, gelber Boden, furchteinflößende und schmutzige Menschen und eine Fabrik. Eine Kupferhütte, die in die Atmosphäre allen möglichen Dreck pustet, der sämtliche Sinnesorgane reizt.

Die Fabrik und die Unantastbarkeit

Ich habe den Eintrag im Internetforum erwähnt. Darüber dass in Karabasch alles gut sei, und über „Kuskins Mutter“, die der Einheimische, wie Chruschtschow, zu zeigen bereit wäre. Ich dachte darüber nach, wie überwältigend sich diese Worte von der Realität unterschieden. Ich fragte mich, warum das so war. Was zwingt die Einheimischen, den Wunsch so aggressiv als Wirklichkeit darzustellen? Eigentlich ist es ziemlich einfach und logisch: Sie kämpfen für ihre Lebensweise und ihre Unantastbarkeit, für ihre Angst vor Veränderungen.

Die örtliche Fabrik ist das einzige Unternehmen, das die Stadt ernährt. Ihre Geschichte ist ziemlich eindrucksvoll. Kupfer fand man hier schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, am Ende desselben Jahrhunderts wurde die Fabrik des Zaren eröffnet. Später, im Jahre 1908 kaufte sie ein englischer Magnat und vergrößerte sie beträchtlich. Dann kam die Oktoberrevolution – das Werk wurde enteignet und gezwungen für den Nutzen des ganzen Land zu arbeiten. Eine Modernisierung blieb fast während der gesamten Existenz der Sowjetunion aus. Die sowjetische Regierung saugte fast alles aus der Tiefe der Erde und hinterließ eine absolute Verwüstung. Geschlossen wurde das Werk erst während der Perestrojka 1989. Und als der neue Zar Putin an die Macht kam, öffnete man es zwar wieder, aber erneut ohne es modernisiert zu haben.

Im Jahr 2004 kam es in der Ukraine zu einer demokratischen Revolution. Und in Karabasch kam es zur größten Verschmutzung der Atmosphäre in der Geschichte Russlands. Noch Jahre danach fiel gelber Schnee, alle onkologischen Abteilungen der Region waren mit Patienten aus Karabasch gefüllt. Die Bevölkerung der Stadt verringerte sich um ein Drittel, inoffiziellen Quellen zufolge noch um weitaus mehr. Denn die offiziellen Zahlen gingen vom gemeldeten Wohnsitz, den man in Russland nicht so einfach ändern kann.

Warum verteidigen die Einheimischen eine Fabrik, die sie tötet? Sie tötet ihre Erde, verwandelte das Uralgebirge im Radius einiger Kilometer in eine Location, in der Fantasy-Landschaften für Filme und Computerspiele gedreht werden können. Ein dreißig Meter hoher Berg aus Abfällen, der aussieht wie in Mordor? Ja, den gibt es in Karabasch, ich habe ihn gesehen. Warum sollten die Menschen die Fabrik erhalten? Weil sie Angst haben vor Veränderungen aller Art. Sie brauchen jede Arbeit, um durchzuhalten, und ihre Existenz zu verteidigen. Hier kann man seine Immobilie nicht verkaufen, von hier weg zu ziehen ist beinahe unmöglich.

Das sind Sowjetmenschen, Sklaven, mit denen sogar Chruschtschow versucht hatte zu kämpfen, als er den Sklavenbauern Land, einen Pass und eine Erlaubnis zum Verkauf von landwirtschaftlichen Erzeugnissen auf den Kolchosemärkten gab. Chruschtschow sprach genau so über diese Bauern: „Sklaven“. Und das waren sie wirklich. Eine andere Sorte Sklaven waren die Proletarier, auf ewig an ihre Unternehmen gebunden. Das wahre Wesen der proletarischen Sklaverei aber kann man erst heute erfühlen. In der Sklaverei ist nicht die Sklavenhaltung an sich das Schlimmste, sondern das Sklavenbewusstsein. Es ist die letzte Etappe, in der die Sklavenhalter ihr Ziel erreicht haben: Sie zwangen die Sklaven, sich für ihre Sklaverei zu rechtfertigen. In Karabasch spürt man das wie nirgendwo sonst. Sogar in den mafiösen illegalen Gruben im ukrainischen Donbass hatten die Sklaven wenigstens ein bisschen Stolz.

Ich machte mit einer billigen Kompaktkamera Aufnahmen von der schrecklichen Umgebung, als eine verwahrlost aussehende Gestalt zu mir kam: „Warum fotografierst du hier?“ Er hatte mich von der ersten Minute meines Aufenthalts an beobachtet. Ich zweifelte nicht im Geringsten daran, dass man ihn damit beauftragt hatte, alle möglichen Interessenten für Extremabenteuer abzuschrecken. Ich erfand eine Geschichte über Verwandte, die hier gestorben seien. Daraufhin ließ er von mir ab.

„Erlöse uns und bewahre“

Im Zentrum von Karabasch steht ein kleiner Lenin. Ein Lenin, zu dem man hingehen und den man am Kopf streicheln kann. Und auf dem Berg, auf dem einst Bäume wuchsen, steht ein riesiges Kreuz mit einer steinernen Inschrift: „Erlöse uns und bewahre“. Andere Symbole gibt es hier nicht, eine andere Hoffnung bleibt hier auch nicht. Ich verbrachte in Karabasch nur wenige Stunden. Mit Ausnahme des verwahrlosten Aufsehers wollte niemand mit mir reden. Die Studienkollegin meiner Freundin hatte angeblich viel Arbeit. Ich glaube, sie wollte aus Prinzip nicht reden. Hier ist es schwierig zu behaupten, dass alles gut sei, wenn dir die Luft in den Augen brennt. Nach einer Stunde begann ich wie ein Fisch zu atmen und zu keuchen, während ich langsam aus der Stadt und den schwarzen Bergen Richtung Wald ging. Nach einiger Zeit sah ich den Wald, rechts war ein riesiger Müllhaufen, in dem Leute wühlten. Wie ich schon vermutet hatte, war eine Fahrt per Anhalter hier unmöglich, niemand wollte stehenbleiben. Niemand wollte einen Menschen auflesen, der „mit eigenen Füßen hier wenigstens ein paar Sekunden gestanden hatte“, wie mir der Abgeordnete gesagt hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als rund zehn Kilometer zu Fuß zu gehen.

Ich dachte viel über Kuskins Mutter nach. Erlöse und bewahre sie, Gott. Kuskins Mutter, die sie allen zeigen. Eine Bombe, deren Erfinder aus irgendwelchen Gründen Dissident wurde. Eine Bombe, die nirgendwohin flog. Und es scheint so, als sei sie – wie die Amerikaner scherzten – genau hier heruntergefallen. Angst und Hass. Kuskins Mutter, die die Menschen in Sklaven und eine Stadt in eine ökologische Hölle verwandelt hat, und in eine neuzeitliche Leibeigenschaft versetzte.
 

Karabasch


Karabasch (russisch Карабаш) ist eine Stadt in der oblast Tscheljabinsk (Russland) mit 13.152 Einwohnern (Stand 2010).

Die Stadt liegt am Ostrand des Südlichen Ural etwa 90 km nordwestlich der oblast-Hauptstadt Tscheljabinsk. Stadtbildendes Unternehmen ist die Kupferhütte (Karabaschmed AG), welche in der Vergangenheit für erhebliche Umweltverschmutzung verantwortlich war. So hat der am östlichen Stadtrand gelegene Berg jegliche Vegetation durch sauren Regen verloren.

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