Tourismus
„Behandle das Land so wie das Haus deiner Oma“

Tourist*innen in Indien fotografieren das Taj Mahal. Foto (Detail): Ali Al-Sheiba © Unsplash

Mit T-Shirts und Shorts durch den indischen Winter, und Teenager auf Abwegen in Kanada: Die Tourguides Afsha Shaik und Grégoire Boucher sprechen mit Autor Christopher Kloeble über Fehltritte beim Reisen. Unsere Chatdebatte beschäftigt sich mit harmlosen Fettnäpfchen und unverzeihlichen Fauxpas in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen.

Afsha Shaik, Grégoire Boucher und Christopher Kloeble

Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher  Kloeble  (15:04): 
Hallo zusammen, vielleicht sollten wir damit anfangen, uns kurz vorzustellen. Was mich betrifft: Ich bin Roman- und Drehbuchautor aus Deutschland, meine Frau stammt aus Indien und wir diskutieren häufig das Thema, über das wir uns heute unterhalten werden. 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:04):
Hallo, ich heiße Afsha und arbeite seit zwei Jahren als Reiseleiterin in Indien. Fast alle meine Gäste sind Ausländer*innen. Bis jetzt war jede meiner Reisen wieder anders, weil das stark davon abhängt, mit wem man unterwegs ist. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:05):
Wow, du hast bestimmt eine Menge Erfahrungen gesammelt. Wo bist du im Moment? 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:06):
Ja, echt viele Erfahrungen! Ich denke, wenn man mal als Reiseleiterin gearbeitet hat, kann man überall arbeiten. Ich bin momentan in Mumbai, Indien.  
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:06):
Und du, Grégoire? 
 
Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:08):
Hallo! Ich heiße Grégoire oder Greg, komme aus Montréal und meine Laufbahn ist recht bunt, aber ich bin seit fünf Jahren ebenfalls Tourguide, und zwar in Montréal, Québec (Stadt), Ottawa und Toronto. Ich unterrichte zudem in einer englischen Schule Französisch als Zweitsprache! Und ich stimme Afsha 100-prozentig zu: Wenn man mal Tourguide war, kann man so gut wie alles machen. 


Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:09):
Haha, ich bin sicher, du bist ein guter Lehrer, Greg! Wie du ja weißt, lernen wir in diesem Job so gut wie alles. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:12):
Möchte eine*r von euch beiden damit anfangen, uns ein bisschen darüber zu erzählen, wie ihr mit interkulturellen Fehltritten umgeht, wenn sie während eurer Arbeit passieren? Habt ihr jemals einen Fehltritt erlebt, der euch überrascht hat? 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:13):
Ja, das fängt damit an, dass manche Reisenden von ihrem Reiseziel überhaupt keine Ahnung haben. Sie informieren sich vorher null. Sie schaffen sich damit eine Menge Probleme, vor allem, wenn es Indien ist. 


Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:14):
Bleibst du in Indien normalerweise ein paar Tage an einem Ort und dann geht es in eine andere Stadt weiter? 


Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:15):
Ich biete einige Touren in ganz Indien an, den gesamten Norden, nach Goa und auch von Indien nach Nepal.
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:16):
Was sind so ein paar Dinge, über die die Leute nicht nachdenken, wenn sie Indien bereisen? Was ist deiner Meinung nach ein typischer Fehler? 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:17):
Wenn sie sich nicht vorab informieren, geht es schon damit los, dass sie erwarten, dass Indien so ist wie im Film. Zum Beispiel erwarten sie, dass man auf der Straße Elefanten sieht … 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:17):
Bollywood- oder Hollywood-Filme? 
 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:17):
Bollywood, haha.
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:18):
Ich weiß, was du meinst, im Ernst. Wenn man mit jemandem aus Indien verheiratet ist, bekommt man von Leuten in Deutschland jede Menge seltsame Fragen zu hören. 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:19):
Ja, das Hauptproblem ist tatsächlich das, was sie einpacken. Beispielsweise hat Indien mehrere Jahreszeiten. 


Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:20):
Hat Indien einen „Winter“? 



Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:21):
Ja, und viele packen ihre Kleidung nicht dem Wetter entsprechend ein. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:22):
Ich glaube, Delhi hat fünfhundert Jahreszeiten. Weil es keine Zentralheizungen gibt, wird es im Winter ganz schön kalt, und das will nie jemand glauben. 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:23): 
Ja, und im Norden können die Winter ganz besonders kalt sein. Aber natürlich kein Vergleich zu Kanada. 


Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:23):
Das wusste ich nicht. Interessant! 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:24):
Das erste, was ich nach einem Winter in Delhi gekauft habe: Daunendecken. 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:24):
Genau, und da es ein so genanntes Entwicklungsland ist, kommen die meisten Reisenden aus so genannten entwickelten Ländern. Wenn man noch nie in Asien war und als erstes in Indien ankommt, kann einen das schon mal überwältigen. Ich habe da eine lustige Geschichte, die eigentlich gar nicht so lustig ist ... 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:25):
Das interessiert uns jetzt aber.
 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:26):
Auf einer meiner letzten Reisen betreute ich eine junge Gruppe, zwischen 18 und 22 Jahre alt. Es waren zwölf Gäste, hauptsächlich aus Australien und eine Person aus Kanada. Wir hatten alles für unser Informationstreffen vorbereitet und ich wartete auf ihr Eintreffen. Und eine der Reisenden kam 15 Minuten vor dem Treffen zu mir und sagte: „Hallo, ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich wieder nach Hause fahre.“ Diese junge Frau war am selben Tag in Delhi angekommen. Sie packte es nicht. Das ist eines der größten Probleme, wenn man sich vorher nicht informiert. Sie saß noch am selben Tag wieder im Flieger nach Hause. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:28):
Das ist krass. 
 
Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:28):
Was? Heftig! Wegen der Kälte??? 



Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:29):
Nein, sie wollte kein Einzelzimmer, sie wollte es mit jemandem teilen. Und Delhi war zu viel für sie. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:30):
Wie hast du reagiert? 
 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:31):
Wir konnten das Zimmerproblem lösen. Aber sie war von allem anderen trotzdem noch total überwältigt. Es sollte nach Jaipur gehen, was wirklich schön ist. Also sagte ich ihr, sie könne beim nächsten Stopp entscheiden, ob sie bleiben wollte. Aber sie hatte ihren Rückflug schon gebucht. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:32):
Also, das Land, in das sie gereist war, war nicht so, wie sie es haben wollte. Glaubst du, dass das ganz allgemein ein großes Problem ist? Dass sich die Leute einen fremden Ort wie in der Werbung vorstellen und dann von der Realität schockiert sind? 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:33):
Ja, den Kulturschock sollte man nicht unterschätzen. Man muss wirklich sicher sein, wo man hinmöchte. Zudem ist die Situation je nach Budget anders. Wenn man beispielsweise nur Luxusreisen macht, übernachtet man nur in den besten Hotels, und das ist natürlich ganz anders.  
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:34):
Aber eine Luxusreise kann es natürlich schwieriger machen, mehr von dem Ort zu sehen, den man besucht. Manches bleibt einem womöglich verborgen. 
Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:35):
Auf jeden Fall, man macht je nach Budget ganz andere Erfahrungen. So viel steht fest!  


Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:36):
Was für Reisende kommen denn nach Kanada? 



Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:37):
In Bezug auf Québec tun sich die Leute schwer, zu verstehen oder sich auszumalen, dass es im Sommer sehr heiß und feucht wird. Ich glaube, sie halten Kanada für einen riesigen Eiswürfel und wissen nicht, dass wir vier sehr unterschiedliche Jahreszeiten haben. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:38):
Interessant ist ja auch, dass es anscheinend sehr unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was heiß oder kalt tatsächlich bedeutet.  
Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:40):
Ja, absolut. Aber man erlebt auch das komplette Gegenteil: Ich arbeite mit einer Firma namens EF (Education First) zusammen, deshalb sind die meisten meiner Reisenden Schüler*innen (zwischen 12 und 20 Jahre alt). Bei meinen Wintertouren habe ich schon viele gesehen, die für -35 Grad Celsius draußen total falsche Kleidung tragen, wie etwa eine Windjacke oder ganz normale Turnschuhe im Schnee. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:46):
Die Frage ist: Glaubt ihr, dass Fehler zu machen schlecht oder gut ist? Oder einfach mit Neugier zu tun hat? 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:47):
Nein, das gehört zum Lernen dazu. 



Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:48):
Sehr gute Frage. Ich selber reise, ohne mich groß vorzubereiten. Was tatsächlich dazu führt, dass ich auch selbst so einige Fehler mache. Für mich sind Fehltritte beim Reisen (natürlich nur meistens) eine lustige Anekdote, die man hinterher zum Besten geben kann. 


Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:48):
Im Grunde lernt man aus Fehlern, aber es gibt einen Fehler, den ich für fatal halte, nämlich: nicht verantwortungsbewusst zu reisen.
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:49):
Stimmt, Fehltritte führen normalerweise zu interessanteren Anekdoten. Wie, glaubt ihr, kann man verantwortungsbewusst reisen? Da ja heutzutage das Reisen selbst häufig infrage gestellt wird?
Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:50):
Super Frage, ich bin sehr auf deine Antwort gespannt, Afsha! 



Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:50):
Das gilt insbesondere für Indien, denn als Tourist*in beobachten dich die Inder*innen und versuchen dich manchmal auch nachzuahmen. Viele Leute glauben, dass alles, was Tourist*innen tun, richtig ist. Viele Tourist*innen werfen ihren Müll auf die Straße, obwohl sie das in der Regel daheim nicht tun würden. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:51):
Sehr wahr und problematisch. 
 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:51):
Ja, insbesondere, weil wir in Indien ohnehin ein riesiges Verhaltensproblem haben. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:53):
Das ist einer der Aspekte, warum Tourismus nicht immer als Frage von Freiheit betrachtet werden kann, sondern auch als etwas, wo manchmal eine reichere Gruppe reist und (leider sehr häufig) eine andere Gruppe ausbeutet. 
Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:54):
Ich stimme Dir vollkommen zu, Chris. Am Ende jeder meiner Touren sage ich meinen Schüler*innen immer zwei Dinge: 
1. dass sie überall auf der Welt Spuren hinterlassen und sich dessen bewusst sein müssen, und dass sie mit dem Land, das sie besuchen, so umgehen sollten, als sei es das Haus ihrer Großmutter. 
2. sich eine wiederverwendbare Trinkflasche zuzulegen, da Abfall ein Problem ist, mit dem sich ihre Generation auseinandersetzen müssen wird, und dass eine kleine Geste dabei große Auswirkungen hat. 


Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:55):
Absolut. Ich denke, Tourismus sollte immer auf diese Art beworben werden. 


Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:55):
Für mich ein häufiger Fehler von Reisenden: Sie glauben, Urlaub heißt, sich völlig gehen zu lassen und sich um ihr Verhalten einen Dreck zu scheren. Viele denken, dass sie ihren Urlaubsort einfach behandeln können, wie sie wollen. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:56):
Nutzt ihr beide eure Erfahrungen als Reiseleiter*in, wenn ihr selbst reist? 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:56):
Ja, auf jeden Fall, diese Fertigkeiten braucht man.  



Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:57):
Natürlich. Ich möchte mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber ich denke, ich bin ein ganz guter Reisender, und ich versuche, auf die Spuren zu achten, die ich an meinem Reiseziel hinterlasse. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:57):
Habt ihr jemals selbst einen schlimmen Fehltritt begangen? 
 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:57):
Ja. In Paris zum Beispiel sah ich zu sehr nach einer Touristin aus. Und konnte mich nur knapp davor retten, ausgeraubt zu werden. 


Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:58):
Oh! Paris kann heikel sein, was? 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (15:58):
Paris erinnert einen gerne daran, dass man nicht von dort kommt. Selbst wenn man von dort kommt. 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (15:59):
Ja, genau, Greg, an dem Punkt dachte ich mir, ich bin doch nicht für genau dieselben Dinge hierhergekommen, die in Indien passieren. 


Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (15:59):
Ich denke, mein schlimmster Fehler als Reisender war der Versuch, in Barcelona Spanisch zu sprechen. Ich sehe recht spanisch aus, sodass die Leute von mir erwarteten, dass ich fließend Spanisch spreche (was absolut nicht der Fall ist), und anfingen, in sehr schnellem Tempo mit mir zu reden. Ich habe mich total geschämt, weil ich sie nicht verstehen konnte.  
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (16:01):
Leider müssen wir langsam zum Abschluss kommen. Aber hier ist meine letzte Frage: Gibt es Fehler, die unverzeihlich sind? 
Afsha Shaik © private Afsha Shaik (16:01):
Ja. Prostitution auf Rundreisen ist in Indien einfach nicht drin. Das riskiert an jedem Punkt die Sicherheitsvorkehrungen. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (16:02):
Natürlich. Wie schrecklich! Greg, möchtest du noch etwas dazu sagen? 
Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (16:02):
Auf jeden Fall. In den USA (aber eigentlich überall) gehen Drogen gar nicht. Ich hatte mal Probleme mit französischen Teenagern, die in San Francisco Marihuana kaufen wollten, und meine Güte: War das beängstigend! Ich meine, zu Hause irgendetwas Illegales zu probieren ist schon nicht ohne, aber es im Ausland zu tun, ist noch viel schlimmer! 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (16:03):
Ich hoffe, du hast keine Probleme bekommen. 
 
Grégoire Boucher © private Grégoire Boucher (16:04):
Ja, ich musste mich mit der Polizei herumschlagen, ihnen erklären, dass diese Schüler*innen einfach nur dumme und ahnungslose Reisende sind, und sie davon überzeugen, sie nicht mitzunehmen ... 


Afsha Shaik © private Afsha Shaik (16:05):
Ich stimme Greg absolut zu! Insbesondere jüngere Gruppen kapieren nur schwer, dass jemand sie auch ausnutzen könnte. 
Christopher Klobeble © Jens Oellermann Christopher Kloeble (16:06):
Und so können wir abschließend festhalten, dass wir verantwortungsbewusst reisen sollten! Ich befürchte, dass wir hiermit zum Ende kommen müssen. Vielen herzlichen Dank für diese Debatte. 

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