Im Sommer 2021 vernichteten Brände tausende Hektar Wald in der Kabylei. Auch viele Menschen verloren dabei ihr Leben. Der Sturm der Anteilnahme, Hilfsbereitschaft und Solidarität, der in Algerien wie auch der algerischen Diaspora diesen Ereignissen folgte, war überwältigend.
Den Horror jenes Sommers, als Waldbrände in den meisten Ländern des Mittelmeerraums tobten, wird man in der Region so schnell nicht vergessen. Von der Nord- bis zur Südküste – die gleichen erschreckenden Bilder von Feuersbrünsten, zerstörten Wäldern, niedergebrannten Häusern und verendeten Tieren.2021 verzeichnete das Joint Research Center (JRC) der Europäischen Kommission auf einer Karte die in 39 Ländern lodernden Waldbrände, die etwa 1 113 464 Hektar Land verwüsteten.
An der Südküste des Mittelmeers gehörte Algerien zu den am schlimmsten betroffenen Ländern. Hier wurden etwa 134 237 Hektar Wald zerstört. Am 12. August zählten die Behörden 90 Brände in der Kabylei, davon ein Drittel allein in der Provinz Tizi Ouzou. Das Feuer hatte sich ab dem 9. August rasend schnell ausgebreitet und dauerte zehn Tage an.
Die Brände vernichteten nicht nur tausende Hektar Wald. Sie zerstörten oder beschädigten auch viele Häuser und kosteten Menschenleben. Am 14. August zählte man bereits mehr als 90 Todesopfer, wobei die wirkliche Zahl viel höher liegen könnte. Angaben von offizieller Seite gibt es nicht.
Überwältigende Hilfsbereitschaft
In den sozialen Medien zirkulierten die schockierenden Bilder und Videos von den Waldbränden in der Kabylei und man diskutierte die Ursachen der Katastrophe – die Regierung sprach von kriminellen Straftaten, während Experten wie Zineb Mechieche vor dem Klimawandel warnten. Auch die Solidaritätskampagne für die Kabylei fand hier ihren Anfang.Hunderte mit Kleidung, Nahrungsmitteln, Medikamenten und Elektronikgeräten (Generatoren, Kettensägen, etc.) beladene LKWs erreichten die Kabylei aus allen Teilen des Landes. Die Spendenlieferungen waren so enorm, dass sie die Bedürfnisse einiger betroffener Orte überstiegen und innerhalb der Region umverteilt werden mussten.
In der Diaspora starteten algerische Auswanderer Geldsammlungen über das Internet, um den Katastrophengebieten zu helfen. Besonders groß war das Engagement in Frankreich und Kanada, also den Ländern mit den größten algerischen Gemeinden außerhalb des Landes.
Es entstanden eine ganze Reihe von Initiativen, allen voran Workshops zur psychischen Gesundheit, die für Kinder aus stark betroffenen Dörfern organisiert wurden.
H. L., Präsident des Kollektivs Ixulaf n Teftilt N At Σissi in Tizi Ouzou, erkennt in den Bränden vom Sommer 2021 nicht nur Tod und Verwüstung, sondern auch “einen Hoffnungsschimmer für die Menschen, ihre multikulturelle Identität zurückzugewinnen. Ein Jahr nach dem COVID-Lockdown war in und zwischen den Dörfern wieder jene Solidarität unter den Amazigh zu erkennen, die für unsere Vorfahren so wichtig war. Unter den ohnehin schon schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen sah man Frauen und Männer, die aufopferungsvoll ihr persönliches Hab und Gut verschenkten“.
Die Schwere der Katastrophe hätte „die Dorfbevölkerung dazu gebracht, sich wieder an den ursprünglichen Strukturen der Dorforganisation zu orientieren, als sie versuchten, sich an die gegenwärtige Situation anzupassen“.
Jahrhundertelang hatten sich die kabylischen Dörfer ihre eigenen organisatorischen Strukturen bewahrt, die auf gegenseitiger Unterstützung und Solidarität in Krisenzeiten fußten. Oft sind es die Dorfkomitees, die sich miteinander beraten und gemeinsam handeln, wenn zum Beispiel Evakuierungen oder Nothilfe gefordert sind. Dieser Mechanismus ist besonders wichtig für sehr entlegene Dörfer, die von staatlichen Leistungen in Form von Feuerwehr oder Krankenversorgung nur schwer erreicht werden.
Ein Kleintransporter, der Spenden geladen hat, Ait Aissi, Tizi Ouzou | ©Privat Aomar Ait Slimani, Mitglied des Dorfkomitees in Ait Ouabane, äußert sich auch kritisch über die Kampagne zur Unterstützung der Waldbrandopfer. Die „schnelle und hastige“ Umsetzung der Kampagne habe zu einer enormen Verschwendung von Nahrungsmitteln, Medikamenten, Kleidung und anderen Spenden geführt, „da diese nicht den wirklichen Bedürfnissen der Opfer entsprochen haben. Mehrere Dörfer, die von den Bränden nicht betroffen waren und es gar nicht nötig hatten, haben von der Großzügigkeit der Spender profitiert“.
„Es war fast unmöglich, eine Krise dieser Größenordnung zu koordinieren und zu managen“, fährt Aomar fort. Nur eine Handvoll junger Menschen hätte versucht, Kontaktlisten zu erstellen und die tatsächlichen Bedürfnisse vor Ort zu dokumentieren.
Wie geht es jetzt weiter?
Heute, ein Jahr nach den tragischen Ereignissen, lautet eine Frage, ob genug getan wurde, um diesen Geist der Solidarität aufrechtzuerhalten und darauf für die Zukunft zu bauen. Wie sieht es zum Beispiel mit der Wiederaufforstung der Region aus?Boualem Tabouche, Präsident der Association nationale jeunesse volontaire citoyenne (Assoziation junger freiwilliger Bürger), bekräftigt, dass „der Gemeindeverband sowie die Waldschutzämter und Direktorate der großen Nationalparks in der Kabylei – Djurdjura and Gouraya – sehr aktiv“ seien. „Der Wille, das Ökosystem der Region wiederzubeleben, ist groß. Allerdings hat jede Region ihre Besonderheiten bei den Obstbäumen. Der Olivenbaum kann zum Beispiel nicht über einer bestimmten Höhenlage wachsen. Außerdem haben nicht alle Obstbäume dieselbe Pflanzzeit“.
Forstwirtschaftsexperten betonen immer wieder, dass es bei einem Wiederaufforstungsprogramm auf die Verwendung der richtigen Pflanzenarten ankomme, um „genetische Verschmutzung“ zu verhindern. Außerdem diskutiert man, ob die verbrannten Wälder wirklich wiederaufgeforstet werden sollten oder sich selbst auf ganz natürliche Weise regenerieren können.
Freiwillige transportieren Baumsetzlinge zur Wiederaufforstung, gesammelt von der National Youth Volunteer Citizen Association, Akbil, Tizi Ouzou | ©Privat „Die beste Pflanzzeit von Bäumen wie Kiefern, Zedern usw., ist Oktober bis Dezember. Das gibt den Pflanzen genug Zeit, um sich an das harsche Winterwetter anzupassen, sodass sie das ganze Jahr über wachsen können“, erklärt Bergführer und Umweltaktivist Lounès Meziani. „Mit Obstbäumen können wir bis Januar warten, bei einigen Spezies sogar bis Mitte Februar. Bei der Wiederaufforstung der verbrannten Gebiete in der Kabylei sprechen wir vor allem von Eichen, Eschen und Ulmen und die wachsen ganz natürlich nach. Oliven- und Feigenbäume hingegen brauchen einen kleinen Schubs vom Menschen“.
Lounès verweist auf die Wiederbewaldungskampagnen, die bereits stattgefunden haben, beklagt jedoch, dass „tausende bereits im Januar und Februar gepflanzte Bäume aufgegeben wurden und aufgrund der Dürre verdurstet sind. Ich muss sagen, dass Freiwillige oft nicht zu den Pflanzen zurückkehren, um sie zu bewässern. Aber auch viele der Pflanzen, die überleben, werden von Nutztieren gefressen, vor allem von Kühen, Schafen und Ziegen. Deshalb empfehlen wir immer, an gesicherten Orten zu pflanzen“.
Bei der Wiederaufforstung der kabylischen Wälder, die den Bränden zum Opfer gefallen sind, spricht Forstingenieur Amar Naït Messaoud von der allgemeinen Notwendigkeit einer „Beobachtungszeit von zwei bis drei Jahren. In Waldökosystemen, besonders in der subhumiden Zone [wie dem Großteil der Kabylei], ist das Regenerationspotenzial sehr hoch. In der Zwischenzeit lohnt es sich, waldbauliche Maßnahmen durchzuführen, wie die Fällung und Entnahme verbrannten Holzes. Man kann die Gelegenheit auch nutzen, um die besagten Waldbestände durch ein Netz von Pflegewegen zugänglicher zu machen“.
Baumsetzlinge zur Wiederaufforstung, gesammelt von der National Youth Voluntary Citizen Association, auf dem Schild steht "der Schlüssel zur Hoffnung", Akbil, Tizi Ouzou | ©Privat „In dem Fall, dass diese Regeneration [nach drei Jahren] nicht eintritt, entscheidet man sich zur Aufforstung“, fügt Amar hinzu. Für die Vermeidung einer genetischen Verschmutzung sieht er eine einfache Lösung: lokale Baumschulen mit zertifizierten Pflanzen zu verwenden.
Schließlich weist er noch darauf hin, dass der Großteil dessen, was in der Kabylei abgebrannt ist, kein Wald im engen Sinne des Wortes gewesen sei, sondern Macchie. Dabei handele es sich um eine Buschform, „die sich selbst regenerieren kann. Idealerweise sollte man diese in Wald umwandeln“.
Die Dimension der Zerstörung und des Leids nach den Waldbränden stellt die Kabylei weiterhin vor riesige Herausforderungen. Hunderte Familien haben ihre Häuser und Lebengrundlage verloren und betrauern den Tod ihrer Liebsten. Ihre Situation ist prekär und die Zukunft ungewiss.
Neben der Wiederherstellung des Ökosystems braucht die Kabylei vor allem Unterstützung auf verschiedenen Ebenen, darunter Maßnahmen in den Bereichen Wirtschaft, Umweltschutz und psychische Gesundheit. Nur ein umfassendes Hilfsprogramm kann den Menschen der Region dabei helfen, die aktuelle Krise zu überstehen, einen Neuanfang zu wagen und mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken.
Juli 2022