Intelligenz 4.0: Suchen wie die Eichhörnchen?

Squirrel Foto: Vincent Van Zalinge / Unsplash

Googles Algorithmen haben die Suche nach Dingen revolutioniert und stellen uns in Sekundenschnelle fast alle Informationen zur Verfügung. Die Entwicklung der Kulturtechnik des Suchens war jedoch ein langwieriger Prozess.

Dirk Baecker

Wie gut das Gedächtnis der Eichhörnchen ist, ist in der Wissenschaft umstritten. Lange Zeit glaubte man, es müsste besonders gut sein, um sich die Verstecke merken zu können, in denen es im Sommer und Herbst die Nüsse versteckt, die im Winter als Nahrung dienen. Dann entdeckte man, dass Eichhörnchen im Winter schlicht überall dort suchen, wo etwas versteckt sein könnte. Dazu braucht man kein Gedächtnis. Zufallsverhalten in Abhängigkeit von einem gewissen Sinn für das eigene Revier genügt. Zusätzlich allerdings kommt es vor, dass Eichhörnchen Nüsse ausgraben und wieder neu vergraben. Überprüfen sie die Qualität der leicht schimmlig werdenden Nüsse? Täuschen sie Konkurrenten? Versuchen sie ihr Gedächtnis zu trainieren?
 
Damit sind wir mitten im Thema. Suchen ist eine Kulturtechnik. Zu bestimmten Anteilen genetisch angelegt, kann sie überdies erlernt und trainiert werden. Aber worin besteht die Technik? Was wird kultiviert? Verlässt man sich auf ein Gedächtnis für Orte, die im Winter so oder so anders aussehen, riechen und sich anfühlen als im Sommer? Verlässt man sich auf den Zufall, den man üben kann, indem man möglichst wenig Verhalten wiederholt? Oder läuft man schlicht immer wieder dieselben Wege und hofft, dass man wiederfindet, was man versteckt hat? Und, wenn ja, wie findet man dann, was andere versteckt haben könnten, und sorgt dafür, dass die eigenen Verstecke eher unentdeckt bleiben?
 
In der Eichhörnchenforschung scheint man sich darauf geeinigt zu haben, dass man gar nicht genug an so vielen Orten wie möglich verstecken kann und dass man im Winter möglichst dauernd und rastlos auf Trab sein sollte. Nebenbei hält das warm und verwirrt die Verfolger.
 
Wenn das stimmt, haben Eichhörnchen Fleiß, Unruhe und Zufälligkeit kultiviert. Ihre Technik besteht darin, die Chance, etwas wiederzufinden, zu maximieren, indem sie sich nicht etwa auf das eigene Gedächtnis, sondern auf eine zu ihrem Suchverhalten passende Modifikation ihrer Umwelt verlassen. Der Rest ist eine Frage der Genetik und der Beobachtung und Imitation der Artgenossen.
 
Google Suche mit dem Handy "Googeln" ist zum Synonym für die Online-Suche geworden | Foto: Solen Feyissa / Unsplash Der geniale Dreh des PageRank-Algorithmus, den Sergey Brin und Lawrence Page für Google erfunden haben, besteht darin, nur dort zu suchen, wo andere schon gefunden haben. Der Algorithmus ordnet die mehr als eine Billion Seiten des Internets nach der Anzahl der Links, die auf jede Seite verweisen. Sucht man etwas, bekommt man nicht alle Stellen gezeigt, an denen etwas über den gesuchten Sachverhalt zu finden ist, sondern man erhält eine Liste, die entsprechend der für andere Benutzer des Netzes attraktivsten Seiten geordnet ist. Wenn man will, kann man in den Long Tail hinabtauchen, wo die Seiten auftauchen, die weniger attraktiv sind. Man findet keine sachlich überprüften Antworten auf seine Fragen, sondern Antworten, die andere Nutzer aus welchen Gründen auch immer nützlich gefunden haben, und kann nur hoffen, dass diese Nützlichkeit auch mit einer faktischen Richtigkeit zusammenhängt. 
 
Man könnte eine eigene Kulturgeschichte des Suchens schreiben. Und man würde sich dabei immer wieder mit Fragen beschäftigen, die mit Intelligenz zu tun haben. Denn Intelligenz, so erkannten Allen Newell und Herbert A. Simon, besteht darin, den Suchraum zu bestimmen, in dem die Wahrscheinlichkeit besteht, eine Lösung zu finden. Die Bestimmung von Suchräumen wiederum ergibt sich nicht von selber, sondern ist eine kulturelle Erfindung. Sage mir, wie du suchst, und ich sage dir, wer du bist. Oder anders: Zeige mir, wie in einer Gesellschaft gesucht wird, und ich sage dir, was das für eine Gesellschaft ist. Alles Weitere ergibt sich daraus, ob eine Person oder eine Gesellschaft in der Lage ist, aus ihrer eigenen Suche zu lernen oder nicht. Kann man mit der eigenen Suche Erfahrungen machen, die dazu führen, die Suchkriterien zu ändern, den Suchraum zu wechseln und neue Fragen zu stellen, oder nicht? Daran hängt, so könnte man sagen, der Wandel von der Intelligenz der Bewegung in definierten Suchräumen, zu einer  Intelligenz, die die Reflexion und Variation des Suchraums beinhaltet.

Strassenlaterne in Japan Wer nur im Licht einer Straßenlaterne sucht, kommt nicht sehr weit | Foto: Ian Valerio / Unsplash
Suchen und Finden ergeben sich nicht von selbst. Ich muss wissen, wonach ich suche und wenn ich es gefunden habe, muss ich wissen, ob es das ist, wonach ich gesucht habe. Und ich muss wissen, wo ich suche. Jeder kennt den Witz vom Betrunkenen, der im Schein einer Straßenlaterne nach seinen verlorenen Schlüsseln sucht, weil nur dort genügend Licht ist. Aber auch wer nüchtern ist, sucht nur dort, wo etwas zu finden ist. Deswegen lohnt es sich, das Suchen als eine Kulturtechnik zu verstehen und mit Mary Douglas nach der Schlagseite, dem 'bias', zu fragen, die das Suchen abhängig von der Kultur hat, in der es auftritt. Diese Tendenz definiert, was jeweils unter Suchen und Finden zu verstehen ist, und sie schränkt die Bedeutung entsprechend ein. Sage mir, wie du suchst, und ich sage dir, in welcher Kultur du lebst.
 
Googles PageRank wäre ein erster Hinweis auf die Form der Suche im digitalen Zeitalter. Wenn man einer seit Marshall McLuhan in den Kulturwissenschaften verbreiteten Tendenz folgt und die Menschheitsgeschichte in vier Medienepochen unterteilt, ist das digitale Zeitalter als die Epoche der elektronischen Medien die vierte dieser Epochen. Google Search ist Suche 4.0. Es lohnt sich, einen kurzen Blick auf die früheren Epochen zu werfen, weil dort anders gesucht wurde, eine andere Auffassung von Intelligenz bestand und von dort aus auch ein anderer Blick auf die Gegenwart geworfen werden kann.
 
Die erste Medienepoche ist die orale oder tribale Gesellschaft. Sie hat den Schock des Auftretens von Sprache zu verarbeiten. Ihre Kultur ist eine Kultur der Ausdifferenzierung und Einschränkung dessen, was gesagt und gehört werden darf. Sie sucht nach Geheimnissen, die es zu bewahren gilt. Auf diese Art und Weise regelt sie, worüber gesprochen und wovon geschwiegen werden soll. Nur so redet nicht jeder jederzeit mit jedem über alles. Das würde die Gesellschaft nicht aushalten. Auf der Suche lastet unter diesen Bedingungen ein Verbot. Suche nicht nach dem, was dich nichts angeht. Umgekehrt heißt dies jedoch, dass alle ständig die Augen offen halten. Man sucht nach Abweichungen, um sie rechtzeitig moralisch sanktionieren zu können. Suche 1.0 ist Suche nach dem zu bewahrenden Geheimnis. Intelligenz 1.0 ist die Überwachung der Grenzen, die dabei einzuhalten sind und die beweglich gehalten werden müssen, weil die Dinge ebenso wie die Befindlichkeiten aller Beteiligten sich ändern können.
 
Die zweite Medienepoche ist die literale Gesellschaft oder antike Hochkultur. Sie hat den Schock des Auftretens von Schrift zu verarbeiten. Die Zeithorizonte der Gesellschaft verschieben sich. Die tribale Gesellschaft lebt in einer Zeit der flüchtigen Gegenwart vor dem Hintergrund der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Mit der Schrift entstehen die Zeithorizonte einer Vergangenheit, in der geschrieben wurde, eine Zukunft, für die man schreibt, und einer Gegenwart, in der man mit dem Geschriebenen zurande kommen muss. Es entsteht ein Bewusstsein für Geschichte und damit eine Unruhe, die teleologisch und kosmologisch aufgefangen wird. Man beginnt danach zu suchen, was es unter diesen Bedingungen heißen kann, eine Geschichte zu haben, und stößt auf das Schicksal, das beides ist: eine eigene Geschichte, diese jedoch in einem kosmischen Rahmen. Man darf die Götter nicht herausfordern und tut laufend genau das. Suche 2.0 ist Suche nach der eigenen Geschichte, die eine Geschichte der unvermeidbaren Verwicklung ist. Intelligenz 2.0 ist die Ausweitung des teleologischen und kosmologischen Suchraums durch naturwissenschaftliche Kenntnisse und philosophische Reflexion.
 
Aber noch ist die Neugier eine Art von Blasphemie. Man pfuscht den Göttern nicht ins Handwerk, man bewundert ihre Schöpfung. Das wird in der modernen Buchdruckgesellschaft anders. Mit der Einführung und Durchsetzung des Buchdrucks alphabetisiert sich die Gesellschaft. Jeder liest und jeder schreibt. Der Mensch rückt in den Mittelpunkt eines humanistischen Weltbildes. Schreibend und lesend klärt er sich und andere auf. Man spricht auch vom Zeitalter der Kritik. Politik und Wirtschaft, Recht und Religion, Wissenschaft und Erziehung, Kunst und Familie dynamisieren sich zu Formen der kritischen Auseinandersetzung mit sich selber. Man sucht nach der Vernunft des Ganzen und findet sie nicht. Suche 3.0 ist der sich um den Verstand bringende Verstand, der dennoch daran glaubt, trainiert durch die Bibliothekskataloge dieser Welt, alle Sachverhalte rational ordnen zu können. Intelligenz 3.0 bezweifelt das.
 
Immerhin hat sich die Kulturtechnik der Suche während all dieser Strapazen um einige einschlägige Techniken erweitert. Man führt Listen und Tabellen. Man hat Indizes und Inhaltsverzeichnisse. Bücher bekommen Seitenzahlen, die dank des standardisierenden Buchdrucks auch brauchbar, weil zitierbar und wieder auffindbar sind. Es entstehen Kataloge, Lexika und Enzyklopädien. Es gibt Gelehrte, Experten für das Suchen und Finden. Man verehrt die Texte nicht mehr nur, sondern man vergleicht sie. Jüngere Texte überprüfen die älteren Texte. Es gibt einen Fortschritt – und parallel dazu die Dekadenz des wachsenden Abstands zur Würde des Ursprungs.

Mann sucht in Bibliothek Die Suche in einer Bibliothek ist zwar langsamer als online, aber manchmal durchaus lohnender. | Foto: Gunnar Ridderstrom / Unsplash
Vor diesem Hintergrund moderner Errungenschaften erscheint das digitale Zeitalter der Einführung und Durchsetzung elektronischer Medien wie die Fortsetzung desselben mit besseren Mitteln. Endlich kann man auf hierarchische Ordnungen verzichten und alles mit jedem verknüpfen. In Lichtgeschwindigkeit können Verweise aufgerufen und wieder fallen gelassen werden. Wenn es sich jetzt nicht ordnet, ordnet es sich nimmermehr. Google macht es möglich. Wikipedia läuft den Enzyklopädien den Rang ab. Jeder darf mitschreiben. Weil man alles suchen kann, kann man auch alles finden. Es genügt ein Hashtag, #squirrelsearch, um mit Hilfe von Gleichgesinnten Listen zu generieren und aufzurufen, die Themen, Aktivitäten, Adressen und Orte quer über den gesamten Globus miteinander verknüpfen und in Windeseile zu Kampagnen, politischen Bewegungen und Debatten verdichtet werden können.
 
Tatsächlich dachte man eine Zeitlang, das digitale Zeitalter eröffne eine Kultur ohne Schlagseite. Hatte man der modernen Aufklärung ihre Dialektik nachgewiesen, die dem Kapitalismus, Imperialismus, Kolonialismus, Rassismus, Sexismus und Speziesismus in die Hände spielt, weil der Verstand verzweifelt und vergeblich mit sich selber befasst ist, während objektive Wissenschaft und destruktive Technologien sich die Welt untertan machen, so verspricht das digitale Zeitalter den endgültigen Anbruch der Demokratie, weil jede Stimme hörbar, jeder Blickwinkel sichtbar und jede Idee produktiv gemacht werden kann. Paradoxerweise muss nicht mehr gesucht werden. Alles ist bereits vorhanden. Es genügt, es aufzurufen. Wer sucht, ist ein Romantiker.
 
Doch dabei bleibt es nicht. Schnell lernt man, die Schlagseite des digitalen Zeitalters zu erkennen. Die einen produzieren die Daten, die anderen werten sie aus. Jetzt bekommt die Suche ein neues Gesicht. Google hilft dabei, doch Google muss auch umgangen werden können. Der Traum einer umfassenden Digitalisierung wird zum Albtraum der Überwachung. Die eigene Suche füttert die Datenkrake. Man wird immer gefunden.
 
Suche 4.0 wird zur Suche nach dem, was sich nicht registrieren, nicht protokollieren, nicht einordnen lässt. In einer Gesellschaft scheinbar umfassender Berechenbarkeit erhält das Nichtvorhersehbare Kultwert. Der Zugriff der Aufklärung, der Ausweg der Romantik, das Vertrauen auf die Vernunft, das Rasen des Verstandes lockern sich. Die Moderne wird blasser. An die Stelle des Humanismus, so Donna Haraway, tritt der Humismus. Man entdeckt die tiefe Verwobenheit des menschlichen Lebens in materielle, organische und technische Bedingungen und misstraut allen bisherigen Versuchen, hier eine Ordnung zu schaffen. Zu brutal sind die Schnitte, die man allzu lange gewohnt war vorzunehmen.
 
Suche 4.0 ist nicht mehr Suche nach zu bewahrenden Geheimnissen, nach einem herauszufordernden Schicksal oder nach einem Verstand, der sich selber um den Verstand bringt. Es ist die Suche nach den Bedingungen, unter denen sich die Menschheit daran hindert, ihre eigene Situation zu verstehen. Zwar ist diese Fragestellung nicht ganz neu. Karl Marx hat nach den gesellschaftlichen, Charles Darwin nach den evolutionären und Sigmund Freud nach den unbewussten Bedingungen gefragt, die sich unserer Suche in den Weg stellen. Aber mit dem Auftreten der Maschinen einer zunehmenden künstlichen Intelligenz im digitalen Zeitalter wird der Problemdruck noch einmal größer. Sollen wir aufgeben, wie es James Lovelock in seinem Buch über das Novozän empfiehlt, in dem die Maschinen vom unfähigen Menschen die Aufgabe übernehmen, den Globus an der Überhitzung zu hindern. Oder sollen wir uns mit Donna Haraway dem Chthuluzän widmen, in dem die Menschheit die Aufgabe akzeptiert, die verlorenen Refugien wieder entstehen zu lassen, in denen sich die Natur von unseren Eingriffen erholen kann?
 
Tatsächlich befinden wir uns längst im post-digitalen Zeitalter. Es geht nicht mehr nur um die Digitalisierung, sondern es geht um die Einpassung digitaler Datenverarbeitung in die analogen Verhältnisse, die die Menschen auf der Erde vorfinden und unter sich gestalten. Dachte man eine Zeitlang, die Maschinen würden eine neue Dimension komplexer Datenverarbeitung erschließen, so entdeckt man inzwischen, dass die Maschinen es nur mit Kompliziertheit zu tun haben, wenn auch einer beachtlichen, den menschlichen Verstand erneut überfordernden Kompliziertheit. Die Maschinen sind bis auf Weiteres an einen binären Wenn/Dann-Rechenmodus gebunden. Zwar konnten sie so schnell nur werden, weil man ihre Boolesche Logik um einen dritten, den „don’t care“-Wert erweitert hat. Und auch die Quantencomputer beginnen, mit dritten Werten der Verschränkung und Überlagerung zu arbeiten. Aber wahre Komplexität findet man nur auf der analogen Seite der Welt. Man findet sie dort, wo Körper, Bewusstsein, Technik und Gesellschaft Symbiosen eingehen, in denen sie aufeinander angewiesen sind, ohne sich einander zu unterwerfen. Wahre Komplexität ist die Komplexität des Unverfügbaren, aber Vorauszusetzenden und Mitlaufenden. Hier findet man die Intelligenz 4.0.
 
Ein wenig ist es wie bei den Eichhörnchen. Wir haben die Nüsse versteckt. Aber wir finden gerade heraus, wo wir nach ihnen suchen müssen. 

Dieser Aufsatz wurde erstmals auf dem Kultur/Reflexion Blog der Universität Witten/Herdecke veröffentlicht und ist dort mit vollständigen Fußnoten verfügbar. Weitere Stichworte von Dirk Baecker über die Zukunft kreativer KI gibt es hier.

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