Die Kunst des Geschichtenerzählens hat im arabischen Raum eine lange Tradition. Märchen und historische Begebenheiten wurden über viele Generationen hinweg mündlich überliefert.
Dabei spielte schon immer die Märchenerzählerin eine Schlüsselrolle. Sie kannte unzählige Geschichten in- und auswendig. Und sie verstand es, diese Geschichten auf spannende und unterhaltsame Weise weiterzugeben.Diese Tradition hat nun die Autorin Lubna Isam aufgegriffen. Im Rahmen eines Projekts, dessen Motto sich schlicht mit „Geschichten aus dem Sudan“ wiedergeben lässt, möchte die Schriftstellerin die altehrwürdige Erzählkunst auf Themen des modernen Alltags anwenden. Das Resultat ist eine Sammlung mit Erzählungen – auch hier gibt der Titel Aufschluss über den Inhalt: Geschichten aus dem Sudan. Zwei Bände sind in den letzten beiden Jahren bereits erschienen. Weitere Bände sind in Vorbereitung.
In Lubna Isams Geschichten geht es um Erziehungsfragen, um das Leben mit Down-Syndrom, um spezielle Probleme, mit denen Frauen und Jugendliche im Sudan zu kämpfen haben und um andere aktuelle Themen. Den einzelnen Episoden, die oft autobiografische Züge haben, ist anzumerken, dass die Autorin schon in verschiedensten Kulturkreisen gelebt hat. Tatsächlich ist Lubna Isam als Tochter sudanesischer Einwanderer in Großbritannien geboren, später kehrte sie in den Sudan zurück. Momentan lebt sie in Katar.
Eslam Anwar hat mit Lubna Isam über ihre Leidenschaft für das Geschichtenerzählen und die Wiederbelebung der Märchenerzählerin gesprochen.
Schreiben und Geschichtenerzählen sind Techniken, die unterschiedliche Methoden und Fähigkeiten erfordern. Wie haben Sie beides unter einen Hut gebracht?
Bei uns auf dem Schwarzen Kontinent halten die Leute ganz eng zusammen. Jeder weiß, was in seiner Familie und in den anderen Familien los ist. Sagen wir mal so: Das sind natürlich ideale Bedingungen für das Erzählen, in mündlicher Form allerdings. Ich habe mich letztlich schriftstellerischer Techniken bedient, um mündliche Erzählungen schriftlich festzuhalten.
Wir erleben ja momentan eine rasante technologische Entwicklung. Will da überhaupt noch jemand einem Geschichtenerzähler zuhören?
Es gibt immer noch viele Leute, die gerne einem Geschichtenerzähler zuhören. Wenn er loslegt, dann rückt man näher heran und spitzt die Ohren. Insgeheim sehnen wir uns doch alle nach der guten alten Märchenerzählerin, die sich abends niederlässt, um uns auf ihre unnachahmliche Art ihre Geschichten zu kredenzen.
Gab es Schwierigkeiten bei der Arbeit an der Sammlung mit Geschichten aus dem Sudan? Und wenn ja: Wie sind Sie damit umgegangen?
Die größte Herausforderung bestand darin, dass unklar war, wie Geschichten auf Sudanesisch in gedruckter Form rüberkommen. Die Geschichten sollten nicht mit wahren Begebenheiten durcheinandergebracht werden, die irgendwo anders tatsächlich stattgefunden haben. Ich hoffe, es ist mir gelungen, das Hocharabische so einzusetzen, dass die speziellen lautlichen Aspekte des sudanesischen Dialekts optimal vermittelt werden konnten.
Sie haben Journalismus und BWL studiert. Inwiefern konnten Sie bei der schriftstellerischen Tätigkeit für die Bände mit Geschichten aus dem Sudan von Ihrer Ausbildung und von Ihrer Arbeit als Journalistin profitieren? Und dann ist da ja auch noch Ihre Lehrtätigkeit und Ihr soziales Engagement. Hängt das auch mit Ihrem Faible für das Geschichtenerzählen zusammen?
Der Journalismus nimmt einem die Angst, unbequeme Themen anzusprechen. Das ist ein eingeschworenes Team: Lubna, die Hochschullehrerin mit BWL-Studium und Lubna, die als Märchenerzählerin mithilfe der arabischen Sprache ihre Lebenserfahrung zeitgemäß, lehrreich und lebendig weitergeben kann.
Sie wurden in Glasgow geboren, verbrachten einige Zeit im Sudan und leben jetzt in Katar. Inwiefern merkt man Ihnen das Reisen und das Umherziehen von einem Ort zum anderen an? Wie sehen Sie die Beziehung zwischen dem Ich und dem anderen? Und die Beziehung zwischen Ost und West?
Wen man ständig unterwegs ist, spürt man vor allem ein unstillbares Heimweh nach seinem Ursprungsland. Man versucht, Traditionen und bestimmte Kleinigkeiten zu bewahren, die an die Heimat erinnern. Und man strebt ununterbrochen danach, ein würdiger Vertreter dieser Heimat zu sein. Wenn jemand auf mich zeigt und sagt: Das ist eine Sudanesin, eine Afrikanerin, dann spüre ich mich trotzdem rein seelisch nicht mit einem bestimmten Land verbunden. Ich liebe die Völker und ihre jeweilige Kultur. Aber ich habe immer das Gefühl, auf dem Sprung zu sein. Vielleicht bin ich dadurch resoluter geworden und besser in der Lage, mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Vielleicht aber auch sanfter und melancholischer.
Ich habe immer sehr gern in einem Städtchen namens Stoke-on-Trent gelebt. Das war und ist so etwas wie mein Zuhause. Deshalb kann ich auch nichts über die Beziehung zwischen Ost und West berichten. Ich glaube, es sind die Leute, die die Länder ausmachen. So gesehen erinnert mich das Städtchen Stoke-on-Trent, das ich liebe, an einen Stadtteil von Khartum namens Nasir Extension, den ich ebenfalls liebe, und umgekehrt.
Wir leben im Zeitalter der Globalisierung, man kann sich einer globalen Einheitskultur nicht mehr entziehen. Was meinen Sie: Stellt das eine Bedrohung für die jeweils lokale Kultur dar? Oder lassen sich Globalisierung und lokale Kultur gut vereinbaren?
Ich meine, wir können die Globalisierung nutzen, um anderen unsere lokale Kultur zu vermitteln und umgekehrt. Die Welt ist ein kleines Dorf geworden.
Juni 2018