Jackass
Die satanische Schule

Steve-O Tattoo auf Steve-O’s Rücken Foto: © Inkedmag.com

Im Herbst 2017 begegnete ich Steve-O am Flughafen von Marrakesch und bis heute ist das eine der größten Erscheinungen in meinem Leben. 

Leonhard Hieronymi

Ich schlich ihm in einen neu eröffneten Massagesalon hinterher, der zwischen einem Zeitschriftengeschäft und einer Filiale von Dior lag. Ich musste umgerechnet fünf Euro zahlen, um Steve-O in einem vibrierenden Stuhl von hinten während einer echten Massage zu beobachten. 

Ich habe Franziska van Almsick in Leipzig gesehen und George Clooney in Berlin und Spike Lee in Rom, aber als ich mit Steve-O im selben Raum sitze, versetzt mir das Schauer. Ich kannte ja seine Biografie, und er sah damals trotzdem so jung aus. Jung und weise.

„Unfall bauen“ 

Steve-O hat sein Geld mit Fehlern verdient. Geld mit Fehlern zu verdienen ist vor allem in den Vereinigten Staaten sehr gut möglich. Steve-O wurde zu unserem Vorbild. Mein Bruder Ferdinand und meine Freundin Viola und mein Freund Tobias haben seine Stunts damals kopiert. Wir hielten den fehlgeschlagenen Stunt – den Unfall – nicht für eine Pseudobewegung, sondern für eine Stellvertreterbewegung. Stellvertretend für unsere Fragilität, stellvertretend für einen Kampf gegen die Ernsthaftigkeit des Menschen.  

Es gibt eine Videoaufnahme von mir, ich kann auf ihr nicht älter als drei Jahre gewesen sein, die mich mit einem großen blauen Paragliderhelm zeigt. Ich richte mich in diesem Home-Video an meine Mutter, ich will einen „Unfall bauen“. Meine Mutter fordert mich dazu auf, den „Unfall bitte zu bauen“ und ich stürze mich mit dem blauen Paraglider-Helm meines Vaters zwischen zwei Stühle und einen Schuhschrank und begrabe mich dabei unter einem Haufen Sitzkissen, Decken und Spielzeugautos. Nach diesen schwierigen Phasen wurde ich ängstlich. Und Steve-O blieb für mich der mutigste Mensch der Welt: Er war Anarchist und Rüpel, Rowdy und Zerstörer. Seine größten Stunts bestehen für mich darin, dass er sich einen Angelhaken durch die Backe stößt und von seinen beknackten Freunden in irgendeiner Tiefsee vor South Carolina als menschlicher Köder benutzt wird; und darin, dass er sich eine Feuerqualle auf den Kopf legt; und darin, dass er einen Goldfisch verschluckt und wieder auskotzt; und auch darin, dass er sich einen Blutegel auf den Augapfel klebt. Kürzlich hat er einen Stunt von 1996 wiederholt, bei dem er vom Dach eines Motels mit Vorwärtssalto in einen Pool springt. Nur um allen zu zeigen, dass er es noch drauf hat: Ich habe keine Angst vorm Tod. Was soll das? 

Steve-O ist nicht eitel 

Bei der Schriftstellerin Leonora Wright, die mit Slapstickkomödien aufgewachsen ist, heißt es: „Das Problem der Menschen ist, dass sie einfach existieren und nichts damit anfangen können, das ist das ganze Problem. Wenn alle tot wären, und daran glaube ich, dann wäre diese dunkle Welt ein viel besserer Ort für den von Gott dahingezimmerten Rest, ganz ehrlich.“ Das könnten Steve-Os Worte sein. Steve-O glaubt ganz sicher weder an die eigene Überlegenheit noch an die scheinbare Überlegenheit des Menschen, er nimmt sich selbst nicht ernst. Die Amerikaner*innen, so primitiv man sie als Europäer*in finden mag, wissen durch die Erhebung des Slapsticks und des Stunts zur Kunstform und durch die Zelebrierung von Personen wie Evel Knievel, dem Undertaker oder Formaten wie Failarmy eines besser als wir: dass wir früher oder später abkacken werden. Amerikaner*innen sind nicht eitel.

Steve-O ist nicht eitel. Er wirft den Zuschauer*innen Hochmut vor, indem er selbst ständig lacht, mit einem kehligen Laut, der nicht nur von Zigaretten, sondern vermutlich auch vom Konsum unzähliger Ampullen Distickstoffmonoxid herrührt, wie man es in dem Dokumentarfilm von Steve-O Demise and Rise (Regie: Dimitry Elyashkevich, 2009) sehen kann. Also ist Steve-O auch ein Philosoph, weil: „Der Mensch, der stürzt, lacht niemals über seinen eigenen Sturz, er wäre denn ein Philosoph, einer der sich durch Gewöhnung die Fähigkeit erworben hätte, sich alsbald zu verdoppeln und den Phänomenen seines Selbst als interesseloser Betrachter beizuwohnen.“ Laut Baudelaire ein seltener Fall und trotzdem ist das Konzept der Gruppe Jackass genau dieses: über sich selbst lachen, sich verdoppeln, sich selbst stürzen sehen. Jeder von ihnen, von Bam Margera über Johnny Knoxville bis Ryan Dunn, weiß, dass der Mensch eine Fehlkonstruktion ist, und eben nicht überlegen. Niemand von diesen Menschen gibt vor, jemand anderes zu sein! Sie sind sich der Ironie ihrer Bewegungen bewusst, sie sind sich der Ironie ihrer Existenz bewusst! 

Lachen über das Versagen 

Ich lache über Slapstick und den Sturz und den fehlgeschlagenen Stunt mehr als über alles andere. Ich lache über und mit Steve-O, ich bin nicht primitiv, ich bin nicht naiv, ich lache über Menschen, die sich Schmerzen zufügen, Menschen, die ich nicht kenne. Und durch Steve-O habe ich gelernt, über mich selbst zu lachen, über das Versagen. Ich habe gelernt, den Fehler zu zelebrieren.

Als ich Steve-O am Flughafen von Marrakesch sah, als ich massiert wurde und er sich entspannte und ich mich entspannte, merkte ich, dass sein und mein Lachen, und die Verbindung aus seinem und meinem Lachen, nur die fortwährende Explosion unseres Zornes und unserer Qual darüber ist, dass der Mensch eben nicht irgendwem oder irgendetwas überlegen, sondern allem unterlegen ist. Er ist so schrecklich eitel! Und wenn ich daran denke, dann schaue ich, wie Steve-O auf einem mit Scheiße gefüllten Dixie-Klo sitzend durch die Luft geschossen wird. 

Wir lernen, wie Baudelaire sagt, das Lachen über den Fehler in der Schule Satans. Und Steve-O war in dieser Schule mein Lieblingslehrer; bis heute frage ich mich, warum der Fehler nicht immer eine solche Erhabenheit erlangt wie beim Stunt.Und Satans Gehilfe hat mich in dieser Schule noch eins gelehrt: Derjenige, der den Fehler macht, muss sich entschuldigen, und derjenige, der den Schaden davonträgt, muss sich auch entschuldigen.


Logo Das Wetter © Das Wetter Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Das Wetter – Magazin für Text und Musik beauftragt und erstellt.

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