Was gilt als musikalisches Erbe? Wie kann es hörbar gemacht werden? Das Ausstellungsprojekt „Mirath:Music“ lädt Musikschaffende aus Westasien, Nordost- und Nordafrika ein, die Traditionen ihrer Region zu erkunden. Die libanesische Autorin Rayya Badran wirft einen genaueren Blick auf die Musikgeschichte der Region sowie auf die produzierten Musikstücke, die von vergangenen Kämpfen zeugen.
Musikalisches Erbe, oder Erbe überhaupt, ist kein einfach zu navigierendes Terrain und stellt entscheidende und womöglich unbequeme Fragen in Bezug auf kulturelle Aneignung, territoriale oder geografische Politik und vieles andere. Für das Ausstellungsprojekt Mirath:Music – Mirath ist das arabische Wort für Erbe, Vermächtnis – sind verschiedene Musikschaffende aus Westasien (der Begriff Naher Osten wird absichtlich nicht verwendet, da es sich dabei um einen Begriff handelt, mit dem die Kolonialmächte die Region beschrieben), Nordost- und Nordafrika eingeladen, in die reichhaltige, aber fragmentierte musikalische Geschichte der Region einzutauchen und individuelle Beiträge zu produzieren, die ihre persönliche Beschäftigung mit den Klängen, Gesangstraditionen und Instrumenten artikulieren, für die sie eine persönliche oder musikalische Affinität hegen. Fragen rund um das Thema, was als musikalisches Erbe gilt, sind das eigentliche Gelände dieser Ausstellung, die die Reflexionen und musikalischen Austausche der Musikschaffenden während des Produktionszeitraums hörbar macht.Da Westasien, Nordost- und Nordafrika Regionen sind, die Jahrzehnte unter Kolonialismus, Kriegen und anhaltenden Wirtschaftskrisen gelitten haben, die wiederum zur Auswanderung oder Flucht von Millionen von Menschen führten, lässt sich unmöglich behaupten, dass musikalische Traditionen unveränderlich oder monolithisch seien oder dass wir jede einzelne zu jedem Zeitpunkt zuversichtlich kartieren könnten. Musikalische Traditionen, die aus diesen Regionen stammen, sind vielseitig und mobil, beschwören jedoch auch klangliche und gesangliche Ausdrucksformen vergangener Kämpfe und Gemeinschaftsformen herauf.
Die Vernachlässigung von musikalischem Erbe
In den vergangenen Jahren haben die Regionen Westasiens, Nordost- und Nordafrikas vonseiten einheimischer und diasporischer Musikschaffender und Komponist*innen, aber auch von westlichen Musiker*innen zunehmendes Interesse daran erlebt, vergessene musikalische Praktiken oder Musiker*innen wiederzuentdecken. Da westliche Plattenlabels (oder Institutionen) jedoch in der Regel mehr Mittel haben, um ihre musikalischen Erkenntnisse zu publizieren oder auf musikalisches Erbe fokussierte Projekte zu initiieren, wie schwierig diese auch aufzufinden und zu beschaffen sein mögen, sehen wir mit Ausnahme einiger weniger Projekte, die von Einheimischen oder Ortsansässigen initiiert werden, weniger solche Bemühungen aus der Region selbst erwachsen. Dieses derzeitige Paradigma liegt nicht unbedingt an einem Mangel an Neugier oder Verbundenheit mit der immensen Geschichte musikalischer Praktiken, sondern an fehlenden Mitteln und ist eine direkte Konsequenz der institutionellen Vernachlässigung von Kunst und Musik in den meisten Ländern der Region.Ähnlich wie bei anderen Kulturpraktiken in Westasien, Nord- und Nordostafrika ist die materielle Geschichte der Musik in den Ursprungsregionen aufgrund von Vernachlässigung und/oder Zerstörung durch Jahrzehnte von politischen Konflikten und Migrationswellen häufig unvollständig. Schriftliche und klangliche Aufzeichnungen sind daher rar und über öffentliche oder private Institutionen im Westen und noch spärlicher in der Ursprungsregion der Musik verteilt, was für Komponist*innen, Musikschaffende und Forscher*innen hinsichtlich des Zugangs zu einem Teil dieser Geschichte eine zusätzliche Herausforderung darstellt. Was Musik jedoch von anderen künstlerischen Praktiken unterscheidet, sind ihr klanglicher Charakter und die Tatsache, dass sie keine materielle Unterstützung oder Partitur benötigt, um überliefert, gesungen oder gespielt zu werden, weshalb sie Bestand hat, Grenzen überschreitet und nach wie vor ein wesentliches Instrument des Widerstands für Millionen von Menschen darstellt, nicht nur im Rahmen der Wissenschaft oder des musikalischen Könnens. Selbstverständlich gibt es Forschung und Archive, aber diese sind der breiten Allgemeinheit nicht zugänglich und der Zutritt zu ihnen erfordert häufig Reisen und Genehmigungen.
Welche Arten von musikalischem Wissen gibt es?
Für die Ausstellung Mirath:Music wurden Komponist*innen, Musikschaffende und Klangkünstler*innen – darunter Amel Zen aus Algerien, Ghassan Sahhab aus dem Libanon, Hajar Zahawy aus Kurdistan-Irak, Mohamed Adam aus dem Sudan und Zaid Hilal aus Palästina – eingeladen, mit Tonmaterial zu musikalischem Erbe zu arbeiten. Im Rahmen ihrer Arbeit begegneten ihnen Fragen wie: Ist ein Archiv ein realitätsgetreues Abbild einer bestimmten Zeit? Wenn das Archiv ein institutionell geformter Wissenscontainer ist, inwieweit reflektiert es dann die Vielfalt und die sich ständig wandelnde Natur der Kultur an der Basis? Welche Arten von musikalischem Wissen gibt es über das institutionelle Archiv hinaus und wie anders beteiligt man diese? Wenn institutionelle Archive als offizielle Wissensspeicher dienen, die staatliche Narrative über das historische Schicksal von Nationen und Ethnien entwerfen, wie beginnen wir zu kartieren und zu verstehen, was jenseits von ihnen liegt? Was im Gedächtnis von Sänger*innen und Musiker*innen bewahrt wird, überdauert, möglicherweise außerhalb der Mauern von Institutionen und Archiven sogar besser, weil sie überliefern, was Archivdaten nicht vermitteln können. Sie kommunizieren mittels Musikalität und Gesang ein Zugehörigkeitsgefühl, sie übertragen eine Liebe zum Land, das selbst bereits ein Wissens- und Weisheitscontainer ist. Wie weit man sich auch vom Land und seinen Leuten entfernen mag: Die Inbrunst eines Liedes, der Nachhall eines Klangs und der stoffliche Charakter eines Instruments bergen eine Auralität, die über das Fassbare hinausgeht. Vielleicht ruft das, was außerhalb dieser materiellen Archive gelernt wird, Geschichten, Schmerzen und Sehnsüchte wach, die in Studio- oder Feldaufnahmen niemals hörbar sein können.Einer der grundlegenden Zwecke nationaler Archive ist das Verfügbarmachen von Aspekten der Geschichte einer Nation, von Ethnien und Kulturen. Aber ist ein Archiv überhaupt jemals vollständig? Tragen Musikaufnahmen, die sich in europäischen Institutionen oder tatsächlich auch in ihren Ursprungsregionen befinden, nicht die Färbung kolonialer ethnografischer Aufnahmen? Einige der Musikschaffenden und Komponist*innen in der Ausstellung Mirath:Music stützen sich auf Klangmaterialien aus institutionellen Archiven (der AMAR Foundation aus dem Libanon, CMAM aus Tunesien, dem Phonogrammarchiv aus Deutschland), während andere beschlossen haben Feldaufnahmen in ihre selbst produzierten akustischen Werke aufzunehmen. Dabei gaben die Musikschaffenden dem Dialog mit Komponist*innen oder musikalischen Traditionen der Vergangenheit den Vorzug, blickten aber auch nach Innen auf ihre eigenen Geschichten und Vergangenheiten. Diese Entscheidungen verkomplizieren die oben erwähnten Fragen dazu, was in nicht-traditionellen Wissensspeichern bekannt oder noch nicht bekannt ist, weiter.
Auf vielerlei Art offenbaren die Kompositionen in der Ausstellung Mirath:Music die Spannung zwischen dem, was mündlich überliefert wird – in Klängen, die durch das kollektive Gedächtnis reisen, und als Formen von Widerstand –, und dem, was sich im engen Rahmen von Klang- und Musikarchiven findet. Vielleicht ebnet das, was ausgesprochen und gesungen wird, den Weg für ein Infragestellen der großen historischen Erzählungen, die die Archive von den vermeintlich monolithischen und monolingualen Ländern der Region zeichnen.
Musik- und Gesangstraditionen, die der Zeit widerstehen
Damit, und trotz eines aktuellen Mangels an konzertierten Bemühungen, die Spannbreite des musikalischen Erbes außerhalb von Privatinitiativen oder traditionellen öffentlichen Institutionen zu dokumentieren und zu sammeln, überliefert eine Generation nach der anderen zahlreiche musikalische Traditionen und beliebte gesungene Volkssagen – von denen manche, wie zum Beispiel Daynane aus den Amazigh-Regionen Algeriens, in der Ausstellung gezeigt werden – und eignet sie sich an, sodass diese in der gesamten Region bei Jung und Alt im kollektiven Gedächtnis verschiedener Bevölkerungsgruppen präsent bleiben. Augenfällig wird dies in der Wiedergabe von Sasa (Hajouri) durch den sudanesischen Musiker und Forscher Mohamed Adam, die dieser als „eine in Darfur beliebte und seit dem Altertum bekannte gesungene Form“ beschreibt und die zeigt, wie Musik- und Gesangstraditionen den Widrigkeiten der Zeit widerstehen und sich von Generation zu Generation weiterentwickeln. Während Aufnahmen und Partituren vergänglich sind, halten mündliche Überlieferungen eine Form des musikalischen Zusammenkommens am Leben, die für das kulturelle Überleben ihrer Bevölkerungen entscheidend ist. Der Text dieses beliebten Hajouri-Liedes wird „aus dem Gedächtnis der Menschen“ gelernt.Diese Art der Überlieferung mag vielleicht nicht spezifisch für den Sudan sein, durchaus spezifisch ist aber womöglich, wie sie zu einer Form von politischem und kulturellem Widerstand wird und in welchem Maße es ihr gelingt, einem auf der Zunge zu bleiben, wenn die Gegenwart verlangt, dass sie gesungen und gespielt wird. Wenn Lieder reisen, schwinden sie nur selten aus dem Gedächtnis; sie sind in der Erinnerung derjenigen verhaftet, von denen sie gesungen wurden und werden. So etwa bei Hayyed des palästinensischen Musikers Zaid Hilal, einem klagenden Liebeslied, das auf den Arabischen Aufstand von 1936 zurückgeht und das Hilal überarbeitete, um seine eigene Stimme einzubringen, als wolle er die Gemeinschaft mit den Vorfahren seines Landes suchen, die mit denselben Unterdrückern konfrontiert waren wie er heute.
Was ich markant finde, ist der Versuch dieser Ausstellung, durch das Prisma der persönlichen Geschichte der Musikschaffenden Gespräche über die Spannbreite von musikalischem Erbe – eine, die die vermeintliche Geschlossenheit von Nationalstaaten und den Kulturen durchbricht, die diese sich anzueignen oder zu verstecken versuchen – zu initiieren, was im Kern der Frage steht, wie diese Traditionen manifestiert und gewürdigt werden. Statt die Klänge, die sie einbeziehen möchten, in eine Originalkomposition einzufügen, haben sich die Komponierenden selbst in die Originale eingebracht, als versuchten sie, diese undurchsichtige musikalische Vergangenheit zu durchdringen, wie freudig oder schmerzhaft sie auch sein mag. Was der Zukunft vorbehalten bleibt und vermutlich zu zukünftigem Erbe werden wird, ist das, was genau jetzt in den Rissen in der Technologie zirkuliert, aus den Mündern junger Menschen in Revolte oder Ekstase.
Mai 2022