Ein Rucksack voller Sorgen

Рюкзак тривоги (с) Teen side

Von Kateryna Andriichuk
 

In meinem Rucksack waren folgende Dinge stets vorhanden:

  • Alle meine Dokumente
  • Fischkonserven für alle Fälle
  • Ein Notizblock
  • Ein Bleistift
  • Ein Radiergummi
  • Reiseapotheke
… und Schuldgefühle

Ich schäme mich, über den Krieg zu schreiben, da ich nicht so stark gelitten habe wie andere.

Die ersten drei Tage war ich in ständiger Panik. Es gab einen Augenblick, da ich dachte, ich würde vor Erschöpfung sterben. Erschöpfung vor lauter Panik. Ich dachte auch immer, eine Bombe würde mich töten. Von daher rührt mein Schuldgefühl. Meine Panik war nämlich unbegründet. In jenen Tagen fiel keine einzige Bombe in meinem Bezirk. Die täglichen Zurufe „Hab keine Angst!“  halfen mir nicht. Ich mochte mir einfach nicht vorstellen, dass jemand von meinen Liebsten sterben könnte. Mein Gehirn hat mir nur eingegeben, dass ich selbst sterben würde. Ich fühlte mich wie eine schreckliche Egoistin.

Ich zwinge mich dazu, mich an diese Panik zu erinnern, an die Sirenen, an die Angst, wenn ich am Fenster saß, an das Zucken, wenn jemand laut einen Ball trat oder eine Tür schloss, an die vor Angst stockenden Tränen auf dem Weg zur U-Bahn. Ich weiß, dass ich mit den Jahren diese Traumata vergessen kann. Ich will aber nicht vergessen.

Eine Stimme in meinem Kopf sagt mir ständig, dass es andere noch schlechter erwischt hätten, dass es jetzt nicht an der Zeit sei über Gefühle zu reden, dass dies niemanden interessiere. Alle hatten Angst, nicht nur ich. Ich weiß nicht, wie es anderen gelang, mit dieser Angst umzugehen. Ich war bereits vor dem Krieg ängstlich; aber jemand, der dieses Gefühl zuvor nicht gekannt hatte, mochte es erst recht schwer gehabt haben.

Ich erinnere mich daran, wie ich im Zug nach Wien beinahe weinen musste, als ich Lieder von „Dity inzheneriv“ und „Zhadan i sobaky“ hörte. Auch die fremde Sprache um mich herum und das Gefühl ein Flüchtling zu sein, trieben mir die Tränen in die Augen. Ich will immer noch nicht glauben, dass ich mir jemals vergeben kann… dass ich jemals darüber hinwegkommen kann… Ich kann noch immer nicht akzeptieren, dass ich jetzt nicht in der Ukraine bin.

Es ist so ein Gefühl, als wäre ich irgendwo jenseits von Zeit und Raum, in einem Traum, irgendwo tief in meinen Gedanken – aber nicht in der Realität.

Als ich gestern Abend die Straße entlangging, verfiel ich wieder in Panik. Mir kam es vor, als wäre ich wieder in Kyiv, als könnten wieder jederzeit Bomben fallen. Es war genau das gleiche Gefühl. Wieder überkam mich die Angst, wenn immer ein U-Bahn-Zug vorbeifuhr. Oder sich ein Flugzeug am Himmel zeigte. 

Wenn es darauf ankommt, habe ich alle meine Sachen in einer halben Stunde beieinander. Genau wie in Kyiv. Ich kann noch immer nicht glauben, dass ich in Sicherheit bin. Ich rechne noch immer jeden Augenblick damit, dass die Sirenen heulen und ich mich im Keller verstecken muss; oder dass ich wieder in eine andere Stadt ziehen muss. Noch immer habe ich Angst davor, neben dem Fenster zu sitzen. 

Ich sehe, wie andere Leute ihr Leben weiterleben. Sie kehren nicht jeden Abend mit ihren Gedanken nach Kyiv zurück.      

Gestern sagte meine Mutter zu mir: „Du musst dir erlauben weiterzuleben. Geh doch wenigstens ein bisschen spazieren.“ Ich weiß aber nicht, ob ich überhaupt weiterleben kann. Ich durchlebe die Stunde des Kriegsbeginns jeden Tag aufs Neue. Ich schwanke zwischen Hysterie und vollkommener Gefühllosigkeit. 

Ich betrachte die Menschen in der U-Bahn und denke mir, dass sie ihr ganzes Leben in Frieden gelebt haben. Ich habe auch den größten Teil meines Lebens in Frieden gelebt. Es hätte durchaus sein können, dass ich niemals diese Wahnsinnsangst vor dem Tod kennengelernt hätte.
Ich dachte immer, ich könne meine Angst gut verbergen. Die Menschen in Kyiv kommen mir in den Sinn. Man hat ihnen nie angesehen, dass sie Angst hatten. Sie flanierten auf den Straßen, gingen mit ihren Hunden spazieren, verließen ihre Bunker. Mir aber schien es, als stünde in meinem Gesicht zu lesen: „Beschützt mich! Ich flehe euch an!“

Als wir einmal von unserem Haus zur U-Bahn gingen, meinte ich Schüsse zu hören. Meine Mutter aber sagte, sie habe nichts gehört. Auch damals glaubte ich, sterben zu müssen. Ich kann mich nicht mehr genau an das Geräusch erinnern. Ich erinnere mich nur, dass es keine Ähnlichkeit mit den Schüssen hatte wie man sie aus dem Kino kannte. Ich werde mir wohl überhaupt keine Filme mit Explosionen und Schießereien mehr ansehen können.

Ich erinnere mich jeden Abend immer wieder aufs Neue: wie ich in meinen Kleidern schlief, wie ich die anderen antrieb als das erste Mal die Sirenen losheulten, wie mir auf dem Weg zur U-Bahn beinahe die Tränen kamen, und wie uns die Soldaten zur Eile ermahnten, alle mit den Maschinengewehren im Anschlag – und das Schießen. Das alles kommt immer wieder.

Es ist, als wäre mein Körper von einer Schutzhülle umschlossen: gefühllos, erschöpft, verängstigt, angespannt – als ob er nicht meiner wäre. Ich gehe voran, aber mein Körper bleibt hinter mir zurück.  Er ist schön, unversehrt, geschützt, aber fremd. Er ist wie ein Hündchen, um das man sich kümmern muss. Es kommt dir vor, als würdest du es verstehen, aber dann begreifst du, dass es bloß bellt. So verhält es sich auch mit meinem Körper. Er ist gut, gehört aber nicht zu mir.  

Im Zug nach Chop saß eine Frau mit einem schwarzen Kater. Er hieß Amur. Sie erzählte, er habe zwölf Tage mit zwei Hunden in einem Keller gesessen. Wir waren elf Leute in unserem Abteil. Acht von ihnen waren ausländische Studenten. Sie waren guter Dinge. Aus einer Schüssel aßen sie Maisgrütze, die mit Wasser verdünnt worden war. Alle lachten. Sie schliefen im Sitzen, da es keinen Platz zum Hinlegen gab. Alle lehnten sie aneinander. 

Während ich mein Handy auflud, machte ich mich mit einem Studenten bekannt. Der Platz im Abteil reichte nicht für ihn, weshalb er im Korridor saß. Er erzählte mir, wie er gemeinsam mit Kommilitonen Quartier in einem Keller bezogen hatte und dort russische Webseiten hackte. Er hatte es einem Freund ausgeredet, an der Landesverteidigung teilzunehmen, da er Angst hatte, ihn zu verlieren. Meine Mutter hatte kürzlich ein Freund verloren, der zur Landesverteidigung gegangen war. Er stammte aus Irpin. Mein Bruder und ich verbrachten einen ganzen Abend damit sie zu beruhigen. Sie sagte, dass seine Stimme immer noch in ihrem Kopf herumspuke und ihr versprochen habe, ihre Schwester in Sicherheit zu bringen. 

Vielleicht ist es das Einzige, was einen jetzt noch hält: die Menschen, die in den humanitären Hilfszentren auftauchen und erzählen, wie und woher sie gekommen sind.  Davon wird einem leichter. Es ist, als ob man mit Verwandten in der Küche sitzt und Tee trinkt.

Natürlich kommuniziere ich mit meinen Freunden. Wir scherzen und lachen, aber dann schalte ich mein Handy aus und es ist, als wäre ich in einer anderen Wirklichkeit, da sie alle so weit weg sind. 
Manchmal mache ich Zeichnungen von Kyiv, wie ich es in Erinnerung habe. Am ersten Tag des Krieges hatte ich Angst mein Haus und den Laden daneben zu betrachten, weil ich dachte, beide könnten morgen schon nicht mehr existieren. Ich wollte alle diese Dinge festhalten. Ich möchte Kyiv so schnell wie möglich wiedersehen, auch wenn es nicht mehr so aussehen sollte wie früher. Ich mache mir um die Stadt jedoch keine Sorgen – sie wird widerstehen. Ich habe mir heute überlegt, Häuser mit Pflastern und Nähten zu malen und sie mit grünem Wundmittel zu beträufeln. Wir werden Kyiv bestimmt wieder aufbauen – Kyiv, Charkiv und alle anderen Städte. 

Und so verstehst du, dass du niemals an einem anderen Ort leben können wirst. Ich werde die Fischkonserven wieder in meinen Rucksack packen. Sie werden mich an Kyiv erinnern.  

Vom Projekt:
Wake up, the war is here  Logo (с)Teen side Wake up, the war is here - das Projekt, das dokumentarische Geschichten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Ukraine, die den Krieg erleben, sammelt, übersetzt und mit der Welt teilt. Die ukrainische Jugend macht für sich eine unerwartete Erfahrung mit dem Krieg.


Wir, die ukrainischen Jugendlichen, erhalten eine Menge Informationen über den Krieg: Statistiken, Reden, Zeugenaussagen und Propaganda. Es ist schwer, in dieser Flut von Informationen eine objektive Wahrheit zu finden. Wir sind auch auf der Suche nach Wahrheit, aber einer anderen Art, einer emotionalen und kreativen. Wir sammeln die dokumentarischen Geschichten von unseren Gleichaltrigen über ihre Erfahrungen mit dem Leben inmitten des Krieges. Geschichten, die davon erzählen, wie wir rennen, bleiben, uns verstecken, kämpfen, uns ehrenamtlich, in Panik geraten, lachen und schreiben. Wir sprechen über unseren Krieg, so wie wir ihn empfinden. Wir wollen, dass die Welt etwas über unseren Krieg erfährt, und zwar nicht durch Reden von Politikern oder Berichte von Experten, sondern durch unsere persönlichen, realen Geschichten. Wir sprechen verschiedene Sprachen, um mit der Welt in Kontakt zu treten, und wollen gehört werden.

Das Projekt wird von der Teenager-Community Teenside und dem Literaturwettbewerb für Jugendliche "withoutgaps"  und dem Goethe-Institut Ukraine durchgeführt.

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