Schönheitsfehler?
Heiße Looks trotz modischer Fehltritte!

Masoom Parmar ist multidisziplinärer Künstler Foto (Detail): © Masoom Parmar

Fehltritte durch modische Statements, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, sind Schnee von gestern. Junge Inder*innen mit unterschiedlichen Gender-Identitäten und -Ausdrucksformen wollen sich mit ihrer äußeren Erscheinung Respekt verschaffen, meint Nirmala Govindarajan. 

Nirmala Govindarajan

Ganz gleich, ob Partner-Tattoos, Ohrpiercings, Zöpfe oder Masken mit ausgefallenen Motiven: Junge Inder*innen interessieren sich nicht für strenge Moderegeln, sondern wählen einen bestimmten Look, um ihre Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen. So entsteht eine bunte Vielfalt an Menschen, die ihren ganz eigenen Modestil pflegen.

In einer Zeit, in der gängige Kleidervorschriften zunehmend an Bedeutung verlieren, werden Schönheitsideale, Modewellen und Lifestyles auch durch das Spiel mit der Geschlechtsidentität bestimmt. Außerdem habe die queere Kultur der weltweiten Modeindustrie schon immer ihren Stempel aufgedrückt, findet der multidisziplinäre Künstler Masoom Parmar.

Vom Outing ins Kino und auf den Laufsteg

„Ob man es nun liebt oder hasst, es ist auf keinen Fall zu übersehen. Die psychedelische Ästhetik, die Modedesigner Manish Arora mit neonfarbenen Einsprengseln und skurrilen Mustern schafft, vermittelte seit der Gründung seines gleichnamigen Modelabels schon immer einen queeren Toucht“, erläutert Masoom. „Rohit Bal schickte auf der Lakmé Fashion Week im Jahr 2003 männliche Models im Rock und mit Nasenring auf den Laufsteg. Sie waren mit zinnoberrotem Sindoor-Pulver geschminkt. Ganz offenbar im Kontakt mit ihrer femininen Seite. Tatsächlich ist die indische Mode zunehmend von nicht-binären Ausdrucksformen geprägt“, so der Künstler.  

„Der aktuelle Bollywood-Schwarm Ranveer Singh trägt Röcke und Stiefel, Mr. Perfectionist Aamir Khan verwendet Kajal und hat ein Nasenpiercing – und die Nation liegt ihm zu Füßen. Das Kediyu (ein langärmliges Oberteil, das an der Brust plissiert ist), das sich inzwischen zu einem modischen Statement für Frauen entwickelt hat, ist eigentlich ein traditionelles Kleidungsstück für Männer in ländlichen Regionen von Gujarat und Rajasthan und wird dort noch immer gern getragen.“

Masoom stimmt dieser Trend zuversichtlich. „Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass queere Männer schon lange Kajal benutzen, Röcke und Stiefel tragen oder ihre Nasenpiercings voller Stolz zur Schau stellen“, hebt er hervor. „Das alles ist für uns keineswegs etwas Neues. Wir beschäftigten uns schon mit modischen Erscheinungen, lange bevor sie zu Trends wurden. Zu Beginn der 2000er‑Jahre, als ich mir meine ersten Ohrpiercings zulegte (inzwischen habe ich 13, zehn in einem und drei im anderen Ohr!), fragten mich wohlgesinnte Freund*innen und weniger wohlgesinnte Verwandte, ob ich auf diese Weise eine Verbindung zu meiner femininen Seite herstellen wollte. Man machte sich über mich lustig, als ich 2013 meine Jeans gegen Lungis (ein langes Stück Stoff, das um die Hüften gewickelt wird und den unteren Körperteil bis zu den Fußknöcheln bedeckt) und Sarongs eintauschte. Sowohl Ohrpiercings als auch Sarongs sind inzwischen total „in“. Heute loben mich dieselben Verwandten für meinen Kleidungsstil. Es ist kaum zu glauben, aber sie bitten mich sogar um modischen Rat.“

Während modische Trends die Binarität der Ausdrucksformen überwinden können, berichtet die Sozialarbeiterin und Kommunikationsberaterin Yogita von schmerzhaften Erfahrungen mit ihren eigenen Tattoos. Und damit meint sie keineswegs den körperlichen Schmerz beim Stechen eines Tattoos, der laut Yogita erträglich sei.

Die lustige Seite eines „Makels“

Das „Lustigste“, was Yogita erlebte, seit sie ihre Liebe zu Tattoos entdeckte, waren die Reaktionen ihrer Großmutter und Mutter, die sie wochenlang boykottierten – wegen eines Tattoos, von dem sie ihnen ohnehin seit Monaten nichts gesagt hatte. „Wann immer sie mich erblickten, machten sie kehrt, als ob sie der Gedanke, dass ich mir als erwachsene Frau ohne ihre Erlaubnis für immer etwas auf meinen Körper hatte malen lassen, ins Unglück stürzen könnte“, erinnert sie sich. „Es war das perfekte Drama, wie in einer Hindi-Sitcom aus den späten 1980er-Jahren. Und es hätte auch sehr gut eine sein können.“

Und das ist noch nicht alles: Nachdem sich Yogita ihr drittes Tattoo hatte stechen lassen – die eine Hälfte eines goldenen Schnatzes aus dem Harry-Potter-Universum prangte nun auf ihrer Hand, die andere Hälfte auf der Hand ihrer besten Freundin –, wurden aus Vermutungen plötzlich Gewissheiten. Yogita sei ohne Zweifel lesbisch, hieß es.  

„Ein Onkel fragte mich sogar, ob ich einer ‚dieser weiblichen Schwulen‘ sei. Dabei war er sehr bemüht, mich nicht zu kränken, obwohl er selbst einen recht gekränkten Eindruck machte. Damals, im Jahr 2015 dachte ich natürlich, dies sei ein indisches Phänomen – doch weit gefehlt. Als ich zum Studium nach Großbritannien ging, war der klügste Mann, den ich damals kannte, vollkommen verwirrt, weil ich keine Lesbe war (warum, fragte ich mich, war diese Tatsache überhaupt von Bedeutung). Und wie lautete seine Begründung? Ich hätte offen über fluide Identitäten gesprochen, und scheinbar muss ein Foto von mir und meiner Freundin mit unserem Partner-Tattoo bei ihm den Eindruck hinterlassen haben, dass ich lesbisch sei. Überflüssig zu erwähnen, dass für den Rest unserer gemeinsamen Busfahrt betretenes Schweigen herrschte. Was soll man einem Mann auch darauf antworten? ‚Hm, nein, tut mir leid, dass ich jetzt nicht mehr deinen Vorstellungen entspreche?‘ – Es war zum Schreien komisch und niederschmetternd zugleich, vor allem, weil wir uns seit einigen Wochen küssten.“

Obwohl Yogita überzeugt ist, dass individuelle modische Statements keinen Genderbezug haben müssen, hat sie doch den Eindruck, dass einige der jüngsten Statements in der internationalen Modewelt in die völlig falsche Richtung weisen.

Ein missglücktes Fashion-Statement

„Was wollte Lady Gaga mit ihrem Fleischkleid bezwecken? Das erschließt sich mir noch immer nicht!“, sagt Yogita entrüstet. Lady Gaga hat dazu später in der Show Ellen DeGeneres erklärt, sie habe bei den MTV Video Music Awards mit ihrem „Fleischkleid“ gegen die Behandlung schwuler Soldaten in der US‑Armee protestieren, keineswegs jedoch die Gefühle von Veganer*innen und Vegetarier*innen verletzen wollen. „Nun“, Yogita seufzt auf, „aus meiner Sicht hat es Lady Gaga nur noch schlimmer gemacht, indem sie ihr Outfit als Ausdruck ‚ihrer eigenen Überzeugung‘ rechtfertigte und erklärte, warum das „Fleischkleid“ ein Statement gegen die geschlechtskonformen Standards des US‑Militärs sein sollte. Dieses Kleid war alles andere als cool. Ehrlich gesagt hat Miley Cyrus mit dem Musikvideo zu ihrem Song ‚Wrecking Ball‘ vermutlich sogar ein passenderes Statement als Lady Gaga abgegeben.“

Wenn es um Statements von Sänger*innen geht, kultiviert der Musiker Achintya Vathul, der so unkonventionell wie seine Berufswahl daherkommt, mit seinem Männer-Dutt ebenfalls einen modernen Look.

Ab in die Fleischerei mit dir

Nahezu während der gesamten Pandemie hat Achintyas liebevoll gepflegte Haarpracht in seiner Familie für Belustigung gesorgt. Wenngleich diese Heiterkeit auch in Form von unbefangen und bedenkenlos geäußerten religiösen Vorurteilen – in humorvolle Kommentare verpackt – über ihn hereinbrach. „Davon einmal abgesehen hätte ich mir nur schwer vorstellen können, dass in meinem Leben jemals der Moment kommen würde, an dem ich meine Haare einfach wachsen lasse“, bemerkt Achintya. „Den Gedanken, lange Haare zu tragen, empfand ich als vollkommen abwegig, weil es mir dafür an der nötigen Vorstellungskraft und Experimentierfreude fehlte. Als ich mich jedoch dazu entschlossen hatte, verspürte ich diese völlig neue und ungewohnte Aufregung, etwas zum ersten Mal zu tun, die mich zunächst völlig verwirrt zurückließ. Inzwischen bin ich einfach nur begeistert von meinen langen Haaren.“

Mehr noch: Auch Achintyas Mutter ist glücklich über seine langen Haare, wie er erstaunt feststellen musste. „Vor allem, weil ich immer damit rechne, dass meine Eltern vollkommen ausrasten, wenn ich Lifestyle- oder Mode-Entscheidungen treffe, die nicht der Norm entsprechen. Doch entgegen meinen Erwartungen ist meine Mutter sehr zufrieden mit meiner neuen Haarpracht – nun hat sie nach eigener Aussage eine Tochter, der sie einen Zopf flechten kann.“

Allerdings teilen nicht alle Menschen in Achintyas Umfeld die Einstellung seiner Mutter. „Viele forderten mich auf, in einer Fleischerei anzuheuern, weil ich wie meine muslimischen Landsleute aussähe. Diese Reaktion zeigt, wie sehr das tägliche Zusammenleben von Vorurteilen im Zusammenhang mit der äußeren Erscheinung oder der religiösen Zugehörigkeit geprägt ist. Menschen meinen, ihre Missbilligung durch unüberlegte Kommentare im Kreise der Familie zum Ausdruck bringen zu müssen.“

Wohlfühlmode

Mit all der Zustimmung und Kritik befand sich Achintya nach eigenen Angaben in guter Gesellschaft. In seiner „Gruppe der Langhaar-Debütanten“ sah man sich von der Pandemie als „ultimative Antriebskraft für modische Experimente“ beflügelt. „Das Wichtigste, das ich aus meinem neuen Leben mit langen Haaren ziehen kann, ist womöglich, dass sie mir und allen meinen Mitstreiter*innen ein gutes Gefühl geben. Nicht mehr und nicht weniger.“ Und das ist doch ein guter Grund für eine neue Frisur, Achintya!


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