Der „Coconut Effect“
QR-Codes von Kaffeefiltern führen nirgendwo hin

Detail eines Stapels tragbarer Leitplanken Foto: © Public Domain

Zum szenischen Einstieg spricht also mein guter Freund Nils Bleibtreu über den VLC-Player. Aus einem Fenster der Düsseldorfer Kunstakademie auf die Tonhalle am Rhein blickend, sagte Nils, er wolle das, was dem VLC-Player als Logo diene, malen, ein sogenanntes Lübecker Hütchen. Als Sujet, sagte Nils, eigne es sich extrem: geometrische Abstraktion und innere Bedeutung. 

Pascal Richmann

Ohne zu ahnen, dass mein Freund selbstverständlich und intuitiv eine Haltung aus der Zukunft hatte aufblitzen lassen, nickte ich. Heute weiß ich: Er war das kommende Kleinkind am Touchscreen, weil ihn die Grenzziehung zwischen virtueller und haptischer Welt nicht scherte. Eine Weile betrachteten wir noch Wilhelm Kreis’ wundersame Atlantis-Architektur und sprachen darüber, dass die Sparkasse mit einem spiegelverkehrten, auf dem Kopf stehenden Fragezeichen für sich wirbt, dann verließen wir das Atelier zur Altstadt hin.

Fang den Hut

Memories of Heidelberg - Gemälde von Nils Bleibtreu Memories of Heidelberg - Gemälde von Nils Bleibtreu | © Nils Bleibtreu Auf meinem Desktop liegen: ein Kompass, ein Briefumschlag, ein Telefonhörer aus den Achtzigerjahren. Das Logo des VLC-Players aber ist autark, er zitiert nichts, und ich glaube, nur deshalb konnte es Nils damals erreichen. Es sampelt keine anachronistische Technik – und wird selbst sampelbar. Nicht etwas Vergangenes programmiert das Interface des Wirklichen – linear und vermeintlich folgerichtig –, sondern das Zufällige wirkt darauf ein: Mutation und Manierismus. Wäre der VLC-Player nicht gewesen, wir hätten uns nie für das Lübecker Hütchen begeistert, eine Obsession, die bald zu einer Sammlung unterschiedlichster Absturzsicherungen führte. Einmal trugen wir besonders barocke über die Bolkerstraße, da gab sich eine Horde Betrunkener als Betriebsausflug der Polizeigewerkschaft zu erkennen. Von knüppelschwingenden Bullenschweinen verfolgt, stürmten Nils und ich in die Neanderkirche, versteckten die Bauzäune in der Sakristei und spielten mit dem freundlichen Pfarrer so lang Fang den Hut, bis sich die Lage beruhigt hatte. In den folgenden Wochen lernten wir einige Mitglieder des FUSS e. V. kennen, autohassende Radikale, die sich konspirativ im Keller des Ratinger Hofs trafen, von wo aus sie für die Rechte der Fußgängerin und sichere Gehwege stritten. Die sich rasant im Stadtbild ausbreitenden Absturzsicherungen waren das Produkt ihrer Arbeit.  Nils Bleibtreu - Unterschiedliche Absturzsicherungen im Atelier Nils Bleibtreu - Unterschiedliche Absturzsicherungen im Atelier | © Nils Bleibtreu

Das Pferd in der Wildnis ist geräuschlos wie ein Laserstrahl im Weltall

Benannt nach jenen halben Kokosnüssen, die in Filmstudios aneinandergeschlagen werden, um galoppierende Pferde nachzuahmen – obwohl diese Akustik ja auf Sand, Wiesen und dem Steppengras des Mittleren Westen keinem realistischen Klang entspricht –, bezeichnet der Coconut Effect den übermäßigen Einfluss des Fiktiven auf eine dargestellte Wirklichkeit. Das Pferd in der Wildnis ist geräuschlos wie ein Laserstrahl im Weltall. Sobald aber Han Solos Blaster oder Kevin Costners Maultier bei Betätigung stumm blieben, wären wir – die Zuschauer – verwirrt: Gewohnheit und Wahrheit, zwei sich kreuzende Highways ohne Ampelanlage. Entwickler von Elektroautos beschäftigt ein ähnliches Problem. Die mucksmäuschenstillen Motoren lassen die Autos in ihrer Gesamtheit so ausgedacht erscheinen, dass eine Wirklichkeit dargestellt werden muss, E-Sounds nach EU-Richtlinien entstehen. Erst durch diese Geräusche beginnen ihre Karosserien zu existieren. Was schön ist: etwas Neues komponieren, vielleicht für Vorgänge, die es vorher gar nicht gab, wie Brian Eno die Hochfahr-Fanfare für Windows 95. Simulieren bedeutet ja eben nicht zwangsläufig, dass etwas Künstliches nicht auch natürlich werden kann, oder dass Sentimentalität all jenes überragt, worauf sie sich früher einmal bezog, wie Mount Whitney den Mulhacén. Die United Nations Economic Commission for Europe jedenfalls empfiehlt, sich vom Ottomotor zu distanzieren, die deutsche Wirtschaft braucht aber wohl noch ein bisschen; Volkswagen – nur so als Beispiel – entblödet sich nicht, ein letztes Mal das Unterdevon zu beschwören: „Beim e-up!2 und e-Golf3 haben wir uns an den Verbrennungsmotoren orientiert“.  Volkswagen Logo History Volkswagen Logo History | Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0

Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken

Es ist ja fast schon herzzerreißend, wenn man in Wolfsburg versucht, vom jüngsten Verbrechen der Konzerngeschichte abzulenken, indem ein redesigntes Logo an das größte erinnert: 2020, Overtime. Die Halbwertszeit einer Mode orientiert sich hier an der Zahl noch lebender, ehemaliger Zwangsarbeiter des KZ-Außenlagers Laagberg. Ein Präsident hält eine Rede am Fuße Mount Rushmores. Das war heute, an einem Tag im Juli. Vor fünfhundert Jahren hielten die Künstler der Renaissance all jene antiken Werke für monochrom, an denen sie ihre eigenen orientierten. Sie zitierten etwas, dass es so nie gegeben hatte. Wer sich die Wiedergeburt des Diesels wünscht und dessen Abgaswerte fälscht, hofft ja auch nur darauf, dass „Clean Diesel“ als Ideal funktioniert. Ein Irrglaube muss in den Köpfen verankert werden, damit der Betrug nicht auf-fliegt. Wie oft muss ich den szenischen Einstieg lesen, um zu glauben, ich hätte mich schon damals für Atlantis interessiert? Und wieviel Gläschen Alt muss ich trinken, um zu vergessen, dass mir der Coconut Effect vor allem als Waffe wider die Gegenwart gilt?  
 
Viel wurde in letzter Zeit gesprochen über Ursula K. Le Guins Carrier Bag Theory of Fiction, darüber dass da zuerst ein Behältnis war, in dem etwas gesammelt und transportiert werden konnte, bevor die Werkzeuge – die nämlich, die es brauchte, um an das zu Sammelnde zu gelangen – bevor also die Forken, Messer und Klappspaten peu à peu dazukamen. Le Guin schreibt: „We’ve heard it, we’ve all heard all about all the sticks and spears and swords, the things to bash and poke and hit with, the long, hard things, but we have not heard about the thing to put things in, the container for the thing contained. That is a new story. That is news.“ Das ist ja auch möglich: etwas Neues erzählen, während die Kokosnüsse klappern, einen Container für all die Dinge öffnen, die es noch gar nicht gibt; so wie ich diesen Text für ein rundes Ende zum Lübecker Hütchen hin öffne und bei Wikipedia das Lemma des VLC -Players: „Eines Tages kamen Studenten eines der Netzwerk-Clubs der École Centrale Paris betrunken mit einem Verkehrssicherungskegel nach Hause. Später ging aus diesem Club das VideoLAN-Projekt hervor. Als man ein Logo für das Programm suchte, fiel die Wahl auf den Kegel, der zu diesem Zeitpunkt bereits zu einer beträchtlichen Kegelsammlung angewachsen war.“  
 
 
Logo Das Wetter © Das Wetter Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Das Wetter – Magazin für Text und Musik beauftragt und erstellt.

Das könnte euch auch gefallen

API-Error