Mär. 2023

Berlinale BloggerInnen 2023  "Viele Momente werden von der Berlinale 2023 im Gedächtnis bleiben."

Eindrücke von der 73. Berlinale ©Ahmed Shawky

Die 73. Berlinale fand mit der Preiskrönung am 26. Februar ihren Abschluss. Berlinale Blogger Ahmed Shawky lässt das Filmfestival noch einmal Revue passieren und teilt mit uns seine Erlebnisse und ganz persönlichen Eindrücke und Gedanken. 

Als die Preisträge der 73. Berlinale bekannt gegeben wurden, war ich bereits auf dem Rückflug nach Kairo. Der französische Film „In the Adamant“ des renommierten Regisseurs Nicolas Philibert bekam den Goldenen Bären verliehen. Damit entschied sich die Jury unter dem Vorsitz der amerikanischen Schauspielerin Kristen Stewart für den einzigen Dokumentarfilm unter 19 Filmen im internationalen Wettbewerb.

Diese Wahl kann man als mutig bezeichnen und es zeigt die Bewunderung, die die Mitglieder der Jury einem Film entgegenbringen, in dem der Regisseur in die Welt einer auf der Seine schwimmenden Pariser Tagesklinik vordringt. Tagtäglich kommen Patienten mit unterschiedlichsten mentalen Erkrankungen dort hin und verbringen ihren Tag mit verschiedenen sozialen und künstlerischen Aktivitäten, die sie bei einem ausgeglichenen Tagesablauf unterstützen. Philibert gibt den Patienten der Tagesklinik Raum, sich frei auszudrücken, was mehr einem langen Monolog als einem Dialog zwischen Regisseur und Protagonist gleichkommt. Der französische Film „In the Adamant“ des renommierten Regisseurs Nicolas Philibert bekam den Goldenen Bären verliehen. Der französische Film „In the Adamant“ des renommierten Regisseurs Nicolas Philibert bekam den Goldenen Bären verliehen. | ©Richard Hübner/Berlinale 2023 ​​​​​​​ Die Präsentation von „In the Adamant“ wurde von internationaler Kritik begleitet. Unter den Festivalbesuchern wurde über das Niveau des Films diskutiert, stets verbunden mit Wertschätzung für den erfahrenen Regisseur. Man kann aber nicht sagen, dass einer von ihnen erwartet hätte, dass er am Ende der mit dem Goldenen Bären gekrönt würde. Vielleicht lag das an anderen Filmen, von denen einige - darunter auch ich - der Meinung waren, dass sie besser und künstlerisch wertvoller waren, oder daran, dass selten ein Dokumentarfilm den Hauptpreis in einem hauptsächlich aus Spielfilmen bestehenden Wettbewerb gewinnt. Dabei geschah dies in den letzten zehn Jahren bereits zwei Mal. So gewann 2016 „Fuocoammare“ des Italieners Gianfranco Rosi und 2018 die Rumänin Adina Pintilie mit „Touch Me Not“, wobei letzterer Film stilistisch deutlich freier war und darin die Übergänge von Spiel- und Dokumentarfilm verschwammen.

Eine verspätete Ehrung

Selbst für den Regisseur kam die Auszeichnung überraschend. Bei der Entgegennahme des Goldenen Bären fragte er die Jury im Scherz: „Sind Sie verrückt geworden?“ Damit spielte er auf das unerwartete Wagnis an, seinen Film mit dem renommierten Preis auszuzeichnen. Es ist die größte Auszeichnung, die der französische Regisseur in seinem ereignisreichen Leben erhalten hat, bedeutender noch als die Ehrung mit dem französischen César für den besten Schnitt und als seine Nominierung für die britischen BAFTA für seinen berühmten Film „Sein und Haben“ im Jahr 2002.

Allerdings Philibert nicht der Einzige, der verspätet eine lang erwartete Auszeichnung erhielt und vielleicht ist die Geschichte des australischen Regisseurs Rolf de Heer noch denkwürdiger. Zwar verlieh die Jury von Kristen Stewart seinem Film „The Survival of Kindness“ keinen der acht Preise, dafür aber zeichnete die Jury der Fédération Internationale de la Presse Cinématographique“ (FIPRESCI) seinen Film mit ihrem einzigen Preis im offiziellen Wettbewerb aus.  De Heer erzählte bei der Preisverleihung, dass er vor vier Jahrzehnten bereits den FIPRESCI-Preis der Berlinale erhalten habe, allerdings zusammen mit dem berühmten amerikanischen Regisseur Robert Altmann. Dieser habe damals die gedruckte Auszeichnungsurkunde bekommen, während de Heer kein Exemplar davon erhalten habe. Nun sei er glücklich, endlich eine Urkunde der Kritikervereinigung zu besitzen.

Seltsamerweise ergab meine Suche im Festivalarchiv im Internet, dass Altmann den FIPRESCI-Preis tatsächlich 1985 für seinen Film „Secret Honour“ erhielt, allerdings gemeinsam mit dem brasilianischen Dokumentarfilm „Nach 20 Jahren“ von Eduardo Coutinho, der keinerlei Bezug zu De Heer hat. Offenbar hat das Gedächtnis den renommierten Regisseur hier getrogen und er hat etwas verwechselt. Aber seine Anekdote gab dem Moment der Preisverleihung eine unvergesslich komische Note.

Ein Festival der Post-Corona-Zeit

Der Abend der Preisverleihung der FIPRESCI, deren Kritiker auch drei weitere Preise für den besten Film in den Sektionen Encounters, Panorama und Forum vergeben, war Gelegenheit zum Treffen mit zahlreichen Kritikern und Journalisten aus aller Welt. Er entwickelte sich zur offenen Diskussion über das Festivalerlebnis nach dem Ende der Pandemie und darüber, wie jeder einzelne mit dem neuen elektronischen Ticketsystem sowie den veränderten Örtlichkeiten der Filmvorführungen durch die Schließung des CineStar zurechtkam. Es entspann sich auch eine Diskussion über die Verteilung der parallel gezeigten Filme auf verschiedene Kinos in der Stadt, anstatt wie früher alle Filme im Umkreis des Potsdamer Platzes zu konzentrieren.

Das Transportproblem war der größte Kritikpunkt, insbesondere für diejenigen, die z. B. die Panorama-Sektion verfolgen wollten. So erzählte mir ein Kritiker aus der Jury der Sektion, er habe einen Tag des Festivals damit verbracht, zwischen Metro und Bus hin- und her zu rennen, um drei aufeinanderfolgende Filme zu sehen, die alle in einem anderen, entfernt voneinander gelegenen Kino gezeigt wurden. Für mich war es zum Glück so, dass sich meine Tätigkeit auf die Filme des internationalen Wettbewerbs konzentrierte. Ich musste nur an vier Tagen das Festivalzentrum verlassen, um Arbeiten zu sehen, die ich aus verschiedenen Gründen sehen wollte.

Der Andrang war so groß, dass die Tickets für einige Vorstellungen innerhalb von weniger als fünf Minuten nach der Freischaltung vergeben waren.

Ahmed Shawky


Die Rückmeldungen zum elektronischen Ticketsystem waren überwiegend positiv. Ein Kollege sprach von „deutscher Qualität“ bei der technischen Umsetzung, durch die es den allmorgendlichen Andrang nach der Freischaltung der Tickets bewältigen konnte. Der Andrang war so groß, dass die Tickets für einige Vorstellungen innerhalb von weniger als fünf Minuten nach der Freischaltung vergeben waren. Dabei traten keine technischen Probleme auf, anders als beim vergangenen Festival von Cannes im Sommer, wo es während der ersten Festivaltage hunderte von Beschwerden gab. Das ist umso beachtlicher, das Festival von Cannes nur für die Film- und Medienbranche zugänglich war, während die Berlinale dem allgemeinen Publikum offensteht, was einen größeren Andrang bedeutet.

Für mich persönlich war die frühzeitige Reservierung eines Tickets und damit einer Platzgarantie, selbst wenn man nur wenige Minuten vor Beginn eintraf, erheblich besser als das alte System, wo man für einen sicheren Platz frühzeitig vor Ort sein musste. 

Die Eröffnungsfeier

Obwohl ich seit dem Jahr 2014 regelmäßig auf der Berlinale war, erhielt ich dieses Jahr zum ersten Mal eine Einladung zur Eröffnungsfeier, bei der sich sehr gut beobachten ließ, wie eine Eröffnung im Kleinen ein Abbild der wichtigsten Charakteristika des Festivals insgesamt sein kann.

Die Berlinale schreibt den Eingeladenen für die Eröffnungsfeier keine strikte Kleiderordnung vor, wie es bei den Festspielen von Cannes oder andere, wie dem Kino-Festival von Kairo der Fall ist. Es gibt keinen Zwang zu formeller Kleidung und in der Einladung heißt es, der Cocktail-Dresscode sei ausreichend. Tatsächlich aber haben die Sicherheitsleute niemandem die Teilnahme aufgrund seiner Kleidung verwehrt, einige kamen sogar in Sportkleidung.
Berlinale Blogger Ahmed Shawky mit Regisseur Christian Petzold. Berlinale Blogger Ahmed Shawky (links) mit Regisseur Christian Petzold. | ©Ahmed Shawky
Ebenso wenig gibt es strikte Regeln für das Flanieren über den roten Teppich vor dem Berlinale-Palast. Ich zeigte meine Einladung vor und lief über den roten Teppich zum Eingang, während die Stars durch das gleiche Portal kamen und dort für die offiziellen Fotos posierten. Ich bat eine Korrespondentin, für mich ein Erinnerungsfoto zu machen und machte ein Selfie, ohne dass mich jemand anschrie, das sei verboten oder ich müsse gehen, wie das in Cannes tagtäglich passiert. Das Wichtigste aber war: Alle kamen durch das gleiche Eingangsportal und alle wurden auf der gleichen Fläche im Festival-Palast vor und nach der Feier bewirtet, so, als sei das eine ausdrückliche Ablehnung der Hierarchien, wie sie andere Festivals vorgeben, wo die Eingeladenen ein und derselben Feier in Gruppen unterteilt werden.

Die Feier selbst war ebenfalls typisch für die Berlinale: eine Mischung aus Kino und Politik. Denn auf der Berlinale kommt das eine nicht ohne das andere aus und das Festival verkündet bei jeder Gelegenheit sein Engagement bei der Unterstützung von aus seiner Sicht gerechten Anliegen aus aller Welt. Auf der 73. Berlinale war der Politikanteil sogar deutlich größer als der des Kinos: Reden zum Ukraine-Krieg und eine Video-Botschaft des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, Unterstützung der Protestbewegung im Iran und Solidarität mit inhaftierten Künstlern sowie bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Hervorhebung der Berlinale als engagierte politische Plattform par excellence.

Die Schauspielpreise

Das Engagement der Berlinale beschränkt sich nicht auf die Politik sondern erstreckt sich auch auf gesellschaftliche Themen und das Empowerment von Gruppen, die lange Zeit marginalisiert wurden. Das wird auf paradoxe Weise bei der Auswahl der Schauspielpreise deutlich. Das Festival hatte die Geschlechtertrennung bei diesen Preise aufgehoben. Es gab also nicht mehr einen Preis für den besten Schauspieler oder die beste Schauspielerin, sondern einen Preis für die beste schauspielerische Leistung in der Hauptrolle und einen weiteren für die Nebenrolle, ohne Genderbezug. Sofia Otero in „20.000 especies de abejas“. Regie: Estibaliz Urresola Solaguren Sofia Otero in „20.000 especies de abejas“. Regie: Estibaliz Urresola Solaguren | Foto (Detail): © Gariza Films, Inicia Films ​​​​​​​ Die Jury von Kristen Stewart verlieh die beiden Preise an Rollen mit Bezug zur Transsexualität. So erhielt die spanische Nachwuchsschauspielerin Sofia Otero (8 Jahre) den silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung im Film „20,000 Species of Bees“ in der Rolle des „Aitor“, eines Jungen, der einen entscheidenden Wendepunkt erlebt als sich entscheidet, dass er als Mädchen leben und behandelt werden möchte. Die Regisseurin, Estibaliz Urresola Solaguren, sagte, die Auswahl eines Mädchens für die Rolle sei plausibler gewesen als die eines Jungen, was durch die großartige Leistung Sofias bewiesen ist.

Der Preis für die beste schauspielerische Leistung in der Nebenrolle ging an die deutsche Schauspielerin Thea Ehre, die tatsächlich selbst transsexuell lebt und im Film „Bis ans Ende der Nacht“ von Christoph Hochhäusler die Rolle der Leni spielt, die gezwungen war, ihre Strafe in einem Männergefängnis abzusitzen und dann unter der Auflage entlassen wurde, als Polizeispitzel in einer Bande aus dem Drogenmilieu tätig zu werden. Der Film mag nicht zu den besten des Wettbewerbs gehören, aber die Leistung von Ehre verdiente die Auszeichnung in der Tat. Insgesamt waren die Schauspielpreise die künstlerisch besten Entscheidungen der Jury, ganz abgesehen von ihrem Wert für Gesellschaft und die Geschlechtsthematik.

Viele Momente werden von der Berlinale 2023 im Gedächtnis bleiben, genauso das Gefühl der allgemeinen Freude über die Rückkehr zur Normalität und zu den normalen Regeln des renommierten Festivals, das eigentlich ein Publikumsfestival ist und an dem das schönste die bis zum letzten Platz besetzten  Kinosäle sind, mit einem Publikum, das danach durstet Geschichten aus aller Welt zu entdecken und viele schöne und unvergessliche Filme zu sehen, wie wir sie auf dieser Berlinale zu sehen bekamen.

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