Top Ten
Irrtümer, Inspiration und unsterbliche Literatur
Fehler liefern häufig die Inspiration für Geschichten, die sich für immer in unser Gedächtnis einbrennen. Für dieses Listicle hat sich Nirmala Govindarajan in ihre Lieblingsbücher zum Thema Fehler vertieft.
Als Leserin fühle ich mich magisch angezogen von bewegenden Geschichten, die auf politischen, persönlichen und historischen Fauxpas beruhen und sich im Spannungsfeld zwischen Prosa und Lyrik zu unvergesslichen literarischen Werken entwickeln.
Großartige Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass eine einzigartige Geschichte mit sprachlichem Feingefühl erzählt wird.
Für die Kunst des Erzählens ist die Sprache ebenso bedeutsam wie die Geschichte selbst. Es stimmt, dass jeder Mensch eine Geschichte zu erzählen hat. Und es stimmt auch, dass nicht jedes veröffentlichte Werk hohen literarischen Ansprüchen genügen kann. Glücklicherweise gibt es mehrere Perlen der Literatur, die auf Nachlässigkeiten in Politik, Geschichte oder Geschlechterfragen und auf Verzerrungen der Normalität beruhen. Bei der Lektüre literarischer Werke, die von den Wechselfällen des Lebens erzählen, bin ich auf folgende Bücher gestoßen, die nicht nur von einer großen literarischen Begabung ihrer Verfasser*innen zeugen. Sie wurden darüber hinaus von Menschen geschrieben, denen Fehler widerfahren sind und die daraus eine Geschichte gemacht haben.
Hier kommt meine Top 10 der literarischen Perlen zum Thema Fehler:
10. Kora
I am Tibetan
But I am not from Tibet
Never been there
Yet I dream
Of dying there
(Ich bin Tibeter,
Aber ich komme nicht aus Tibet
Bin nie dort gewesen
Doch ich träume davon,
Dort zu sterben.)
In seinem Gedicht „My Tibetanness“ (Mein Tibeter-Sein) denkt Tenzin Tsundue über den Status tibetanischer Flüchtlinge in Indien oder im Grunde überall auf der Welt nach. Kora, eine Sammlung von Gedichten und Essays, enthält emotionsgeladene und doch einfach erzählte Geschichten, mit denen er die Welt auf die komplexe Situation der tibetanischen Flüchtlinge aufmerksam machen will.
9. The Adivasi Will Not Dance
No one minds what we eat here… And we don’t mind what others eat…
(Es interessiert niemanden, was wir hier essen… Und uns interessiert auch nicht, was andere essen…)
„They Eat Meat“ ist die erste Geschichte einer Sammlung mit zehn Erzählungen, die während der Unruhen in Gujarat spielen und von der Diskriminierung eines Adivasi (Angehöriger eines indigenen Volkes) in Indien berichten. In seiner preisgekrönten Sammlung The Adivasi Will Not Dance lässt der Autor Hansda Sowvendra Shekhar aus der Binnensicht und mit einfachen Worten sprachgewaltige Bilder entstehen.
8. Amma
Apparently, I weighed three and a half kilos at birth and remained chubby until I was four or five. “By the time I carried you to and back from a place, my hips would break,” Amma often complained, though her tone would give away her pride.
(Offenbar wog ich bei meiner Geburt dreieinhalb Kilo und war bis zum Alter von vier oder fünf Jahren ein pummeliges Kerlchen. „Wann immer ich dich herumtrug, bin ich fast zusammengebrochen“, beschwerte sich Amma immer wieder, wenngleich ihr Tonfall ihren Stolz verriet.)
Amma ist eine in tamilischer Sprache geschriebene und ins Englische übersetzte Sammlung mit 22 nicht-fiktionalen Erzählungen, in denen Perumal Murugan vom Leben seiner Mutter berichtet. Meine persönliche Lieblingsgeschichte in dieser Sammlung ist „An Invitation from the Moon“ (Eine Einladung vom Mond), in der Murugans Mutter, ein Kind auf dem Rücken und das andere an der Hand, ihren betrunkenen Ehemann einschließt und im Mondlicht zum Unkrautjäten aufs Feld spaziert. In Amma wird einer unerschrockenen Frau vom Lande ein Denkmal gesetzt.
7. 10 Minutes 38 Seconds in This Strange World (Unerhörte Stimmen)
In the final seconds before her brain surrendered, Tequila Leila recalled the taste of a single malt whiskey.
(In den letzten Sekunden, bevor ihr Gehirn komplett aufgab, beschwor es die Erinnerung an Single Malt Whiskey herauf. [Aus dem Englischen von Michaela Grabinger])
Über Prostituierte wurden zwar schon viele Geschichten erzählt, doch Elif Shafak nähert sich dem Thema auf stilistisch reizvolle Weise. In Istanbul lässt ihre Protagonistin in den 10 Minuten und 38 Sekunden, die ihr vor ihrem Übergang ins Jenseits noch bleiben, ihr gesamtes Leben Revue passieren.
Der Roman stand auf der Shortlist für den Booker Prize 2020 und nimmt die Leser*innen mit auf eine Reise durch die Ansichten, Klänge und Gerüche des Lebens seiner Protagonistin Tequila Leila.
6. Gulabi Talkies
It was a town with only one street running through it, like a hair parting…
(Eine einzige Straße zog sich wie ein Haarscheitel durch diese Stadt…)
In der Kurzgeschichte Gulabi Talkie dreht sich in einer kleinen Stadt in Karnataka alles um die Eröffnung eines Theaters und die damit einhergehende Emanzipation der Frauen des Ortes. Die ursprünglich von Vydehi auf Kannada verfasste Sammlung von zwanzig Kurzgeschichten liefert ein Spiegelbild des Alltags indischer Kleinstadtbewohner*innen. Mit ihrer poetischen Prosa erzählt die Autorin von der Widerstandskraft der Menschen im ländlichen Südindien im Angesicht von Leid und Armut.
5. Em and the Big Hoom
I lost my faith, as an hourglass loses sand…
(Ich verlor mein Vertrauen, wie eine Sanduhr den Sand…)
Psychische Erkrankungen gehören zur Realität von Gesellschaften wie der indischen, in der das Wort „Psychiater“ für viele ein Tabu ist. Zu Beginn der Geschichte lernen die Leser*innen in der Psychiatrie des JJ Hospital in Bombay zunächst Imelda und ihre Familie kennen. Ihren Sohn, der ihrer Erzählung lauscht, und ihren Ehemann, den sie Engelsohr nennt, weil seine Ohren ihrer Meinung nach ganz besonders süß sind.
Jerry Pinto durchquert in seinem preisgekrönten Roman Em and the Big Hoom im Stil eines Bildungsromans die zutiefst persönliche Geschichte seiner eigenen Jugend.
4. Time Stops at Shamli
Scattered words of condolence passed back and forth like dragonflies in the wind…
(Worte der Anteilnahme schwirrten wie Libellen durch die Luft…)
Am Grab des eigenen Vaters sinniert ein junger Mann über die Möglichkeiten, das Grab zu verlassen – über eine Wurzel, eine Blume und schließlich einen Samen, der von einem Vogel davongetragen wird. Time Stops at Shamli beginnt mit „dem Begräbnis“ und enthält zwanzig weitere Geschichten aus Kleinstädten in der Himalaya-Region, die der meisterhafte Erzähler Ruskin Bond so einfach wie genial in Worte zu fassen und mit der Magie des Alltags zu erfüllen vermag. Das wahre Indien findet man nach Meinung von Bond in den kleinen Städten.
3. The Tin Drum
Als Mama starb, verblassten die roten Flammen auf der Einfassung meiner Trommel etwas; der weiße Lack jedoch wurde weißer und so grell, dass selbst Oskar manchmal geblendet sein Auge schließen musste.
Der kleinwüchsige Protagonist Oskar Matzerath erzählt seine Geschichte in einer Irrenanstalt. Matzerath entführt die Leser*innen mit Hilfe von Elementen des magischen Realismus auf eine lebhafte Reise, die von den Anfängen bis zum Ende Nazi-Deutschlands reicht. Der historische Bildungsroman Die Blechtrommel bot die perfekte Vorlage für seine visuelle Umsetzung in einer preisgekrönten Verfilmung.
2. Chasing the Monsoon
Far away, I heard a noise like a deep ripping growl of thunder. After only a few heartbeats of lapsed time, I identified it, with sudden delight, as the roar of a distant tiger. At peace, I finally fell asleep… I was awakened at dawn by a screech of peacocks.
The light was a soft dusty grey.
(In der Ferne vernahm ich ein Geräusch wie ein tiefes Donnergrollen. Nur ein kurzer Augenblick, und mir wurde voller Entzückung klar, dass es sich tatsächlich um das entfernte Brüllen eines Tigers handelte. Beruhigt fand ich endlich in den Schlaf… Im Morgengrauen weckte mich das Kreischen von Pfauen.
Alles war in ein weiches und staubiges graues Licht gehüllt.)
Als der Autor Alexander Frater wegen Arnold Chiari, einer seltenen Fehlbildung der hinteren Schädelgrube, in einem Krankenhaus behandelt wird, lernt er dort seinen Mitpatienten, Herrn Baptista, kennen und erfährt, dass am 1. Juni der Monsun nach Kerala kommen wird. Frater teilt seinem Arzt mit, dass er nach Indien reisen will. Er reist kreuz und quer durch das Land auf der Jagd nach dem Monsun und erhält Einblick in das politische Leben im Zentrum des Landes und in den Bundesstaaten. In einer atemberaubenden Prosa verknüpft der Autor in diesem autobiografischen Reisebericht politische Ereignisse in den Nachbarländern, Landschaften, Aberglauben, Menschen und unvorhersehbare Regenfälle miteinander.
1. Mental Fight
Is humanity exhausted?
Individuals are, nations are,
Some civilisations are becoming so;
But humanity isn’t …
(Ist die Menschheit erschöpft?
Die Menschen sind es, und die Nationen,
Einige Zivilisationen befinden sich auf dem bestem Wege,
Doch die Menschheit ist es nicht…)
Am Schnittpunkt zwischen Gestern und Heute werden Menschheit, Tiere, Bäume, Vögel und Bienen unentwegt durch Epidemien, drohende Kriegshandlungen und Menschen gefährdet. Das Heldengedicht Mental Fight von Ben Okri gewinnt Tag für Tag immer mehr an Bedeutung.