Etwas Bemerkenswertes hat in Beirut begonnen. Die jahrelange Misswirtschaft der Regierung und die daraus resultierende Müllkrise vor zwei Jahren hat die libanesische Jugend wachgerüttelt und dazu ermutigt, ihre politische Führung zur Rechenschaft zu ziehen und Forderungen zu stellen. Alles begann mit der Schließung der Naameh-Mülldeponie, deren Kapazitäten bis zum Äußersten ausgereizt waren.
Kapitel 1: Wachsende Müllberge
Juni 2015: Obwohl Politiker von der notwendigen Schließung der Naameh-Mülldeponie schon Jahre zuvor gewusst hatten, standen sie, als es dann so weit war, ohne Lösung da. Der Libanon hatte keinen langfristigen und nachhaltigen Abfallbewirtschaftungsplan für seine Hauptstadt. Nun, da Naameh geschlossen war und es auch sonst keinen Platz für den Abfall gab, stellte auch die Müllabfuhr ihre Tätigkeit ein.
Innerhalb von Stunden türmte sich der Müll in Beiruts Straßen.
Innerhalb von 24 Stunden waren Gehwege blockiert. Nach ein paar Tagen waren manche Straßen nicht mehr befahrbar. Hat die Regierung gehandelt? Danach ausgesehen hat es jedenfalls nicht. Da es keine absehbare Lösung gab, begann die Beiruter Stadtverwaltung den Abfall mit einem weißen Pulver zu bedecken: Kalziumkarbonat. Sie hoffte, so würde der Müll nicht verfaulen und zum Paradies für Ratten und anderes Ungeziefer werden.
Aber es kam viel schlimmer. Einwohner begannen, ihren Müll zu verbrennen. Der Gestank von in der Sonne vergammelndem Abfall überwältigte die Sinne. Die Menschen mussten Masken tragen. Ein Fenster zu öffnen hieß, den faulen Gestank des Mülls und Rauchs ins Haus einzuladen. In den sozialen Medien teilten die Leute Bilder und Videos von in Flammen stehenden Müllhaufen in ihren Nachbarschaften. Die Leute waren entrüstet. Ich erinnere mich an Unterhaltungen mit meiner Familie: Auch wenn das, was wir sahen, uns schockierte und verstörte, waren meine Eltern und Onkels sehr viel besorgter darüber, es könnte zu Protesten und den Rücktritt der Regierung kommen und damit zu politischer und gesellschaftlicher Instabilität. Diese Ängste sind ständiger Begleiter vieler Libanesen.
Ihre Ängste waren nur allzu verständlich. Meine Eltern hatten den 25-jährigen Bürgerkrieg miterlebt, in dem mehr als 150,000 Menschen ihr Leben verloren und mehr als eine Million Menschen vertrieben worden waren. Ich jedoch hoffte, dass die Müllkrise die Menschen dazu mobilisieren würde, sich für politischen und wirtschaftlichen Wandel einzusetzen.
Ich erinnere mich, wie ich eines Nachts an einem brennenden Müllberg vorbeifuhr. Ich parkte das Auto etwa 100 Meter weiter und stieg aus, um schnell ein Foto davon zu machen. Aber schon als ich nur die Tür öffnete, raubte mir der Gestank des brennenden Abfalls fast die Sinne.
KAPITEL 2: Die ersten Funken
Während die Regierung sich nicht dafür zu interessieren schien, dass wir im Dreck versanken, gingen die jungen Menschen auf die Straße. Zuerst gab es nur kleinere Märsche und Zusammenkünfte von ein paar dutzend Leuten mit Schildern und Megaphons. Sie riefen regierungsfeindliche Parolen und forderten Mitbürger auf den Balkonen dazu auf, sich ihnen anzuschließen. Und das taten sie dann auch.
Ob die paar Demonstranten am Ende zu einer Massenbewegung anwachsen würden oder nicht – eins war sicher: Hier ging es nicht länger nur um die Müllkrise. Die Leute hatten die Nase voll vom Missmanagement der Regierung, ihrer Korruption und Untätigkeit.
Schon bald fand eine größere Kundgebung am Martyrs’ Square im Beiruter Stadtzentrum statt. Es gab Musik und die Menschen machten lautstark ihrem Unmut Luft. In ihren Augen stand die Müllkrise in direktem Zusammenhang zur wirtschaftlichen Korruption im Land und der Intransparenz öffentlicher Ausgaben.
„Was ist, wenn das zu Instabilität und größeren Problemen führt?“
Zunächst bekamen die jungen Aktivisten nur wenig Aufmerksamkeit von den Medien, doch die Kundgebungen wurden immer größer. Ich sprach mit meinen Eltern, älteren Verwandten und Zuschauern. Sie alle hatten dieselben Bedenken: „Was ist, wenn das zu Instabilität und größeren Problemen führt?“ Es war offensichtlich, dass sie an den Bürgerkrieg dachten, in dem sich Christen und Muslime, Linke und Nationalisten bekämpft hatten. Die Müllkrise war jedoch in fast jeder Hinsicht anders. Die Berge rottenden Mülls schadeten nicht nur einer von Libanons 18 Glaubensgemeinschaften, sondern allen gleichermaßen. Den jungen Frauen und Männern, die den Bürgerkrieg nicht miterlebt hatten, reichte es. Sie konnten sich nicht länger zurücklehnen und die Situation hinnehmen, wie dies ihre Eltern weiterhin taten.
Ich hatte über die Jahre schon an vielen Protesten im Libanon teilgenommen, für und gegen verschiedenste Dinge: Für Säkularismus, die Einführung eines Gesetzes gegen häusliche Gewalt, LGBTQ Rechte, gegen die illegale Verlängerung parlamentarischer Amtszeiten, und vieles mehr. Aber dieses Mal war alles anders.
Erstmals nach sehr langer Zeit war sich das Land, das ansonsten religiös und politisch gespalten war, einer Sache einig. Hier ging es nicht um eine christliche oder muslimische, religiöse oder säkulare Angelegenheit, sondern um Korruption und Versagen unserer Politiker.
Die Menschen waren wütend darüber, dass sich ihre Regierung ganz eindeutig einen Dreck um ihre Bürger scherte! Dabei war der Müll nicht der einzige Reizpunkt, sondern stand nur ganz oben auf der Liste – er war die Spitze des Eisbergs.
KAPITEL 3: Der Damm bricht
Im Libanon zerfällt eine Bewegung für gewöhnlich in dem Moment, wenn die Polizei mit Gewalt in einen Protest eingreift oder die Regierung lange genug wegschaut. Nicht dieses Mal. Als die Polizei Demonstranten mit Wasserwerfern und Gummigeschossen angriff und Unzählige verhaftete, kamen nur noch mehr Menschen und die Massen wuchsen. Als die Polizei Tränengasgranaten warf, hoben Demonstranten sie auf und warfen sie zurück. Am nächsten Tag kamen die Menschen in noch größerer Zahl.
„Das Volk fordert den Fall des Regimes!“
Als ich Demonstrierende fragte, ob sie keine Angst davor hätten, verhaftet oder Opfer der Polizeigewalt zu werden, antworteten viele mit Bestimmtheit, dass es für sie ein Muss war, auf die Straße zu gehen: „Wer, wenn nicht wir?“, war für gewöhnlich die Antwort.
Lokale wie auch internationale Medien berichteten vom Geschehen und machten Beirut zum Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Familien, die sonst wenig gemein hatten, schlossen sich den jungen Protestlern an und im Chor wurde gerufen: „Das Volk – fordert – den Fall des Regimes!“
Hier demonstrierte eine Generation, die die Hoffnung noch nicht verloren hatte. Fünfzehn Jahre Krieg hatten ihre seelischen Spuren hinterlassen. Aber die Mehrheit der Demonstranten war gewillt, für ein besseres Leben zu kämpfen und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Unseren Eltern war es wichtiger, für Stabilität zu sorgen und einen weiteren Bürgerkrieg in jedem Fall zu verhindern. Doch diese junge Generation sah das anders.
Schließlich schlossen sich auch einige ältere Menschen auf den Straßen an, aber viele unterstützten den Protest lieber aus der Distanz. Diese Leute sprachen den vorbeiziehenden Demonstranten gut zu oder jubelten aus der Ferne. Wiederum andere beobachteten stumm, was da geschah. Ihre Gesichter verrieten nicht, was sie fühlten. Vielleicht waren sie nicht sicher, was sie von der Sache halten sollten.
Wie ein Schneeball, der beim Herunterrollen des Berges an Geschwindigkeit und Größe gewinnt, wuchsen die Proteste. Offiziellen Regierungserklärungen schlugen nur noch größerer Protest und noch lautere Rufe nach dem Rücktritt der Regierung entgegen.
Als Sohn einer Familie, die viele Jahre vom Krieg betroffen gewesen war, konnte ich verstehen, warum eine Eskalation besorgniserregend schien. Als Journalist jedoch hielt sich meine Begeisterung kaum in Grenzen.
KAPITEL 4: Eskalation
Die Polizei zeigte sich unbarmherzig. Polizisten feuerten Gummigeschosse aus großer Nähe auf Menschen und verletzten sie. Sie schlugen Fliehende nieder, griffen Journalisten an und jeden, der versuchte anderen in diesem Chaos zu helfen. Ein Geschoss traf Mohammad Kassir, einen Hochschulstudenten, am Hinterkopf und versetzte ihn in ein Koma. Er hatte nur wenige Wochen vor dem Abschluss seines Elektrotechnikstudiums gestanden. Auch wenn Kassir diesen Angriff überlebt hat, wird seine Leben nie wieder so sein, wie es einmal war.
Ich erinnere mich, dass dieser Vorfall meine Eltern und die Eltern von Freunden zutiefst beunruhigte. Sie mahnten mich und andere, die über die Proteste berichteten oder daran teilnahmen, nicht auch so zu enden wie er und lieber zuhause zu bleiben. Das Risiko sei es doch nicht wert.
Gefechte zwischen jungen Demonstranten und der Bereitschaftspolizei wurden zur Routine.
Wenn die Zusammenstöße mal wieder eskalierten, sah man Krankenwagen des Roten Kreuzes alle paar Minuten zum nächstgelegenen Krankenhaus rasen.
Proteste dauerten den ganzen Tag und die ganze Nacht an. Nachts eskalierten die Aufstände. Für die Demonstranten endete der Protest erst dann, wenn sie um ihr Leben fürchten mussten oder wenn Krankenwagen und Polizei sie wegschafften. Gefechte zwischen jungen Demonstranten und der Bereitschaftspolizei wurden zur Routine.
KAPITEL 5: Transformation
Das Stadtzentrum Beiruts war während des libanesischen Bürgerkriegs zerstört und danach seelenlos wiederaufgebaut worden. Banken, Bürogebäude und Luxuswohnungen übernahmen die Gegend. Hübsche Fassaden vor lehrstehenden Häusern: Wo blieben die Menschen?
Die Proteste erweckten das Stadtzentrum Beiruts jedoch wieder zum Leben. Für kurze Zeit war Downtown voller Menschen, alten und jungen. Sie redeten miteinander, lachten, machten Selfies mit ihren Freunden, sprayten Graffiti, ließen ihren Frustrationen freien Lauf und legten sich mit der Polizei an.
In jenem Sommer sprachen sie über Hoffnungen, Möglichkeiten und Perspektiven. Darüber, was Libanon sein könnte.
Als die Polizei eine Betonmauer errichtete, bedeckten Künstler sie innerhalb von Minuten mit regierungskritischen Bildern. Die Leute trafen sich auch weiterhin dort und diskutierten – die Mauer spendete ihnen Schatten.
Kurzzeitig wurde die Beiruter Innenstadt wieder zu dem, was sie vor dem Krieg gewesen war und was sie sein sollte: ein Ort, an dem Menschen aus Stadt und Land zusammenkommen konnten. Sie wurde zu einem öffentlichen Raum. Sogar Straßenverkäufer zog es wieder in die Gegend; sie verkauften kaltes Wasser an die Demonstranten. Es erwuchs eine Graswurzelbewegung, wie sie Libanon schon seit Jahren nicht erlebt hatte.
KAPITEL 6: Was ist übrig? Was kommt als nächstes?
Der Müll von den Straßen verschwunden. Die meisten Absperrungen sind beseitigt. Hier und da gibt es noch etwas Graffiti.
Noch immer hat Beirut keinen nachhaltigen Abfallbewirtschaftungsplan. Die Regierung hat einfach neue Müllhalden eröffnet – keine Umweltstudien, kein Plan. Sie tut einfach so, als sei alles ok.
Eins ist klar: Die Menschen mischen sich mittlerweile stärker in lokale Angelegenheiten ein, besonders wenn es um schwindende öffentliche Räume geht. In den letzten Gemeindewahlen kandidierten auch zwei Unabhängige – allerdings erfolglos.
Die Generation meiner Eltern ist müde, aber die junge Generation wütend.
Die Öffentlichkeit schaut nach vorn und geht mit politischen Themen jetzt etwas anders um als vorher. Die Generation meiner Eltern ist müde, doch die Wut der jungen Menschen hält an. Sie wissen, dass die politische Führung Libanons versagt hat. Diese Generation hat noch viele Jahre vor sich und lässt sich nicht besänftigen bei Problemen, die bislang von den Älteren stillschweigend akzeptiert wurden.
Warum können wir keinen Abfallplan entwickeln, wie andere Länder auch? Warum bekommen wir keine zuverlässige Versorgung mit Wasser und Elektrizität, wie andere Länder auch? Die Internetverbindung in Libanon ist so langsam, dass es in vielen ländlichen Gebieten sogar ein Problem sein wird, diesen Bericht aufzurufen. Sollen wir das einfach so hinnehmen?
Was also kommt nun? Ich weiß es nicht. Alles ist möglich. Sind die Protestführer von gestern die Politiker von morgen?
Eins weiß ich: Im Libanon wächst eine Generation heran, die es ablehnt, still zu sitzen. Das gibt mir Hoffnung.
Februar 2018