Wenn KI-Kunst und Kommerz aufeinanderprallen

"Hahn/Cock" ist eine ultramarinblaue Skulptur der deutschen Künstlerin Katharina Fritsch © Nick Savage / Alamy Stock Photo

Computer können überraschende, wunderbare Kunst produzieren – sie können zu Profitzwecken aber auch dazu gebracht werden, unsere Aufmerksamkeit zu untergraben, uns unserer Privatsphäre zu berauben und unsere politischen Ansichten zu polarisieren. Zwei Künstler setzen sich mit einer Technologie auseinander, die auf hehren Idealen basiert, aber dazu benutzt wird, Werbung zu verkaufen.

Alex Tighe

Ultramarinblau ist ein Farbton, der so eindrucksvoll und so teuer ist, dass Michelangelo einst ein Kunstwerk unvollendet ließ, weil er sich nicht genug davon leisten konnte. Johannes Vermeer wiederum stürzte seine Familie in Schulden, um damit den Turban in seinem berühmtesten Werk Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge zu malen. Ein italienischer Maler des Mittelalters schrieb einst: „Azzurro oltramarino ist wahrlich eine edle Farbe, schön, vollkommen über alle Farben, von demselben kann man nicht leicht zuviel Rühmens machen.“
 
Lassen Sie es mich dennoch versuchen. „Ultramarin“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „überseeisch“: Bevor im 19. Jahrhundert eine synthetische Version erfunden wurde, wurde ultramarinblaues Pigment durch das Mahlen von Lapislazuli-Edelsteinen hergestellt, die aus einem unwirtlichen Tal in Afghanistan stammten. „Wem sein Leben lieb ist“, schrieb ein Vertreter der Ostindien-Kompanie einst, „der sollte das Koktscha-Tal vermeiden.“
 
Im Jahr 2014 wurden die Minen von einem Kriegsherren in Besitz genommen, die letzte in einer langen Geschichte gewaltsamer Übernahmen. Das seitdem erwirtschaftete Geld dient der Bestechung von Politikern und der Finanzierung der Taliban. Nichts davon ändert die Farbe und Schönheit von Ultramarin, aber es ändert etwas anderes – und das muss es auch. Sassoferratos 'Die Jungfrau im Gebet' und Johannes Vermeers 'Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge' Sassoferratos „Die Jungfrau im Gebet“ und Johannes Vermeers „Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ | Fotos: Niday Picture Library & Alamy Stock Photo / Ian Dagnall & Alamy Stock Photo


Binäre Schönheit

 
Berechenbarkeitstheorie wird selten mit Schönheit in Verbindung gebracht, aber vielleicht sollte sie das. Eine Stelle, an der man die Geschichte der Berechenbarkeitstheorie beginnen lassen könnte, liegt im Jahr 1950, mit der Veröffentlichung von Alan Turings „Rechenmaschinen und Intelligenz“. Turing war ein Visionär; sein Aufsatz versuchte die Frage zu beantworten, ob Computer denken können – eine tiefgreifende, herausfordernde Erörterung, die Philosoph*innen wie Ingenieur*innen in Aufregung versetzte.
 
Aber was als Versuch begann, den Geist zu erforschen, wurde in einen Motor für den Kommerz verwandelt. Neben ihren anderen Einsatzmöglichkeiten (in der Medizin, in der wissenschaftlichen Forschung, in der Sprache) wurde die sogenannte künstliche Intelligenz genutzt, um Nutzer*innen dazu zu verleiten, mehr YouTube zu schauen, oder das Verhalten von Facebook-User*innen zu beeinflussen – beides zum Zwecke des Verkaufs von zielgruppenspezifischer Werbung. „Die besten Köpfe meiner Generation denken darüber nach, wie man Leute dazu bringt, auf Werbung zu klicken“, erklärte ein Facebook-Ingenieur 2011. „Das ist ätzend.“
 
Dann sind da die Computer-Künstler*innen, die seit Jahren danach streben, die Verheißung der Berechenbarkeitstheorie auf Schönheit zu erfüllen – mithilfe derselben Maschinen, manchmal sogar derselben Algorithmen, die jetzt als Instrumente von kommerzieller Überwachung, Aufmerksamkeitsausbeutung und Voreingenommenheit eine heftige Gegenreaktion erleben. Ändert das irgendetwas?
 

Die Maschine von innen kritisieren

 
„Ja, das sind so die Dinge, über die ich nachdenke“, erklärt der derzeit in London lebende türkische Künstler Memo Akten.
 
2015 schuf Akten mithilfe eines von Google entwickelten Tools namens DeepDream ein Bild – er jagte ein Satellitenfoto des britischen Spionage-Hauptsitzes durch die Algorithmen, um das Bild eines Auges inmitten einer halluzinatorischen, brodelnden grauen Landschaft zu generieren. Der Effekt ist abstoßend und unheimlich; will sagen, es ist gute Kunst. Algorithmen, die es seit Jahrzehnten gebe, seien plötzlich beliebt, schrieb Memo damals, und dass Fortschritt „unleugbar von Investitionen in mehrstelliger Milliardenhöhe seitens der Lieferanten der Massenüberwachung gespeist wird.“
 
In dem Werk wurde das Medium auf sich selbst zurückverwiesen; die Schlange knabberte an ihrem eigenen Schwanz. Als Akten ein Jahr später eine Künstlerresidenz bei Googles neu eingerichtetem Artists + Machine Intelligence-Programm erhielt, nutzte er die Zeit, um einen Twitter-Bot zu bauen, der die geschlechtsspezifischen Vorurteile illustrierte, die Sprachalgorithmen von unserer Alltagssprache lernen.
 
Kunst ist einer der Wege, wie Normen verschoben werden können, erklärt Akten. „Noch vor ein paar Jahren wurde diese Frage von Vorurteilen womöglich gar nicht diskutiert, oder wenn doch, dann hieß es nur: ‚Naja, so ist das eben.‘ Aber jetzt wird es quasi inakzeptabel, es gilt als akzeptiert, dass es inakzeptabel ist. Ich denke, das ist es, was Kunst bewirken kann.“
 
'All watched over by machines of loving grace' von Memo Akten „All watched over by machines of loving grace“ von Memo Akten | © Memo Akten

Welche Kunst wird gesehen?

 
Akten brachte jedoch noch eine andere Überschneidung von Kunst und Tech-Firmen zur Sprache; Öffentlichkeitsarbeit. Programme wie Googles Artists + Machine Intelligence (AMI) könnten Künstler*innen möglicherweise „auf eine Art [unterstützen], die die an den Mainstream übermittelte Botschaft kontrolliert“, formuliert er es sorgfältig. Er räumt ein, dass es ein Problem wäre, wenn Google beschließen würde, nur Künstler*innen zu finanzieren und zu fördern, deren Arbeiten unbedenklich und unkritisch sind.
 
Bei einer kürzlichen Zoom-Paneldiskussion auf Einladung des Goethe-Instituts erklärte Kristy H.A. Kang, Lehrbeauftragte an der Kunstakademie der Technischen Universität Nanyang, sie verstehe, warum moderne Künstler*innen mit Tech-Giganten wie Google zusammenarbeiten.
 
„Ich bin nicht unbedingt der Meinung, dass Künstler*innen nicht mit großen Tech-Firmen zusammenarbeiten sollten. Ich denke, es kommt sehr darauf an.“ Kang wies darauf hin, dass viele Branchen Kunst fördern und dieses Engagement zu einer fruchtbaren Annäherung zwischen unterschiedlichen Perspektiven führen kann. „Das einzige, was man wirklich im Auge behalten muss, ist die Frage, welche Absicht dahintersteht“, erklärt Kang. „Ist dies ein Weg, die Arbeit des/der Künstler*in oder von wem auch immer auszubeuten, oder findet das tatsächlich auf Augenhöhe statt?“
 
Der Akademiker und Künstler Mike Tyka war einer der Gründer*innen des AMI-Projekts. In einer Zuschaltung von der Westküste der USA stimmte er zu, dass es Anlass zur Sorge wäre, wenn Google mithilfe seines Geldes kontrollierte, wie über das Thema KI-Technologie gesprochen wird. Aber, erklärte er, Google habe schlicht und einfach keine derartige Vormachtstellung über die KI-Kunstwelt. (Akten argumentierte ähnlich und hielt fest, dass er während seiner Arbeit an seinem AMI-Projekt keinerlei Zensur ausgesetzt war.)

Und während Tyka kein Problem damit hat, dass Menschen Kunst produzieren aus rein ästhetischen Gründen, sagt er: „Wenn Kunstwerke Technologie verherrlichen, die riesige dunkle Seiten hat und diese dunklen Seiten nicht sichtbar machen, ist es durchaus vertretbar, diese Kunstwerke zu kritisieren im besten Fall als naiv oder ignorant und im schlimmsten Fall als fahrlässig.“

Kunstinstallation "Us and them" von Mike Tyka "Us and them" von Mike Tyka enthält Tausende von Tweets, die von russischen Bots stammen. | © Mike Tyka

Jetzt wird es komplex

 
„Es ist sehr einfach, diese Technologien beeindruckend aussehen zu lassen“, erklärt Akten, „denn sie sind beeindruckend. Es ist auch sehr einfach, diese Technologien furchteinflößend aussehen zu lassen, denn sie sind auch furchteinflößend. Daher haben wir eine komplizierte Diskussion darüber zu führen, was diese Technologie ist und wo ihre Entwicklung hingeht.“
 
Kunst kann mit Komplexität umgehen. Nach Brexit und der Trump-Wahl trainierte Tyka ein neuronales Netzwerk mit Hunderttausenden von Tweets von russischen Bots und kombinierte es mit einem anderen Netzwerk, das realistische Bilder von nicht existierenden Personen generierte. Er befestigte zwanzig Drucker kreisförmig an der Decke einer Galerie, ließ sie zwanzig lange Ströme von erfundenen Tweets erfundener Menschen drucken und schuf so, was sich nur als niedersinkender Höllenkreis von apokryphem Nonsens und Propaganda beschreiben lässt.
 
Dann platzierte Tyka unter den Druckern, innerhalb des Kreises heruntergefallener Information, zwei Stühle. „Das ist eine Einladung, sich hinzusetzen und mit einem anderen Menschen ein echtes Gespräch zu führen, von Angesicht zu Angesicht“, erklärt er.

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