Nach dem Wirtschaftskollaps brach im Libanon auch das System der modernen medizinischen Versorgung zusammen. Viele Medikamente wurden knapp oder waren gar nicht mehr verfügbar. Aber die libanesische Bevölkerung versucht das Problem zu lösen… auf ihre ganz eigene Art und Weise.
Lange Zeit galt die Pharmazie im Libanon als ein attraktives Berufsfeld. Und tatsächlich: Eine Studie der Fachzeitschrift Human Resources for Health zeigt, dass das Land die weltweit höchste Pro-Kopf-Rate an Apotheker*innen hat. Auf 10,000 Einwohner*innen kommen im Durchschnitt 20 pharmazeutische Fachkräfte, während der globale Durchschnitt bei einem Viertel davon liegt, bei genau fünf Apotheker*innen auf 10,000 Einwohner*innen. Auch wenn diese Zahlen von vor vier Jahren stammen, weist nichts darauf hin, dass sich an diesem Bild viel verändert hat. In Ländern, in denen das Gesundheitssystem gut ist und die Verhältnisse zwischen Staat und Gesellschaft geordneter sind, ist der Durschnitt sogar noch geringer – bei elf Apotheker*innen in Frankreich, neun in Kanada und beinahe sechs in Deutschland pro 10,000 Einwohner*innen.Zwischen leeren Regalen und Preiserhöhungen
Die starke Präsenz des pharmazeutischen Sektors im Libanon kommt nicht von ungefähr: Lange Zeit war das Angebot von Medikamenten auf dem Markt riesig und wuchs sogar, um mit der immer größeren Nachfrage Schritt halten zu können. Doch dann standen die vom Medikamentenüberfluss verwöhnten Libanes*innen eines Tages in ihren Apotheken plötzlich vor leeren Regalen.In den großen wie auch kleineren Apotheken der libanesischen Hauptstadt Beirut und dessen Umland offenbart sich Kunden derselbe Anblick gähnender Leere. Auf diesen ersten Schock, der mittlerweile keiner mehr ist, folgt die Realisierung, dass viele Medikamente überhaupt nicht mehr lieferbar sind. Obendrein ist das, was noch da ist, für viele unbezahlbar, da alle Preise nach wie vor in US-Dollar sind. Die allermeisten Menschen im Libanon erhalten ihr Gehalt jedoch in der Landeswährung, in libanesischen Lira, und deren Wert sinkt Tag für Tag, Minute um Minute, auf spektakuläre Weise.
Angesichts dieser Realität, im Stich gelassen von einem Staat, der es trotz seines liberalen Wirtschaftssystems nicht geschafft hatte, der Macht von Kartellen und Monopolen im Pharmasektor Einhalt zu gebieten, schien für die libanesische Bevölkerung jeder Weg aus der Krise über die Solidarität zu führen. Lösungen entstanden auf die Initiative einzelner hin und weiteten sich auf die Allgemeinheit aus; soziale Medien wurden zu Plattformen des Medikamententauschs; und sehr häufig wurden Verwandte und Freunde im Ausland für die Besorgung von Arzneimitteln um Hilfe gebeten. Unter den neu entstehenden Initiativen waren Meds for Lebanon und Medonations. Keiner dieser Wege, an Medikamente zu gelangen, war jedoch leicht.
Wir trafen uns zu einem ausführlichen Gespräch über die Medikamentenkrise mit Manal Azhari Bashi, Personal- und Betriebsleiterin des Kinderkrebszentrums (Children’s Cancer Center) in Beirut. Sie bestätigt, dass die Schwierigkeiten bei der Medikamentenversorgung sehr viel größer waren als zunächst erwartet. Der Libanon sei „politisch und wirtschaftlich sehr instabil. Um an unsere Ziele zu kommen, sind viele Mühen und vielfältige, innovative Lösungen nötig“. Azhari Bashi zählt gleich eine ganze Reihe an Herausforderungen auf, die den Menschen das Leben schwer machten: die Wirtschaftskrise, die Inflation, der Medikamentenmangel, die Corona-Pandemie, die Folgen der Hafenexplosion in Beirut, der Verlust der Lebensgrundlage vieler Bürger*innen, in die Höhe schießende Krankenhausrechnungen und die häufige Notwendigkeit, Rechnungen mit sogenannten „fresh dollars“, also echten, vorwiegend baren US-Dollars, zu bezahlen, unter anderem Medikamente für unheilbare Krankheiten. All dies erschwere auch die Arbeit des Kinderkrebszentrums enorm, vor allem da man die jährlichen Kosten von etwa 15 Millionen Dollar kaum noch decken könne.
Spenden als eine mögliche Lösung
Bereits vor der Krise war das Zentrum für die Erfüllung seiner humanitären Mission vor allem auf Spenden – Direktspenden, Schenkungen, Sachspenden etc. – angewiesen, die es im Rahmen verschiedener Fundraising-Programme sammelte. Doch inmitten der zahlreichen Krisen konnten diese Programme nicht wie gewohnt stattfinden. So stellt in letzter Zeit die Anera-Stiftung den Großteil dieser Spenden bereit, um die „Behandlung von jährlich etwa 350 Kindern zu gewährleisten“. Daneben verschob sich der Fokus auf Internetkampagnen, Zuschüsse und Einsparungen – die Verwaltungskosten des Zentrums wurden um 30 Prozent gesenkt. Dem steigenden Bedarf von Medikamenten bei gleichzeitigem Lieferstopp vieler Produkte begegnete das Zentrum mit unermüdlichem Einsatz, diese aus dem Ausland zu beziehen. Das konnte manchmal erfordern, dass Mitarbeiter*innen ins Ausland reisen und noch am selben Tag mit Arzneimitteln zurückkehren mussten. Man hätte es sich nicht erlauben können „bei der Behandlung auch nur eines Kindes in Verzug zu geraten. Auch wenn wir dafür ‚fresh Dollar‘ brauchten – und darin besteht die größte Herausforderung“.Zu Beginn der Krise verbreitete sich das Gerücht, das Zentrum könne sich aufgrund des Medikamentenmangels und allseits steigender Kosten – von Benzin über Strom bis hin zu Nahrungsmitteln – nicht mehr um die medizinische Betreuung der Kinder kümmern und müsse schließen. Lauscht man den Worten Azhari Bashis, könnte man meinen, das Zentrum sei diesem Punkt in der Vergangenheit schon gefährlich nahegekommen. Auf die Frage nach Unterstützung vonseiten des Staates erzählt sie, dass ein Rettungsfonds das Zentrum im Jahr 2020 in der allergrößten Not erreicht habe. Es sei die Antwort auf den Hilferuf einer Einrichtung gewesen, die in der Bevölkerung großes Vertrauen genießt und über Jahre fast 3500 krebskranken Kindern die besten Behandlungsmöglichkeiten verschafft habe. „Dank des Zentrums und dank all der wohltätigen Spenden erhielten diese Kinder die Chance auf ein neues Lebens“, betont sie. Der Fonds sei ein Rettungsboot gewesen, aber eines, für das sich das Zentrum bei der libanesischen Gesellschaft und den Gemeinschaften in der Diaspora bedanken musste. Vom krisengeplagten Staat hingegen seien „in der gegenwärtigen Lage keine Hilfe und kein Rettungsplan zu erwarten“. Auch weiterhin werde das Zentrum in erster Linie um die Unterstützung durch die Bevölkerung und die libanesischen Auslandsgemeinden bemüht sein. Auch suche man verstärkt den Kontakt mit Menschen aus anderen Ländern, die sich für die humanitäre Mission des Zentrums interessieren. Bislang habe man schon Hilfe aus 46 Staaten erhalten.
Mit ebenso großem Engagement, aber weniger Möglichkeiten als das gut etablierte Kinderkrebszentrum arbeitet Marina el-Khawand mit Libanes*innen im Ausland, um Medikamente für die hiesige Bevölkerung zu beschaffen. Wir trafen die Medonations-Organisatorin in ihrem bescheidenen Büro, wo wir inmitten der vielen Reisetaschen kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnten. Die Taschen beherbergten Unmengen von Arzneimitteln, eingeschickt von libanesischen Expats, unter denen sich mittlerweile so etwas wie ein Solidaritätsnetzwerk für die von der Krise betroffenen inländischen Libanes*innen gebildet hat. Der junge Verein organisiert und überwacht die Verteilung der Medikamente und obwohl er auf diese Weise schon vielen Menschen geholfen hat, sieht el-Khawand selbst ihn als keine Alternative zur weit entscheidenderen Rolle des Staates bei der Beendigung der Krise. Lange Zeit war das Angebot an Medikamenten auf dem Markt riesig. Viele Medikamente sind jedoch heute nicht mehr erhältlich. | Goethe-Institut/Ruya, Zeinab Othman
Die Rolle der Pharmazeuten
Auch Apotheker*innen sind in der Krise aktiv geworden. In einer der großen Apotheken in der Nachbarschaft Tariq el-Jdideh treffen wir uns zum Gespräch mit Marwa al-Jamal, einem Vorstandsmitglied der libanesischen Apothekengewerkschaft. Ihre Organisation habe die Problematik des Medikamentenmangels in weiten Teilen erfasst und sich dann für passende Lösungen eingesetzt, berichtet sie. Während des Interviews kommt es in der Apotheke mehrmals zu Stromausfällen und immer wieder erscheinen Kunden, die sich über das Fehlen ihrer Medikamente wundern. Im Gegensatz zu vielen ihrer Mitmenschen glaubt Marwa nicht an individuell improvisierte Lösungen, sondern sieht die Antwort in der neuen digitalen „Medikamentenkarte“, mit der das libanesische Gesundheitsministerium die Versorgungskette von Medikamenten von der Fabrik bis zum Verbraucher nachverfolgen kann. Gleichzeitig ist sie überzeugt, dass auch die Gewerkschaft einen Beitrag im Namen der Solidarität leisten und bei der Durchsetzung von Langzeitlösungen, wie dem Übergang zu verstärkt inländischer Produktion von Medikamenten und der Verringerung von Importen, helfen kann.In einer Apotheke in Beirut wird ein Kunde von einer Apothekerin beraten. Viele Medikamente sind nicht mehr verfügbar. Die noch verfügbaren Medikamente sind für viele nicht erschwinglich, da alle Preise in US-Dollar sind. | Goethe-Institut/Ruya, Zeinab Othman Apothekengewerkschaftsführer Dr. Joe Salloum erklärt, dass schon seit zwei Jahren gefordert werde, Hilfen zu rationalisieren und in Teilen von Medikamentenmarken („Brands“), also ursprünglich importierten Produkten, loszulösen. Die letzte Forderung sei erst vor kurzem erfüllt worden und Apotheker*innen könnten noch immer nicht ihre Regale auffüllen. Außerdem seien die Patienten aufgrund der Inflation nicht in der Lage, die hohen Dollarpreise zu bezahlen. Auch Dr. Salloum sieht in der Medikamentenkarte die derzeit wichtigste Lösung, wichtiger noch als die Cash Card. Zur Deckung der Kosten des neuen Systems, erklärt er, sei eine „jährliche Finanzierung von bis zu 300 Millionen US-Dollar von der Weltbank erforderlich. Das Prinzip läuft so, dass jedem libanesischen Bürger ein bestimmter Geldbetrag auf die Karte eingezahlt wird, mit dem er seine Medikamente in der Apotheke kaufen kann. Über ein Tracking-System können wir diese Einkäufe nachverfolgen. So können wir die Entstehung von Monopolen, Bevorratung und Schmuggel verhindern und die Mengen von Medikamenten, die jedem Patienten zur Verfügung stehen, kontrollieren“. Aus technischer Sicht erscheint sein Vorschlag logisch, solidarisch und inklusiv, und doch ist er an Bedingungen geknüpft, die ein großer Teil der libanesischen Bevölkerung vermutlich ablehnen würde. Denn der die Weltbank und seine Politik liegen im Libanon gar nicht hoch im Kurs.
In einer Apotheke in Beirut wird ein Kunde von einer Apothekerin beraten. Viele Medikamente sind nicht mehr verfügbar. Die noch verfügbaren Medikamente sind für viele nicht erschwinglich, da alle Preise in US-Dollar sind. | Goethe-Institut/Ruya, Zeinab Othman Die Position des Gewerkschaftsleiters, der von der Problematik des Medikamentenmangels direkt betroffen ist, ist inmitten der anhaltenden Krise eindeutig: „Man kann sagen, dass diese Karte auf kurze Sicht, also auf ein bis zwei Jahre, die einzige Lösung ist“. Doch noch immer gibt es zum neuen Kartensystem viele unbeantwortete Fragen: Werden auch Nicht-Libanes*innen, darunter die etwa 1,5 Millionen syrischen Geflüchteten, die im Land leben, von ihm profitieren können? Welche Medikamente wird man über die Karte abrechnen lassen können, angesichts der angekündigten Kategorisierung nach Arten von Krankheiten? Auch Dr. Salloum erkennt die Grenzen des Projekts an. Es sei nur ein Plan, mit dem die Zeit bis „zum Ende der Dollarkrise und bis sich der Preis der Währung auf dem Markt normalisiert hat, überbrückt werden kann“. Mit diesen Aussichten wären viele pessimistische Libanes*innen, die derzeit ums Überleben kämpfen, sicherlich nicht zufrieden.
Schließlich kommt Dr. Salloum noch auf grundsätzlichere Lösungen für die derzeitige Krise zu sprechen. Er glaubt, dass „die Nutzung von Garantiefonds beibehalten werden sollte, damit der Bürger nicht die hohen Kosten für die Medikamente tragen muss“. Zur Monopolstellung bestimmter Firmen im Pharmasektor sagt er: „Wir haben eine freie Marktwirtschaft. Darin gibt es Firmen mit Exklusivrechten bzw. Monopole und es gibt lokalen Wettbewerb. Schafft man Subventionen vollständig ab, werden Medikamente wieder verfügbar und Unternehmen sind in der Lage, sie zu ihren Preisen zu verkaufen [in US-Dollar, nicht in der Landeswährung]. Dann wird es auch Konkurrenz geben.“
Dies bringt uns zum Anfang des Artikels zurück: Libanes*innen haben es mit einer weiteren Krise inmitten der Krise zu tun. Wie werden sie die hohen Kosten zahlen können, wenn Medikamente wieder verfügbar sind? Auf kurze Sicht und nach Meinung vieler Betroffener – Fachkräfte des Gesundheitssystems wie auch Patient*innen – scheint es, als bliebe ihnen derzeit keine andere Wahl, als einander zu unterstützen. Diese Solidarität ist der einzige Weg, solange kein verlässliches und sicheres Gesundheitssystem existiert, das einem modernen Staat gerecht wird.
April 2022