Grigory Semenchuk im Gespräch mit Ulrike Almut Sandig
Dear, are you safe?
- The most popular question to Ukrainians in interviews with Western media in recent months is "Tell us how you felt on February 24." Please tell us how you felt on February 24th. What did you, as a German poetess, who are deeply immersed in Ukrainian context, experienced that day?
Am 24. Februar habe ich direkt nach dem Aufwachen gelesen, dass die Eskalation begonnen hatte. Am Tag zuvor hatten wir noch mit dem Literaturfest Salzburg gezoomt, wo wir gemeinsam im Mai auftreten wollten. "Dear, are you safe?", schrieb ich Dir kurz nach acht Uhr. "Just reading that Lviv has been targeted too. Where are you?" Meine Tochter und ich hatte an diesem Morgen einen Augenarzttermin. Mit dem Rezept in der Hand fuhren wir in einem dieser Berliner Doppelstockbusse heim. Mir war klar, dass ich mich den Rest meines Lebens daran erinnern werde, an diesem 24. Februar 2022 beim Augenarzt gewesen zu sein - so wie ich weiß, dass ich am 11. September 2001 auf einem Radiohead-Konzert war. Ähnlich wie bei 9/11 war offensichtlich, dass es kein Zurück geben würde zu einem Europa vor der Eskalation.
Obwohl Russland seit der Annexion der Krim acht Jahre zuvor einen uneingestandenen Krieg gegen die Ukraine führte, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Angst um meine Freund*innen an den vielen Orten in der Ukraine, an denen ich Lesungen und Konzerte gegeben hatte. Gleichzeitig war total unklar, was als nächstes passieren würde, und wo. Zu Hause bin ich panisch meine ukrainischen Freunde und Bekannten durchgegangen, habe sie gefragt, wo sie sich aufhielten, sie gebeten, das Land zu verlassen, die sich überschlagenden Nachrichten in ihren Stories nachgelesen. Noch am Vormittag meldeten sich auch bei mir einige Freunde, die um meine Reisen in die Ukraine wussten, und baten um Hinweise, wo und wie sie helfen können.
Ich bin fast jeden Tag mit Freund*innen oder Bekannten aus der Ukraine in Kontakt. Nach dem Aufstehen morgens schicke ich meistens erstmal Dir eine kurze Nachricht, um zu checken, ob alles okay ist oder Du wieder die halbe Nacht im Luftschutzkeller verbracht hast. Weil ich kaum Ukrainisch kann, bin ich auf die Posts ukrainischer Bekannter auf Facebook angewiesen, weil sie automatisch übersetzt werden. Viel erfahre ich von der in Deutschland lebenden Community, etwa von der Filmemacherin Natalija Yefimkina, die im lokalen Radiosender RBB ein Kriegstagebuch mit zahlreichen Interviews in Originalton und Übersetzung sendet.
Nachdem meine Tochter vor einigen Wochen mehrfach das Piepen eines Rauchmelders mit leerer Batterie für Bombenalarm hielt, achte ich darauf, nicht zu offen mit den Bildern / Videos, die mir täglich geschickt werden, umzugehen. Denn natürlich haben wir hier längst begriffen, dass je nach Kriegsausgang auch unsere Sicherheit in Gefahr ist. Aber nach der ersten Panik finde ich es jetzt unangemessen, mich um die "Auf nach Berlin"-Sprüche auf russischen Panzern zu sorgen, während ein Land, in dem ich mich seit vielen Jahren so herzlich aufgenommen fühle, in Schutt und Asche gelegt wird.
Was mich beschäftigt, sind die kleinen Dinge. Die Freundin, deren Mann beim Videocall die Kamera auslässt, weil das Leuchten seines Displays keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll. Eine befreundete Übersetzerin, die mir erzählt, dass sie sich mit ihrer Familie bei jedem Bombenalarm hinter zwei Wänden versteckt, um sich vor Glassplittern zu schützen. Die russische Rakete, die vor dem Fenster einer Dichterkollegin in Bucha vorbeiflog, während ihre Verwandten ihr sagten: Es gibt keinen Krieg. Die Frau in Mariupol, die ihre Nachbarin am Straßenrand begräbt. Wenn ich hier nicht zuhöre oder Hilfe anbiete, kann ich mir selbst nicht mehr in die Augen sehen.
- It is clear that the war in Ukraine is a completely new historical page of Europe and World. In your opinion, with which historical period or event can we compare the current situation in Ukraine?
Ich finde es gefährlich, Vergleiche zu historischen Ereignissen zu ziehen, weil es dabei oft entscheidende Details gibt, die den Blick auf die Gegenwart verstellen, anstatt ihn zu schärfen. Putin hat uns in seiner Rede am 21. Februar deutlich gezeigt, dass aus einem falschen Geschichtsverständnis Kriege entstehen. Aber natürlich erinnert mich nicht nur Putins Rhetorik fatal an Hitlers Programmschrift "Mein Kampf." Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder erklärte bereits im Juni 2017 vor dem Deutschen Bundestag, dass Hitlers zentrales Ziel der Invasion von 1941 die Ukraine gewesen ist, um dort das Zentrum eines Kolonialregimes der Versklavung und Vernichtung nach US-amerikanischem Vorbild zu etablieren. ‘Germany cannot afford to get major issues of its history wrong.’, fasst er die deutsche Verantwortung hierbei zusammen.
- How are German narratives changing regarding the situation in Ukraine during recent months? Is it correct to think that society is divided in its attitude to Russia's war against Ukraine? In Ukraine, we often see certain appeals from various groups of German intellectuals who play on the side of pro-Russian propaganda in this conflict. How can you explain their thoughts and statements on this?
Der Abschied von einigen Glaubenssätzen, mit denen viele von uns aufgewachsen sind, ist ein schmerzvoller Prozess. Das geht nicht von heute auf morgen. Eine große Rolle spielt dabei das kollektive Schuldgefühl, mit dem wir Deutschen, einverstanden oder nicht, aufgewachsen sind - schief gepaart mit dem linksliberal bürgerlichen Ruf nach "Nie wieder Waffen". Dass so verstandener Pazifismus ein Luxus ist, den wir uns nie leisten konnten, es aber zu lange glaubten, lernen viele Deutsche erst jetzt, gut beraten von ex-jugoslavischen Stimmen, die mit berechtigter Bitterkeit darauf hinweisen, dass dieser Krieg eben nicht der erste Krieg in Europa seit siebzig Jahren ist. Aber die Bereitschaft, zu lernen und sich mit den eigenen blinden Flecken auseinanderzusetzen, wächst.
Ein anderer Irrglaube ist der, dass eine friedliche Koexistenz mit Russland käuflich sei. Auch ich hielt das Nordstream-Projekt bisher vor allem aus klimaschutzrechtlichen Gründen für unzeitgemäß, teilte aber die Hoffnung vieler, dass der russische Staat durch finanzielle Abhängigkeit von Europa im Zaum gehalten werden könne. Jetzt stellt sich heraus, dass Deutschland es ist, welches sich in Abhängigkeit gegeben hat. Das hätten wir - wie einiges andere auch - wissen können, es wurde seit Jahren darauf verwiesen. Deutsche, die sich seit der Eskalation des Krieges gegen Waffenlieferungen in die Ukraine aussprechen, haben aber verschiedenere Beweggründe, als es von außen wirken mag. Während die Einen an einem kurzsichtig gedachten Pazifismus festhalten und - etwas aus der Zeit gefallen - immer noch hoffen, man könne hier allein mit diplomatischen Mitteln etwas erreichen, fürchten Andere, die Wahrscheinlichkeit eines Atomschlags durch zuviel militärische Unterstützung zu erhöhen. Selbst der PEN-Club hat sich anlässlich dieser Frage so zerstritten, das er gerade eine nie dagewesene Welle von Austritten erlebt. Aber eine Demokratie hält auch harte Diskussionen aus. Die große Hilfsbereitschaft der Deutschen, Ukrainer*innen in ihren Wohnungen aufzunehmen, Hilfstransporte zu bestücken, europäische Geschichte neu zu lernen, spricht auch eine deutliche Sprache.
- The German philosopher and sociologist Theodor Adorno wrote: "Writing poetry after Auschwitz is barbarism, and this undermines the very understanding of why it is impossible to write poetry today." You wrote a very insightful poem about Bucha, co-authored with the Welsh-Indian poetess Tishani Doshi. We have already seen many different tragedies and Russian war-crimes in Ukraine: from Mariupol to Bucha. Unfortunately, as the war progresses, these tragedies are on the rise. Why do you think poetry is still important now? And how you feel about the current moment through artistic view?
Ein Gedicht kann deneinmal eingeschlagene Lauf der Dinge nicht aufhalten. Aber komischerweise habe ich einen tiefen Glauben an die kommunikative Kraft der Sprache über die Jahrhunderte und Kontinente hinweg. Tishani Doshi und ich haben dieses Gedicht über die Entfernung zwischen Chennai und Berlin hinweg geschrieben und die gemeinsame Trauer geteilt. Wenn meine Texte die Selbstwahrnehmung von Menschen als Rudeltieren, die über große Distanzen hinweg Nähe aufbauen können, erleichtern könnten, wäre viel erreicht.
Abgesehen davon finde ich es im Moment wichtiger, ukrainische Gedichte ins Deutsche nachzudichten, als eigene Texte zu verfassen. Ich arbeite dafür im Team mit der Slawistin Claudia Dathe, die mir Interlinearversionen anfertigt und für Rückfragen, etwa über Tonhöhe und genaue Wortbedeutung, zur Verfügung steht.
- What, in your opinion, is important for Ukrainians to understand about modern Germany, and for Germans - about modern Ukraine. And what would you advise German and Ukrainian people to listen, read, watch to know each other better?
Menschen in der Ukraine sollten wissen, dass die Nachrichten, die sie über die unterschiedlichen Haltungen der Deutschen zum Vernichtungskrieg Russlands lesen, oft kanalisiert sind. Mein Eindruck ist, dass wir es hier nicht zuletzt mit einem Informationskrieg zu tun haben, der von russischen Interessen beeinflusst wird. Die breite Unterstützung, die etwa die deutsche Bundestagsentscheidung, schwere Waffen zu liefern, in der Bevölkerung findet, geht neben Nachrichten von Autokorsos prorussischer Demonstrant*innen unter. Eine funktionierende Demokratie ist ohne Dissens nicht zu denken.
Tja, und eine sehr große Anzahl von Deutschen braucht einfach Geschichtunterricht. Der blinde Fleck in Bezug auf die Rolle Stalins im 20. Jahrhundert und seine Schattenwürfe auf das Regime Putins sind nicht zuletzt ein Erbe der westdeutschen Linken und ihrer unbelehrbaren Sympathie für den Kommunismus. Das ist für mich als Ostdeutsche nur schwer zu ertragen. Es wird Zeit, dass die deutsche Linke sich von ihrer gefährlichen Verehrung Russlands verabschiedet.
- I understand that you are not a futurologiest, but I would like to ask you how you see the future of the world, Europe, Ukraine?
Naja, es braucht keine Glaskugel um festzustellen, dass wir in näherer Zukunft mit großen Klimaveränderungen konfrontiert sein werden. Wir sind schon mitten drin. Der menschengemachten Klimawandel müsste jetzt entschieden von politischer Seite eingedämmt werden, auch unter deutlichen ökonomischen Verlusten. Anstatt also panisch Gas einzukaufen, um so schnell wie möglich auf russisches Gas verzichten zu können, sollte die EU jetzt eine weltweite Vorreiterrolle einnehmen und so schnell wie möglich auf erneuerbare Energien umsteigen. Dass das realistisch ist, ist schon vor Jahren ausgerechnet worden. Wenn wir begreifen, dass Politik immer auch Klimapolitik ist, haben wir eine gute Chance, längerfristig zu überleben. Wenn nicht, kann das Erstarken neokolonialistischer Staaten wie Russland und China nicht nur das Ende der Demokratie bedeuten. Aber ich wäre keine Schriftstellerin, würde ich nicht utopisch denken.
Ulrike Almut Sandig liest ihr Gedicht "Bucha" vor: