Globalisierung in portugiesischem Dorf  Isst Du auch Erdbeeren im Winter?

Foto von Senhor Caspar
„Die Leute kaufen halt lieber die billigen Produkte. Die Menschen hier haben wenig Geld. Aufhalten lassen sich die Veränderungen sowieso nicht“, sagt Senhor Caspar. Er besitzt hier in der Gegend einen der ältesten Läden. Gegründet vor über 100 Jahren führt ihn Senhor Caspar in der dritten Generation. Foto: © Barbara Wimmer

Was geschieht mit einem kleinen, verschlafenen und ärmlichen Dorf, wenn es unvermittelt in die große, weite, globalisierte Welt katapultiert wird? Die in Prag lebende Ethnologin und Fotokünstlerin Barbara Wimmer nahm ihre alte Mittelformatkamera Rolleiflex Automat I und begann die Veränderungen im portugiesischen Dorf São Teotónio zu dokumentieren. Kaum jemand könnte dies besser als sie. Denn Barbara Wimmer verbrachte selbst einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend in São Teotónio.


Wenn ich mit meinen zwei Töchtern an der Hand durch die Gassen des kleinen Dorfes São Teotónio gehe, erinnere ich mich wie ich selbst als Kind in diesem Dorf Fremdheit, Anpassung und Eingliederung erfuhr.

São Teotónio liegt sieben Kilometer von der portugiesischen Atlantikküste entfernt und hat rund 5.500 Einwohner. Meine Eltern kauften in der Nähe ein Grundstück und siedelten mit mir und meinen Brüdern 1994 hierhin um. Der Lebenstraum meiner Eltern wurde wahr und wir Kinder genossen die damit verbundenen Freiheiten in der Natur, abseits von lärmenden Straßen und meckernden Nachbarn. Neben dieser neu gewonnen Freiheit wurde aber auch eine hohe Flexibilität bei der Einschulung ohne portugiesische Sprachkenntnisse von uns verlangt. Mit elf Jahren erlernten ich und meine zwei Brüder (mit neun und sechzehn) die notwendige Sensibilität für eine neue, fremde Kultur. Wir saßen oft gemeinsam stundenlang auf einer Bank im Schulhof und beobachteten den Alltag in der Schule. Zu Hause unter dem schützenden Mantel unserer Eltern fingen wir langsam an, die Abläufe mit Wortspielen nachzuahmen.

Nach einer langen Phase der Anpassung hatten wir es geschafft: Sie nahmen uns mit und zeigten uns ihr Dorf. Ich erinnere mich, wie es war, in Begleitung einer Freundin mit der flachen Hand an eine dieser kleinen Türen, die Haustüre einer anderen Freundin, zu trommeln, um zu sehen, ob sie zu Hause war. Jedes Mal, wenn ich als estranjeira (Fremde) dabei sein durfte, war ich stolz darauf, eingeführt zu werden in die Geheimnisse dieser Gesellschaft.

Kaum noch Einheimische auf der Straße

Vor 16 Jahren habe ich mich getrennt von der so hart erkämpften Anerkennung als Fast-Portugiesin und lebe heute auf der anderen Seite von Europa, in Prag. Nun stehe ich wieder in São Teotónio. Und ich sehe in dem kleinen Dorf ein Reisebüro mit kyrillischem Schriftzug an der Fassade. Für Bus- und Flugzeugreisen in die Heimat der bulgarischen Landarbeiter, die sich seit 2001 im Dorf niederließen. Mittlerweile gibt es hier die größte bulgarische Gemeinschaft Portugals. Rund 13 Prozent der Dorfbevölkerung sind Bulgaren. Die Geburtenrate ist seit ihrer Ansiedlung im Dorf um insgesamt vierzig Prozent gestiegen.

Ein paar Schritte weiter entdecke ich ein neues, indisches Lebensmittelgeschäft. Von Neugierde getrieben betrete ich es. Der Inhaber erklärt mir, er sei längst nicht der einzige Inder, der hier ein Geschäft betreibt. Immer mehr Inder werden für die Saisonarbeit in der aufstrebenden Agrarindustrie hier im Naturschutzgebiet vermittelt und hierher gebracht.

Ich schlendere weiter durch die Gassen und bin ein bisschen irritiert, dass ich auf meinem Weg durch das Dorf kaum noch Portugiesen antreffe. Mir begegnen kichernde, bulgarische Jugendliche, telefonierende, Flip Flops-tragende Inder, Inderinnen im Sari, Pakistani mit ihrer typischen Salwar Kameez Bekleidung, Punjabis mit Turban und angetrunkene Thailänder, die es sich mit ein paar Bierflaschen auf dem Dorfplatz bequem gemacht haben. Ich sehe chinesische Gemischtwarenläden, in die bulgarische Landarbeiterinnen in Gummistiefeln eintreten, um sich dort Kleidung zu kaufen. Ich beobachte, wie indische Männer in Arbeitsagenturen für Tagelöhner Schlange stehen.

Wo sind all die Herren, die stundenlang zufrieden in der Sonne auf der Bank sitzen und sich anschweigen? Man trifft sie nur noch an wenigen Orten an. Wo sind die schlichten Cafés mit Besuchern, die über einen langen Zeitraum genüsslich an einer mini (mit einem Inhalt von 0,2 Litern die kleinste Bierflasche der Welt) nuckeln? Die Cafés sind von der extrem strengen, nationalen Hygienepolizei geschlossen worden, oder deren Besitzer sind verstorben. Wo sind die Frauen, die ihre Köpfe geheimnisvoll zusammenstecken, um über diesen oder jenen zu lästern, oder über magische Ereignisse berichten und Hilfe bei einer Seherin suchen? Haben keine Zeit mehr und sind zu wenige geworden, Hexenmeisterinnen und Seherinnen verstorben.

Die saudade schmerzt, aber der Wohlstand geht vor

Neben alten, verstaubten Läden, deren portugiesischen Inhaber alt und grau sind, lassen sich nur wenige neue, portugiesische Geschäfte entdecken. Dafür aber bröckelnde Hauswände, geschlossene, verwitternde Fensterläden und einstürzende Dächer.

Auf der Suche nach Wohlstand haben viele junge Menschen das ärmliche Dorf verlassen und sind mit ihrem Hab und Gut Richtung Mitteleuropa gezogen. Ob es ihnen dort besser geht? Tatsächlich vermissen viele den Süden und ihre obligatorische saudade (Sehnsucht) schmerzt. Alte Schulfreunde, die das Dorf verlassen haben, kommen zwischendurch mit Billigfluggesellschaften für ein paar Tage, um ein wenig Heimat zu tanken. Ab und an treffe ich während meines Aufenthaltes zufällig auf emigrierte ehemalige Schulfreundinnen vor einer leeren Espressotasse sitzend, die ihren nostalgischen Blick über den Dorfplatz oder die Strandpromenade schweifen lassen. Die Schulfreundin Maria mag zwar ihren Traumberuf in Norwegen gefunden haben, Tiago aber arbeitet täglich auf dem Bau in der Schweiz. Viele würden ihren neu erlangten Wohlstand in der Ferne nicht wieder aufgeben wollen, um hier das südländische Leben genießen zu können. Was wäre ihre Perspektive? Wer nicht in den Gewächshäusern für einen Hungerlohn schuften möchte, findet neben der Tourismusbranche keine Alternative. Und ganz simpel: Woran sollen sie sich in den eiskalten Wintermonaten wärmen? Wer je in den Genuss einer Zentralheizung gekommen ist, möchte sie nie mehr missen. Hier muss er es.

Während die Abwanderung immer weiter voranschreitet, kommen andere mit der Hoffnung, in Portugal ein besseres Leben zu finden. Ob ihnen das gelingt? Tatsächlich schimpfen viele Bulgaren über die Ausbeutung in den Gewächshäusern und kehren Portugal mittlerweile wieder den Rücken – oder sie denken zumindest darüber nach. Ob die Inder bleiben? Viele Bulgaren behaupten, die Inder kämen nur, um ein Visum für Großbritannien zu ergattern. Dennoch trifft man indische Tagelöhner im Morgengrauen in großen Gruppen an, während sie auf den Bus warten, der sie zu den Gewächshäusern bringt. Und die Thailänder? Sie werden sklavenähnlich unter miserablen Umständen und direkt neben den Gewächshäusern untergebracht. Man sieht sie nur scharenweise im Dorf, wenn sie im großen Supermarkt teuer einkaufen müssen. Danach warten sie, mit ihren Plastiktüten voller Einkäufe auf den Transport in ihre Unterkunft, oder bis die Münzwaschmaschine auf dem Parkplatz fertig gewaschen hat.

„Ohne die Ausländer wären wir hier nichts“

Mit einem Schlag wird ein kleines, verschlafenes und ärmliches Dorf in die große, weite, globalisierte Welt katapultiert und kann dem nur ohnmächtig zusehen. Es wird mit seinen Ängsten von der Regierung im Stich gelassen, muss sich selbst damit arrangieren, mit den neuen Veränderungen zurechtkommen. Viele der noch hier lebenden Einheimischen haben ihr Dorf nie verlassen, sind sehr arm und haben einen niedrigen Bildungsstand. Wenn ihre verlässliche Alltagskultur bröckelt, fehlt ihnen das notwendige Gerüst des Gewohnten.

Ob die Dorfgesellschaft diesen essentiellen Spagat zwischen kultureller Identität und Eingliederung fremder Kultur schafft? Bislang zeichnet sich eine starke Revitalisierung von Tradition und Ritual seitens der alteingesessenen Bewohner und der noch übriggebliebenen jungen Generation von São Teotónio ab. Was Ethnologen als Ressource gegen die sich vollziehende Globalisierung bezeichnen würden, beobachte ich hier im Alltag als Theatralisieren von Tradition. Alte Traditionen, wie beispielsweise das Schweineschächten zu Hause im Kreise der ganzen Verwandtschaft, das von der Regierung im Zuge eines verbessertem Tierschutzgesetzes verboten wurde, erlebt eine Renaissance. Auch lange in der Schublade gehaltene Trachten werden wieder herausgeholt oder neu genäht, um sie dann im Sommer auf der neu organisierten Feira Antiga (Alter Markt) in Szene zu setzen. Patronsfeste werden zu neuer Blüte erweckt. Folkloristische Musik plötzlich mit großem Elan von der jungen Generation neu erlernt. Für die Region typische Lebensmittel wie die Süßkartoffel oder der verschmorte Oktopus werden etwa auf der neuen festa da batata doce (Süßkartoffel-Fest) oder dem festival do polvo (Oktupus-Festival) als kulinarisches Merkmal der Region propagiert.

Einige Portugiesen sehen der Veränderung dennoch gelassen entgegen. Mein früherer Schulfreund Senhor Luís Duarte aus dem Eisenwarenladen zum Beispiel hat dazu nur angemerkt: „Ohne die Ausländer wären wir hier nichts. Wenn die Ausländer nicht wären, wer würde in die leer stehenden Häuser einziehen?“ Dennoch hielt es eine ehemalige Schulfreundin auch für nötig, uns auf Facebook brüskiert mitteilen zu müssen, dass sie beim Einkaufen im großen Supermarkt neben gefühlt einhundert Ausländern nur zwanzig Portugiesen angetroffen hat.

Die „neuen Fremden“ suchen ein neues Leben im friedlichen Europa und vor allem eine andere Perspektive als in ihrem Heimatland. Doch ob der erhoffte Wohlstand hier unter den stickigen Plastikgewächshäusern und den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen wartet?

Hilferufe an die Regierung verhallen

Vor allem sollten die Mitteleuropäer einen Blick auf die Geschehnisse in São Teotónio werfen. Denn, wer im Winter nicht auf Erdbeereis oder Blaubeertorte verzichten kann, sollte sich ein Bild davon machen, was das für Auswirkungen hat. Auch der ganzjährige Heißhunger auf frisches Gemüse und vitaminreiche, gesunde Kost bietet den Treibstoff, weiter zu machen und die Ressourcen des Naturschutzgebietes zu plündern und auszubeuten. Die Agrarindustrie überdüngt die Böden und verseucht die Küste mit erhöhten Pestizideinsätzen, so dass durch den unkontrollierten Abfluss ins Meer bereits alle heimischen Algen ausgestorben sind. Indem die Küste mit Plastikgewächshäusern zugepflastert wird, nimmt sie der Dorfbevölkerung darüber hinaus auch ihre Kulturlandschaft weg, für deren Schutz sie seit jeher in der Schule sensibilisiert wurden. Jeder einzelne der portugiesischen Dorfbewohner spricht von „nosso Parque Natural“ (unserem Naturpark). Er ist im Laufe der Zeit ein wichtiger Bestandteil ihrer Identitätskonstruktion geworden. Umso verständlicher ist es, wenn die meisten nur mit Kopfschütteln auf den Ausbau der Agrarindustrie reagieren.

Die portugiesische Regierung hingegen legalisiert täglich neue Anbauflächen im Naturschutzgebiet und lässt die Bevölkerung mit ihren Sorgen im Stich. Der Bürgermeister von São Teotónio bekam bis jetzt von der Regierung noch nie eine Antwort auf seine vielen Briefe, Emails und Hilferufe an das Ministerium für Landwirtschaft, Forst und ländlicher Entwicklung sowie an das Umweltministerium.

Solange die Kühlregale in Mitteleuropa gefüllt werden wollen und solange die Regierung keine notwendige Sperre für die großflächige Kultivierung im Naturschutzgebiet in die Wege leitet, solange wird sich die Situation Jahr für Jahr an das Vorbild der südspanischen Küste bei Almeria annähern.

Zwar trage auch ich eine nostalgische Brille und Modernisierungsprozesse gehen immer mit Aktionen von Traditionalisten einher. Es ist aber wichtig zu betonen, dass die Schuld nicht bei den „neuen Fremden“ liegt. Sie suchen, ebenso wie jeder andere, nur ihr ganz persönliches Glück auf einem friedlichen Kontinent. Politik, die solche ökonomischen Prozesse zulässt, sollte schon eher in die Verantwortung genommen werden.

São Teotónio


Das portugiesische Dorf São Teotónio erfährt durch die zunehmende Agrarindustrialisierung in dem Naturschutzgebiet Parque natural da costa vicentina einen plötzlichen Wandel der Sozialstruktur. Ältere Leute versterben und Jüngere wandern aufgrund mangelnden Wohlstandes und Perspektiven ab. Demgegenüber steht ein starker Zuwachs von Arbeitsmigranten aus Bulgarien, Nepal, Indien, Thailand, Pakistan und Bangladesch. Sie kommen alle mit der Hoffnung, hier in Europa ein besseres Leben zu führen.

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