„Al Murhaqoon“ ist der erste jemenitische Langfilm der je auf der Berlinale gezeigt wurde. Ahmed Shawky sprach mit dessen Regisseur Amr Gamal über die Schwierigkeit, im Jemen einen Film zu drehen und über das sensible Thema einer Familie, die aufgrund der schwierigen ökonomischen Umstände eine Abtreibung versucht, was sie in Konflikt mit einer Gesellschaft bringt, in der dieses Thema tabuisiert und kriminalisiert wird.
Der Besuch der Berlinale für die Präsentation seines Films „Al Murhaqoon“ in der Panorama-Sektion, des ersten jemenitischen Langfilms auf dem Festival, ist für den Regisseur Amr Gamal ein eindrucksvolles Erlebnis. Ich traf ihn mehrfach auf eine Filmvorführung wartend in oder vor den Kinosälen an. Dort begann auch dieses Interview, während des Einlasses in den Wettbewerbsfilm „Manodrome“.Was war der Ausgangspunkt für das Projekt „Al Murhaqoon“?
Die Erzählung des Films begann im Oktober 2019, als die Geschichte einem guten Freund passierte und ich ihn darum bat, sie in meinem Film thematisieren zu dürfen. Zusammen mit meinem Kollegen Mazin Rafaat begann ich mit dem Schreiben des Drehbuchs. Wir trafen den Freund und seine Frau mehrmals und erarbeiteten zusammen die Filmtexte. Dann kam die Pandemie und wir nutzten die Gelegenheit zur Überarbeitung, so dass wir im August 2021 mit den Dreharbeiten beginnen konnten.
Der Regisseur Amr Gamal. | ©Adenium Productions Wir sprechen hier von Dreharbeiten im Jemen, einem Land ohne nennenswerte Filmindustrie und im Kriegszustand. Hat Sie das vor Herausforderungen gestellt?
Ich bin überzeugter Anhänger davon, einen Film in seiner natürlichen Umgebung zu drehen, weil ich an den Wert der Dokumentation glaube. In meinen Arbeiten für Theater, Fernsehen und bei meinem ersten Film "10 Days Before the Wedding“ war die Dokumentation des Ortes eines der ausdrücklichen Ziele. Der Jemen und insbesondere meine Heimatstadt Aden haben eine lange Theatertradition. Die Stadt war mit Kinos übersät, bevor die Bürgerkriege ausbrachen und die Herrschaft der islamischen Extremisten über die Stadt und damit die Zerstörung sämtlicher Kinos begann. Trotzdem haben wir im Jahr 2005 unsere Tätigkeit wieder aufgenommen und eine Theatergruppe gegründet. Damit entstand in der Stadt ein Publikum, das unsere Arbeit verfolgte, was mir und meiner Gruppe zu einem guten Ruf unter den Einwohnern und selbst bei den Machthabern verhalf. Daher erhielt ich für meinen ersten Film Hilfe und Finanzierung von Theaterunterstützern in Aden. Als ich „10 Days Before the Wedding“ produzierte, hatte niemand erwartet, dass der Film so erfolgreich sein würde, dass er in den Jahren 2018 und 2019 acht Monate lang im Jemen gezeigt werden sollte. All das hat mir dabei geholfen „Al Murhaqoon“ zu drehen.
Wie gelang die Zusammenstellung des Filmteams?
Die Filmproduktion für das Fernsehen war im Jemen nie unterbrochen worden. Daher gab es immer ausgebildete Teams, auf die ich mich stützen konnte. Und dann waren da natürlich auch die Mitglieder meiner Theatergruppe, die sich mir angeschlossen haben. Ich habe mir für wichtige Positionen wie Aufnahmeleitung oder Filmschnitt auch Unterstützung aus dem Ausland geholt, in der Hoffnung, dass sie bei der Ausbildung jemenitischer Kunstschaffender für zukünftige Filme helfen. Die Schauspieler selbst sind mehrheitlich keine Schauspieler oder sie haben nur sehr begrenzte Fernseherfahrung.
Welcher Schwierigkeiten gab es beim Drehen im Jemen?
Viele Schwierigkeiten, angefangen von der instabilen Sicherheitslage, aufgrund der wir ständig in Sorge vor einem Ereignis waren, durch das wir die Aufnahme hätten stoppen müssen. Das geschah dann auch, als ausbrechende Kämpfe uns zwangen, die Dreharbeiten für eine ganze Woche zu stoppen. Dazu kommen die stundenlangen Stromabschaltungen jeden Tag, weswegen man immer Generatoren verwenden und diese mit Kraftstoff versorgen muss. Dann gibt es natürlich die zahlreichen Gruppierungen, die um die Vorherrschaft kämpfen, was uns dazu zwang, mit allen Seiten gute Beziehungen aufrecht zu erhalten, um die Dreharbeiten abschließen zu können. Einige Orte unterstanden beispielsweise der einen Gruppierung, die benachbarten Orte wieder einer anderen. Wenn man keine guten Beziehungen mit beiden hatte, konnte man den Film nicht fertigstellen.
Wollten diese Gruppierungen den Inhalt des Films kennen, bevor sie den Dreharbeiten zustimmten?
Bisher konnte ich auf das Vertrauen bauen, das ich über viele Jahre zu ihnen aufgebaut habe. Daher hat mich niemand nach dem Inhalt des Films gefragt. Geholfen hat mir, dass es in meinen früheren Arbeiten vor allem um soziale Themen ging, selbst wenn darin auch umstrittene Dinge thematisiert wurden. Aber ich kann nicht garantieren, dass das mit dem expliziten Thema von „Al Murhaqoon“ so weiter gehen wird. Es kann sein, dass sie bei zukünftigen Vorhaben vor den Dreharbeiten den Inhalt einsehen wollen.
Der Film zeigt Verständnis für alle Persönlichkeiten, selbst für diejenigen, die den Wünschen der beiden Protagonisten nach Abtreibung entgegenstehen. War das im Drehbuch so angelegt?
Natürlich. Der Film beruht auf einer wahren Geschichte, in der ich sah, welche menschlichen Fragen und Zweifel die Realität aufwerfen kann: Halte ich an meiner religiösen Überzeugung und den Sitten und Gebräuchen fest oder beeinflusst mich die menschliche Schwäche eines nahestehenden Menschen oder einer Frau in einem Dilemma? Die Wahrheit ist, dass alle damit begannen, nach einer Lösung im islamischen Recht zu suchen, nach einer Fatwa, die die Abtreibung für sie legitimiert, selbst wenn sie selbst davon Abstand genommen hatten, ein früheres Kind abzutreiben.
Der Film soll die Frage aufwerfen: Wenn der Preis für die Aufrechterhaltung der Schwangerschaft darin besteht, dass das Kind und eine Familie im Elend leben würden, was ist dann die Lösung? Der Volksmund beruhigt die Leute: „Mit dem Kind wird auch sein tägliches Brot geboren“. Aber das ist nur tradiertes Gerede, das nichts mit der Realität zu tun hat. Meine Position dagegen kommt in der Szene zum Ausdruck, in der die Frau ihren Mann fragt: Was werden wir unseren Kindern später darüber sagen? Seine Antwort: Wir werden ihnen sagen, dass wir es für sie getan haben.
Regisseur Amr Gamal und Produzent Mohsen Alkhalifi in Berlin. | ©Amr Gamal Die meisten Szenen des Films wurden in einer einzigen langen Einstellung gedreht. Was war der Grund für diese Entscheidung? Und warum sind Sie davon bei einigen Szenen abgewichen?
Für mich ist der Ort heilig und ich habe eine pathologische Angst vor dem Verlust des visuellen Erbes der Stadt Aden. Für mich war es die seltene Gelegenheit, dieses Erbe in einem Kinofilm zu dokumentieren. Daher war jeder Ort von Anfang an für die Dreharbeiten eingeplant. Zum Beispiel die Bibliothek, die die Protagonisten besuchen: Das ist die älteste Bibliothek der arabischen Halbinsel. Wir haben geplant, dort zu drehen und die Stammbäume ihrer drei Gründer herauszustellen, ja wir haben eine Tafel mit ihren Namen angebracht, die eigentlich gar nicht dort war. Wir wollten die Existenz der Bibliothek aufzeichnen, während sie von der Schließung bedroht ist.
Annähernd 95% der Drehorte sind vom Verschwinden bedroht. Daher habe ich die One-Shot-Einstellung gewählt, um ein realistisches Bild des Ortes, der Menschen, ihrer Bewegungen in der Stadt und sogar innerhalb der Häuser einzufangen. Das Kino ist das Gedächtnis der Nation und wir sind ein Land ohne Gedächtnis. Daher habe ich mit dem Film meinen Teil dazu beigetragen. Vielleicht hängt die Entscheidung auch mit meiner Liebe zum Theater und der Form der Theaterszene zusammen. Aber natürlich habe ich, wo nötig, auch Schnitte eingesetzt, weil der Gesamtfilm wichtiger ist als der durchgehende Einsatz einer einzigen Aufnahme.
Wie kam „Al Murhaqoon“ zur Berlinale?
Während der Filmproduktion wurde das Vorhaben international bekannt und gewann Förderungen der Festivals in Karlovy Vary, Red Sea und in Malmö. Die Festspiele wollten den Film sehen, um ihn vielleicht zeigen zu können. Das geschah dann tatsächlich mit der Berlinale, die uns zur Teilnahme in der Panorama-Sektion einlud.
Was ist Ihr bisheriger Eindruck von den Festspielen?
Es ist ausgesprochen faszinierend. Es ist die Möglichkeit, Filme zu sehen, die man nicht jeden Tag zu sehen bekommt, inmitten eines großen Publikums, das das Kino verehrt. Das gibt einem das Gefühl, dass der kollektive Kinobesuch nicht aussterben wird. Das beruhigt mich ein wenig in meiner Sorge, dass alle dazu übergehen könnten, Filme nur noch über elektronische Plattformen zu schauen. Aber die Berline zeigt, dass das Kino nicht so leicht zu besiegen ist.
Februar 2023