Die COVID-19 Pandemie könnte sich für die Welt als größte Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg erweisen. Mit Sicherheit hat sie jedoch die drei Säulen der Nachhaltigkeit – Soziales, Ökologie und Wirtschaft – erschüttert und wird deshalb als Wendepunkt in die Geschichte des 21. Jahrhunderts eingehen. Wir wird sich die Pandemie auf lange Sicht auf unser Streben nach Nachhaltigkeit auswirken und macht sie eine Neudefinition der UN Nachhaltigkeitsziele erforderlich?
Im Angesicht der COVID-19 Pandemie meinen viele Regierungen vor der größten Katastrophe, die die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, zu stehen. Sicherlich hat sie die drei Säulen der Nachhaltigkeit – Soziales, Ökologie und Wirtschaft – tief erschüttert und wird deshalb wohl als Wendepunkt in die Geschichte des 21. Jahrhunderts eingehen. Die neue globale Dynamik und Wachstumshemmung werfen wichtige Fragen zu den Konsequenzen des neuen Coronavirus auf – auch für die 17 großen Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen.
Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation zufolge sind weltweit 81 Prozent der berufstätigen Bevölkerung von einer vollständigen oder partiellen Schließung ihrer Arbeitsplätze betroffen. Besonders hart hat es Tagelöhner, Selbstständige und Mitarbeiter in kleinen und mittelständischen Unternehmen getroffen. So verzögert sich auch das Erreichen von Ziel 1: „Keine Armut“. Deshalb sollte Ziel 8: „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“ die Notwendigkeit von Sozialschutzmaßnahmen in Zeiten von Krisen und Marktvolatilität betonen. Außerdem sollte dieses Ziel die Stärkung der Gesundheitssysteme berücksichtigen, denn eine starke Wirtschaft ist nur mit einer gesunden Bevölkerung möglich.
Seit den Millenniums-Entwicklungszielen 2000 hatten internationale Organisationen große Fortschritte in Richtung Ziel 2: „Kein Hunger“ gemacht. Die derzeitige Corona-Krise könnte jedoch die Produktion und Bereitstellung von Nahrungsmitteln behindern. Handelsbarrieren (zum Beispiel in Form von Ausfuhrverboten) sowie Verluste von Einkommen und Lebensgrundlage in der Bevölkerung werden das Problem Hunger überall in der Welt verschärfen. Hier zeigt sich, dass Investitionen in nachhaltige Systeme für die Nahrungsmittelproduktion besonders in benachteiligten Gemeinden dringend erforderlich sind: Der Schlüssel liegt im lokalen Anbau durch die zu Versorgenden selbst. So werden Arbeitsplätze vor Ort geschaffen und die Notwendigkeit, auf Transportmittel zurückzugreifen, verringert. Insgesamt wären die Gemeinden so weniger empfindlich gegenüber den Folgen von Weltwirtschaftskrisen.
Nachlässigkeit im Gesundheitswesen
Im engsten Zusammenhang mit der Pandemie steht wohl Ziel 3: „Gesundheit und Wohlergehen“. Die Corona-Krise hat bewiesen, dass das schwache Gesundheitssystem in einem Land im schlimmsten Fall auch Auswirkungen auf andere Länder und deren Gesundheitsversorgung haben kann. Lediglich 6,3 bis 10 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts werden für das Gesundheitswesen aufgewendet – ein Versäumnis, das sich nun an Regierungen im Kampf gegen COVID-19 zu rächen scheint.
Das Fehlen örtlicher Produktion von medizinischen Verbrauchsgütern sowie die Unterfinanzierung von Krankenhäuser und Personal haben zur Schwächung und Fragmentierung der Gesundheitssysteme geführt. Sie haben weder die menschlichen noch materiellen Kapazitäten, um allen Patienten zu helfen, geschweige denn eine Pandemie zu stemmen. Schon lange werden Mitarbeiter im Gesundheitswesen mit schlechten Gehältern, begrenzter Sozialversicherung und minderwertigen Fortbildungen abgefertigt, besonders in Ländern mit niedrigen oder mittleren Einkommen. Auch unter Ziel 3 ist nur eines von insgesamt 13 Teilzielen um die Bedingungen dieser wahren Soldaten im Kampf gegen den Virus besorgt. Vielleicht würde eine stärkere Repräsentation in den Nachhaltigkeitszielen zu höheren Investitionen in der Praxis führen.
Zum anderen kommt der Prävention eine wesentliche Rolle zu. Regelmäßiges Händewaschen ist eine der grundlegendsten Maßnahmen, um die Verbreitung eines Virus – und den Ausbruch einer Pandemie – zu stoppen. Ziel 6: „Ausreichend Wasser in bester Qualität” will der Tatsache, dass laut Weltgesundheitsorganisation 2,2 Millionen Menschen weltweit keinen regulären Zugang zu sicherem Trinkwasser und Sanitäranlagen haben, Abhilfe verschaffen. Wieder trifft dieser Missstand vor allem marginalisierte Gemeinden in abgelegenen Dörfern und Slums.
Neue Wege für die Bildung
Die aktuelle Lage hat die Welt zu einem radikalen Wandel in der Bildung und somit in den Wegen, Ziel 4: „Hochwertige Bildung“ zu erreichen, gedrängt. Während du diesen Artikel liest, finden tausende von Online-Kursen statt. Lehrer und Schüler mussten auf die große Vielfalt elektronischer Lernressourcen und Plattformen zurückgreifen, um in Kontakt zu bleiben, und Selbstlernen wurde ein wichtiger Faktor in der Bildung in weniger entwickelten Ländern. Während bereits existierende Ressourcen größere Aufmerksamkeit fanden, wurden auch viele neue geschaffen oder kostenlos zur Verfügung gestellt, wie die elektronischen Bibliotheken der Universitäten. Natürlich sparen wir uns, wenn wir alle von zuhause aus lernen, auch eine Menge Pendelei und reduzieren damit CO2-Emissionen. Und all das dank COVID-19! Hier drängt sich die Frage auf: Warum sollte Online-Bildung auf Krisenzeiten beschränkt sein?
Das Problem ist, dass der Internationalen Fernmeldeunion zufolge nur 53,6 Prozent der Menschen weltweit Zugang zum Internet haben, die Mehrheit davon in Ländern mit hohem oder mittlerem Einkommen. Mangelnde Kenntnisse im Umgang mit dem Internet unter Schülern und Lehrern und fehlende elektronische Infrastruktur und Integration von Informations- und Kommunikationstechnologien in den Lernprozess stellen die größten Herausforderungen dar. Viele Kinder verlieren deshalb zeitweise völlig den Zugang zu Bildung und laufen Gefahr, die Schule ganz abzubrechen und Opfer von Kinderarbeit und Kinderehen zu werden. Der Schulausfall trägt auch zur Nahrungsmittelunsicherheit bei, da Schulmahlzeiten, auf die Kinder aus ärmeren Verhältnissen angewiesen sind, nicht mehr zur Verfügung stehen.
Rückschläge für Frauen
Nicht einmal die Bemühungen um Ziel 5: „Geschlechtergleichheit” konnten sich dem Einfluss der Pandemie entziehen. Da die meisten Menschen sich an Ausgangssperren halten und die meiste Zeit daheim verbringen, nimmt häusliche Gewalt überall in der Welt zu. Die Lage ist umso dramatischer da gesetzliche Rettungswege und Hilfsorganisationen für Frauen gar nicht oder nur sehr beschränkt verfügbar sind. Frauen machen zudem insgesamt 70 Prozent des Gesundheitspersonals aus. Dadurch haben sie nicht nur ein größeres Infektionsrisiko; sie neigen auch zur Überforderung, besonders dann, wenn sie noch andere Familienmitglieder, die durch die Pandemie ihre Arbeit verloren haben, unterstützen müssen.
Ziel 10: „Weniger Ungleichheiten” steht in Bezug zu allen anderen Nachhaltigkeitszielen. Die Pandemie hat einen besonders interessanten Blickwinkel auf die Geringschätzung von Gastarbeitern in entwickelten Ländern eröffnet. Jedes Jahr reisen zum Beispiel tausende von Farmarbeiterinnen, meist aus Marokko, Rumänien und Bulgarien, zur Erntezeit nach Westeuropa, um dort etwas Geld für ihre Familien zu verdienen. Dieses Jahr blieb ihnen dies verwehrt, was nicht nur ihnen, sondern auch den europäischen Bauern geschadet hat. Diese standen dem Verlust ihrer Ernte völlig hilflos gegenüber, wie ein Farmer den Medien mitteilte: „Mal eine schlechte Ernste, das kann man überbrücken. Aber wenn 80 Prozent der Ernte reif ist und niemand da zum Pflücken, fühlt man sich machtlos“. Dies unterstreicht die Bedeutung von Saisonarbeitskräften aus anderen Ländern, deren Abwesenheit nun zur Lebensmittelunsicherheit beiträgt. Vielleicht erkennt Europa auf diese Weise die Wahrheit hinter der immigrationsfeindlichen Politik der rechten Parteien, die es gewählt hat.
Aufschwung für Innovation und Umweltschutz
Die Krise hat bislang eine nicht unbeträchtlich positive Wirkung auf Ziel 9: „Industrie, Innovation und Infrastruktur“. Die Bemühungen der Zentralbank Ägyptens, den Verkehr von Bargeld und damit einen wichtigen Weg der Virenübertragung einzuschränken, hat zu Innovationen und Entwicklungen der elektronischen Infrastruktur des Landes geführt. Die ägyptische Regierung hat E-Wallets für ihre Dienstleistungen eingeführt und die Gebühren für Banküberweisungen gestrichen, um den Verzicht auf Bargeld attraktiver zu machen. Neuerungen, die normalerweise Jahre brauchen, um in Ägypten Einzug zu finden, wurden innerhalb von Wochen angekündigt.
Die Ziele 11: „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ und 12: „Nachhaltige/r Konsum und Produktion“ ergänzen einander. Bei der Schaffung nachhaltiger Städte ist Transport ein wesentlicher Faktor. Da Arbeit und Veranstaltungen in den letzten 35 Tagen vorwiegend von zuhause aus stattfanden, konnten CO2 Emissionen deutlich gesenkt werden. Es hat sich gezeigt, dass die Welt, auch wenn sie weniger mobil ist, produktiv sein kann. Die Krise hat viele Menschen auch dazu bewegt, ihren Konsum kritisch zu hinterfragen.
Die Umwelt! Man hatte das Gefühl, Ziel 13: „Maßnahmen zum Klimaschutz“ etwas näher gerückt zu sein, als der Planet dieses Jahr einen Frühling mit frischer Luft und freien Lungen erlebte, wie schon lange nicht mehr. In China führte die Einstellung wirtschaftlicher Aktivitäten zu einer Senkung der Emissionen um 25 Prozent. Die Nutzung von Kohle in den sechs größten Kraftwerken fiel um 40 Prozent seit dem vierten Quartal 2019. Tausende Meilen weit weg, in Indien, war die Luftverschmutzung so gering, dass die Menschen zum ersten Mal nach Jahrzehnten wieder die Himalayas sehen konnten. In ägyptischen Städten lag nachts der Duft von Frühlingsblumen statt der üblichen Abgase in der Luft. Nur dreimal zuvor war es zu einem derart starken Rückgang der Karbonemissionen gekommen: während des Börsenkrachs 1929, im Zweiten Weltkrieg 1942 und infolge der Weltfinanzkrise 2008. Die Pandemie ist eine Mahnung historischen Ausmaßes an Wirtschaftssysteme in der Krise, die endlich einen Schlussstrich unter ihre destruktive Linie setzen müssen.
Ein Moment der Besinnung
UN Generalsekretär António Guterres sprach im Sinne von Ziel 16: „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“, als er im März mit den folgenden Worten zu einer globalen Waffenruhe aufrief: „Es ist an der Zeit, bewaffnete Konflikte zu beenden und sich gemeinsam auf den wahren Kampf unseres Lebens zu konzentrieren.“ Einige Kämpfer in Afghanistan, Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik, Kolumbien, Libyen, Myanmar, den Philippinen, Südsudan, Sudan, Syrien, Ukraine und Jemen folgten seinem Ruf. So hat die von Corona verursachte globale Pause einen weiteren Sieg errungen. Vielleicht entscheidet sich am Ende ja doch die eine oder andere Konfliktpartei, den Kampf nach der Pandemie gar nicht erst wieder aufzunehmen.
Ziel 17: „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“ ist für die Pandemie von großer Bedeutung. Es ist offensichtlich, dass die Welt sich zusammenraufen muss, um die derzeitige Krise zu überwinden und die Schwächsten zu schützen. Partnerschaften sollten dabei nicht nur auf die Staatsebene beschränkt bleiben, sondern auch wichtige Institutionen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Nahrungsmittel, Wasserzugang und soziale Gerechtigkeit einbeziehen. Wir alle sitzen im selben Boot. Wir haben keine andere Wahl als unsere derzeitige Definition von nachhaltiger Entwicklung noch einmal kritisch zu prüfen, sodass alle Menschen profitieren und niemand abgehängt wird.
Juli 2020